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4) Kants Lehre von Raum und Zeit.

,,Raum und Zeit sind reine Anschauungen a priori", lautet die berühmte Lehre Immanuel Kants. Anschauungen a priori, d. h. also für jeden Menschen allgemeingültige und notwendige Anschauungen, da sie aus dem Wesen seiner geistigen Organisation selbst entspringen; und reine Anschauungen, d. h. solche, welche der Mensch immer hat, unabhängig von dem Wechsel seiner sonstigen empirischen Anschauungen. Der Gegensatz der reinen Anschauung ist also die empirische. Die Anschauung von Indien z. B. ist eine empirische, welche ich mir nur durch ganz spezielle Erfahrung, dadurch, dass ich in Indien selbst verweile, erwerben kann; sie entsteht ganz und lediglich durch Erfahrung. Die reine Anschauung entsteht nicht erst ganz und lediglich durch Erfahrung, sie liegt vielmehr allen empirischen Anschauungen als deren aus dem menschlichen Geiste stammende Form schon zu Grunde.

Kant stellt eine direkte und eine indirekte Beweisreihe für seinen Satz auf. Die indirekte stützt sich auf die Natur der Mathematik: Die Eigentümlichkeiten der Mathematik, so heisst es hier im allgemeinen, erklären sich nur, wenn Raum und Zeit reine Anschauungen a priori sind. Die direkte Beweisreihe, welche uns zuerst beschäftigen soll, zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil giebt mehr eine blos deiktische Hinleitung auf die Einsicht in die Apriorität von Raum und Zeit, als schon einen apodiktischen Beweis; eben diesen letzteren will der zweite Teil führen.

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Der erste Teil: Alles, was wir erkennen können das ist der vorausgesetzte Ausgangspunkt der Darlegung sind Vorstellungen. Diese zerfallen in zwei Klassen, in diejenigen Vorstellungen nämlich, welche stetig in Wechsel und Veränderung begriffen, und in diejenigen, welche in allem Wechsel dieselben sind. Die ersteren sind die empirisch gewonnenen Anschauungen unsrer sinnlichen Wahrnehmung; sie sind aber insgesamt in Raum und Zeit. Raum und Zeit sind Grundanschauungen, von denen wir überhaupt nicht zu abstrahieren vermögen: Wir können in uns alle

einzelnen empirischen Vorstellungen aus Raum und Zeit wegdenken, Raum und Zeit selbst dagegen niemals. So müssen sie doch also etwas in der Natur unsers Intellektes wurzelhaft Begründetes sein, da wir sie nicht aus uns und uns nicht von ihnen losreissen können. Diese Thatsache führt auf die Vermutung hin und macht es in hohem Grade wahrscheinlich, dass Raum und Zeit die notwendigen Formen sind, in denen unser Bewusstsein vorstellt, dass sie also nicht wie die übrigen empirischen Vorstellungen allmählich und a posteriori gewonnen, vielmehr a priori im Geiste vorhanden sind. Der zweite Teil: Raum und Zeit sind Anschauungen; sie sind also nicht Begriffe. Welches ist der Unterschied zwischen Anschauung und Begriff? Kant sagt:,,Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung." Unter Anschauung ist also ein in seiner Eigentümlichkeit einziges, nur einmal existierendes Wesen zu verstehen. Der Dichter Goethe ist z. B. ein solches einziges Exemplar, welches nirgends seinesgleichen findet, von dem auch keine Beschreibung in Worten oder Erklärungen in Begriffen mir diejenige klare und deutliche Vorstellung verschaffen kann, welche die unmittelbare Anschauung seiner Persönlichkeit in ihrem Thun und Lassen, wenn sie noch möglich wäre, verleiht. Vom Strassburger Münster erzeugen noch so viele Beschreibungen und begriffliche Auseinandersetzungen nicht die klare Vorstellung, welche die unmittelbare Anschauung dieses Bauwerkes hervorbringt. So verstehen wir also unter Anschauung, als der Vorstellung von einem einzig in seiner Art existierenden Exemplar, die Vorstellung von dem Individuum, dessen volles Wesen nur durch die unmittelbare Wahrnehmung erfasst werden kann, weil das Individuelle, als Gegensatz des Allgemeinen, durch keinen allgemeinen Begriff umspannt und erschöpft werden kann.

