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Die Geschichte der Bienen - Roman

Maja Lunde

 

Verlag btb, 2017

ISBN 9783641184964 , 528 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

tao

Bezirk 242, Shirong, Sichuan, 2098

Wie verwachsene Vögel balancierten wir auf unseren Ästen, das Plastikgefäß in der einen Hand, den Federpinsel in der anderen.

Langsam, so vorsichtig ich konnte, kletterte ich aufwärts. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen im Arbeitsbezirk eignete ich mich nicht für diese Aufgabe, ich war nicht zierlich genug, meine Bewegungen waren oft zu fahrig, mir fehlte die nötige Feinmotorik. Ich war nicht geschaffen dafür, und trotzdem musste ich jeden Tag hier sein, zwölf Stunden am Stück.

Die Bäume waren ein Menschenleben alt, ihre Äste zerbrechlich wie dünnes Glas, sie knackten unter unserem Gewicht. Vorsichtig drehte ich mich, um meinem Baum keinen Schaden zuzufügen. Ich stellte mein rechtes Bein auf einen noch höhergelegenen Ast und zog das linke behutsam nach, bis ich endlich eine sichere Arbeitsposition gefunden hatte, unbequem, aber stabil. Von hier aus erreichte ich auch die obersten Blüten.

Das kleine Plastikgefäß war gefüllt mit dem luftigen, leichten Gold der Pollen, das zu Beginn des Tages exakt abgewogen und an uns verteilt wurde, jede Arbeiterin erhielt genau die gleiche Menge. Nahezu schwerelos versuchte ich, unsichtbar kleine Mengen zu entnehmen und in den Bäumen zu verteilen. Jede einzelne Blüte sollte mit dem kleinen Pinsel bestäubt werden, der aus eigens zu diesem Zweck erforschten Hühnerfedern hergestellt worden war. Keine künstliche Faser hatte sich als so effektiv erwiesen. Das hatte man wieder und wieder getestet, in meinem Bezirk hatte man dafür genügend Zeit gehabt. Hier war diese Tradition nämlich schon über hundert Jahre alt, die Bienen waren bereits in den 1980er Jahren verschwunden, lange vor dem Kollaps. Die Pflanzenschutzmittel waren schuld gewesen, und wenige Jahre später, als die Pestizide nicht mehr verwendet wurden, kehrten die Bienen zurück, doch zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits mit der Handbestäubung begonnen. So erzielte man bessere Ergebnisse, auch wenn für diese Arbeit unglaublich viele Menschen benötigt wurden, viele, viele Hände. Doch dann, als der Kollaps schließlich kam, hatte mein Bezirk einen Wettbewerbsvorteil. Es hatte sich gewissermaßen ausgezahlt, dass wir unsere Natur so sehr verunreinigt hatten. Weil wir Vorreiter in Sachen Umweltverschmutzung gewesen waren, wurden wir später zu Vorreitern der Handbestäubung. Ein Paradox hatte uns gerettet.

Obwohl ich mich so weit wie möglich streckte, blieb die Blüte ganz oben außerhalb meiner Reichweite. Ich war kurz davor, aufzugeben, doch ich wusste, dass mir dann Strafe drohte, also versuchte ich es noch einmal. Uns wurde der Lohn gekürzt, wenn wir die Pollen zu schnell oder zu langsam aufbrauchten. Das wahre Ergebnis unserer Arbeit blieb zunächst unsichtbar. Wenn wir am Ende des Tages von den Bäumen herabkletterten, war unser Einsatz nur durch rote Kreidekreuze auf den Stämmen erkennbar, im Idealfall bis zu vierzig am Tag. Erst wenn es Herbst wurde und die Äste schwer waren vom Obst, zeigte sich, wo gute Arbeit geleistet worden war. Doch da hatten wir meistens schon vergessen, wer welche Bäume bestäubt hatte.

Heute war ich auf Feld 748 eingesetzt. Wie viele es insgesamt waren, wusste ich nicht, aber meine Gruppe war eine von hunderten. In unseren beigefarbenen Arbeitsanzügen glichen wir einander wie die Bäume und hingen bei der Arbeit so dicht beieinander wie deren Blüten. Niemals allein, immer zu einer Traube gedrängt, ob hier oben in den Bäumen oder unten entlang des Pfades, wenn wir von einem Feld zum nächsten zogen. Nur in unseren kleinen Wohnungen hatten wir einige wenige Stunden am Tag für uns. Das übrige Leben fand hier draußen statt.

Es war still. Während der Arbeit durften wir nicht miteinander reden. Nur unsere vorsichtigen Bewegungen in den Bäumen waren zu hören und hin und wieder ein leises Räuspern oder Gähnen oder das Reiben der Arbeitskleidung an den Stämmen. Manchmal gab es auch einen Laut, den wir hassen gelernt hatten – ein Ast, der knackte und schlimmstenfalls sogar brach. Davon abgesehen machte nur der Wind Geräusche, wenn er durch die Zweige fuhr und über die Blüten strich oder durch das Gras auf dem Boden raschelte.

Er wehte von Süden her, aus Richtung des Waldes. Im Gegensatz zu den weißblühenden Obstbäumen, die noch kein Laub trugen, wirkte der Wald dunkel und ungezähmt, und schon in wenigen Wochen würde er eine noch üppigere, grüne Mauer bilden. Wir gingen nie hinein, hatten dort nichts zu erledigen. Und neuerdings gab es Gerüchte, dass er gerodet werden sollte, um einer neuen Plantage Platz zu machen.