Der

Was ist im Gegensatz dazu der Begriff? Das einzelne Pferd hier, welches den Namen Hektor führt und von dem Hengst Priamus und der Stute Hekuba stammt, ist eine Anschauung. Begriff Pferd dagegen bezeichnet alle Pferde, so verschieden sie auch sein mögen. Wie verhält sich demgemäss der Begriff zur Anschauung? Der Begriff wird gebildet, indem aus vielen sich

ähnlichen, einzelnen Exemplaren das ihnen Gemeinsame herausgehoben und zu einem Merkmalkomplex vereinigt wird. Offenbar ist daher der Begriff eine Teil vorstellung, denn er enthält nur die einzelnen Teile, welche gleichmässig in den sonst verschiedenen Individuen vorkommen. Er enthält also nicht die Gesamtheit der Merkmale eines Dinges; also muss unterschieden werden zwischen Teil vorstellung, und Gesamtvorstellung. Die Teilvorstellung Baum ist der Begriff Baum; sie giebt mir nur wenige Merkmale. Dagegen der einzelne wirkliche Baum, die Gesamtvorstellung oder das Individuum Baum hat allemal mehr Merkmale als der Begriff, nämlich diejenigen Merkmale mehr, welche eben seine Individualität ausmachen. Der Begriff mithin ist eine Teilvorstellung, die Anschauung ist Gesamtvorstellung. Letztere enthält alle, erstere nur einige Merkmale. Die Gesamtvorstellung kann mithin nur durch die unmittelbare Wahrnehmung meiner Empfindungsorgane, nicht durch begriffliche Auseinandersetzungen erfasst werden. In Bezug auf Raum und Zeit fragt es sich nun: Sind Raum und Zeit Begriffe oder Anschauungen, Teilvorstellungen oder Gesamtvorstellungen? Sie sind Anschauungen oder Gesamtvorstellungen.

Erstens. Wenn Raum und Zeit Begriffe wären, so müssten sie wie Begriffe durch Abstraktion gebildet sein. Den Begriff Baum bildet man, indem man aus sehr verschiedenen Bäumen das in ihnen Gleichartige heraushebt und es zu einem Komplex verbindet. Die Bildung des Begriffs Baum setzt also die Existenz verschiedener Bäume voraus. Wenn also Raum und Zeit abstrahierte Begriffe wären, so müsste es offenbar verschiedene Räume und verschiedene Zeiten geben, sowie es verschiedene Bäume giebt. Existieren also in dem Sinne verschiedene Räume, wie die Palme, Buche, Tanne u. s. w. als verschiedene Bäume existieren? Man antwortet:,,Ja! Der eine Raum geht bis an die Hecke dort; von da an beginnt ein anderer Raum, der bis an den Fluss reicht u. s. f.; diese Räume sind verschieden ihrer Ausdehnung, also ihrer Grenze oder ihrem Umfange nach; die Grenze dieses Raumes ist diese Hecke, die des anderen jener Fluss." Eine solche Anschauung wäre offenbar thöricht. Hört