Jetzt summte aus Richtung des Waldes eine Fliege heran, ein seltener Anblick, so wie ich schon seit Tagen keine Vögel mehr gesehen hatte, auch sie waren weniger geworden. Sie machten Jagd auf die wenigen Insekten, die es noch gab, und hungerten ansonsten wie der Rest der Welt auch.

Ein Geräusch durchschnitt die Stille. Es war die Pfeife, die von der Baracke der Aufseher herüberdrang, das Signal zur zweiten und letzten Pause des Tages. Erst jetzt fiel mir auf, wie trocken meine Zunge war.

Wie eine zusammenhängende Masse glitten die anderen Arbeiterinnen und ich von den Bäumen hinab. Meine Kolleginnen unterhielten sich. Kaum war es erlaubt, setzte ihr wildes Plappern ein, als hätte man einen Schalter umgelegt.

Ich blieb stumm und konzentrierte mich ganz darauf, langsam nach unten zu gelangen, ohne einen Zweig abzubrechen. Es gelang mir. Pures Glück. Ich war tollpatschig und schwerfällig, ich hatte lange genug hier durchgehalten, um zu wissen, dass ich diese Arbeit nie richtig gut beherrschen würde.

Auf dem Boden neben dem Baum stand meine Trinkflasche aus zerkratztem Metall. Ich griff danach und trank in gierigen Zügen. Das Wasser war lauwarm, es schmeckte nach Aluminium, weshalb ich weniger trank, als ich gebraucht hätte.

Zwei weißgekleidete junge Männer aus der Verpflegungseinheit teilten rasch die wiederverwendbaren Dosen mit der zweiten Mahlzeit des Tages aus. Ich blieb für mich, lehnte mich mit dem Rücken an den Baumstamm und öffnete meine Dose. Diesmal waren Maiskörner in den Reis gemischt. Ich probierte davon. Wie immer war das Essen ein wenig zu salzig und mit künstlich hergestelltem Chili und Soja gewürzt. Fleisch hatte ich schon lange nicht mehr gegessen. Für den Anbau von Tierfutter brauchte man große Flächen urbaren Bodens, und noch dazu mussten viele der traditionellen Futterpflanzen ebenfalls bestäubt werden. Das war die Mühe unseres aufwändigen Handwerks nicht wert.

Die Dose war leer, bevor ich satt war, und ich stand auf und stellte sie wieder in den Sammelkorb. Ich konnte meinen Körper nur schwer ruhig halten und joggte auf der Stelle. Meine Beine waren müde, aber trotzdem steif, und sie kribbelten, weil sie dort oben in den Bäumen so lange in starren Positionen ausgeharrt hatten.

Doch die Bewegung brachte keine Besserung. Ich sah mich verstohlen um, keiner der Aufseher beachtete mich. Rasch legte ich mich auf den Boden, um meinen schmerzenden Rücken auszustrecken.

Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Stimmen der anderen Frauen aus meiner Gruppe auszublenden, doch ich hörte, wie ihr Geplauder stetig anschwoll und wieder abflaute. Wo kam dieses Bedürfnis nur her, warum mussten immer alle gleichzeitig reden? Das war schon so gewesen, als wir kleine Mädchen waren. Stunde um Stunde mit Gesprächen, deren Themen immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner bildeten, bei denen man nie etwas vertiefte, es sei denn, die Person, über die man sprach, war gerade nicht anwesend.

Ich dagegen zog Gespräche unter vier Augen vor oder gar keine Gesellschaft, bei der Arbeit oft Letzteres. Und zu Hause hatte ich Kuan, meinen Mann. Allerdings waren es auch nicht unbedingt ausschweifende Unterhaltungen, die uns miteinander verbanden. Kuan lebte immer im Hier und Jetzt, er strebte nicht nach Wissen, trachtete nicht nach mehr. Aber in seinen Armen fand ich Ruhe. Außerdem hatten wir unseren dreijährigen Sohn Wei-Wen, über ihn konnten wir reden.

Als mich das Geschnatter der anderen Frauen schon fast in den Schlaf gewiegt hatte, setzte es abrupt aus. Alle waren verstummt.

Ich setzte mich auf. Die anderen reckten ihre Köpfe.

Über den Pfad kam ein Tross auf uns zu.

Es waren Kinder, nicht älter als acht Jahre, viele kannte ich aus Wei-Wens Schule. Alle trugen die gleichen Arbeitskleider, dieselben synthetischen, beigefarbenen Anzüge, die auch wir trugen, und eilten in unsere Richtung, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen. Zwei erwachsene Begleiter hielten die Gruppe zusammen, einer ging an der Spitze, der andere am Ende des Zuges. Beide hatten durchdringende Stimmen, mit denen sie die Kinder ständig zur Ordnung riefen. Sie schimpften jedoch nicht, sondern erteilten ihre Anweisungen voller Wärme und Mitgefühl. Denn auch wenn die Kinder noch nicht ganz verstanden hatten, wohin sie unterwegs waren, die Erwachsenen wussten es.

Die Kinder gingen Hand in Hand, ungleiche Paare, große und kleine, die ältesten passten auf die jüngsten auf. Ihr Gang war holperig und ungeordnet, aber sie hielten sich fest an den Händen, als wären sie zusammengeleimt. Vielleicht hatte man ihnen strengstens befohlen, einander auf keinen Fall loszulassen.

Ihre Blicke waren auf uns und auf die Bäume gerichtet. Es waren neugierige Blicke, einige kniffen die Augen zusammen und legten den Kopf schief, als wären sie zum ersten Mal hier, obwohl sie alle in diesem Bezirk aufgewachsen waren und nie eine andere Natur kennengelernt hatten als diese endlosen Reihen von Obstbäumen vor der Dunkelheit des verwilderten Waldes im Süden. Ein kleines Mädchen...