denn bei der Hecke wirklich ein Raum auf, und beginnt dort ein anderer? Dann müsste ja die Hecke zwischen zwei Räumen und selbst nicht im Raume stehen. Hebe die Hecke weg, und du siehst nur einen einzigen Raum ohne jede Unterbrechung. Unser Raum zeigt in Wahrheit nirgends eine Grenze, und schieben wir die Grenze noch so weit hinaus, dahinter ist immer wieder Raum, und immer wieder derselbe eine kontinuierliche Raum. Es giebt wohl verschiedene Raumfiguren, die wir in den Raum willkürlich hineinkonstruieren, wie Dreiecke, Vierecke, Kreise u. s. w. Dieselben sind aber doch nicht verschieden hinsichtlich ihres Raum seins, und die Kontinuität des einen, unendlichen Raumes wird durch ihre Konstruktion nirgends unterbrochen. Es giebt also nicht individuell verschiedene Räume für unsere Anschauung, wie es für dieselbe individuell verschiedene Bäume giebt. Es könnten die Räume aber ihrem Inhalte nach verschieden sein. In diesem Raume hier wird Musik gemacht, in jenem wird getanzt; in diesem steht ein Garten, in jenem ein Haus. Sind denn dadurch die Räume als Räume, hinsichtlich ihres Raumseins oder ihrem räumlichen Charakter nach, verschieden? Dass dieser oder jener dingliche Inhalt in diesem oder jenem Raume sich befindet, berührt die räumliche Natur dieser Räume offenbar durchaus nicht. Alle diese Dinge können aus dem Raum entfernt werden: er bleibt, was er ist. So wenig also die von uns zufällig gesetzte Grenze Räume ihrer Raumnatur nach verschieden macht, so wenig wird durch einen zufälligen Inhalt das Raumsein der Räume abgeändert. Es giebt für uns nur einen einzigen, sich ins Unendliche dehnenden Raum, eben den, welchen wir anschauen. Wäre der Raum ein Begriff, so müsste er wie ein Begriff gebildet sein, also müsste er von verschiedenen Räumen abstrahiert sein; ihren Merkmalen nach verschiedene Räume aber giebt es für uns Menschen nicht; es gibt nur einen Raum für uns; mithin kann auch nicht von verschiedenen Räumen abstrahiert werden, und der Raum also kein Begriff sein. Mit der Zeit verhält es sich ebenso. Es gibt nicht in dem eben erläuterten Sinne verschiedene Zeiten. Die Zeiten könnten, so nehme man an, ihrer Grenze nach ver

schieden sein: die eine Zeit reiche bis elf, die andere bis zwölf Uhr. Aber hört denn um elf die Zeit auf, und beginnt eine ganz neue? Diese von uns willkürlich gesetzte Einteilung der Zeit ändert an dem Flusse unserer Zeit offenbar nichts; die Zeit von 10-11 ist hinsichtlich ihres Zeitseins keine andere als die von II-12. Die Zeiten, nehme man an, könnten hinsichtlich ihres Inhaltes verschieden sein: in der einen Zeit geht man spazieren, in der anderen arbeitet man. Was aber schiert es den zeitlichen Charakter der Zeit, ob man in ihr dies oder jenes treibt? Es giebt also für das Bewusstsein jedes Individuums nur eine, in unaufhörlichem Flusse begriffene Zeit; also kann auch nicht von verschiedenen Zeiten abstrahiert werden, unsere Zeit also kein Begriff sein.

Zweitens. Wenn Raum und Zeit Begriffe wären, so müssten sie die Natur des Begriffes haben. Untersuchen wir die Natur des Begriffs, und fragen wir, ob die Eigentümlichkeiten, welche wir im Begriffe entdecken, sich auch in den Vorstellungen Raum und Zeit wiederfinden. Dreierlei werden wir ins Auge zu fassen haben. a) Jeder Begriff besteht aus einer Anzahl von unter einander verschiedenen Merkmalen, wie z. B. der Begriff Baum aus den Merkmalen Wurzel, Stamm, Äste, Blätter etc. Diese Merkmale sind die Teilvorstellungen des Begriffs, man könnte sagen: Teilvorstellungen zweiten Grades, insofern der ganze Begriff gegenüber dem Individuum bereits eine Teilvorstellung ist, welche wir als die ersten Grades bezeichnen könnten. Wir werfen nun die Frage auf: Hat auch der Raum mehrere unter einander verschiedene Merkmale oder Teilvorstellungen? Wir haben ja wohl Merkmale vom Raume ausgesagt, z. B. er sei ausgedehnt. Was heisst aber ,,ausgedehnt"? Ausgedehnt, wenn wir es vom Raume brauchen, ist offenbar nur ein anderes Wort für ,,räumlich", denn es giebt keinen nicht ausgedehnten Raum, noch eine nicht räumliche Ausdehnung; man kann wohl die Wurzel denken ohne den übrigen Baum, aber niemals ein Räumliches ohne ein Ausgedehntes und umgekehrt. ,,Ausgedehnt" ist also eine tautologische Bezeichnung für „räumlich“ und ist also kein Merkmal oder Teilvorstellung des

nur

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