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AUG 1 3 1931

8/13/31

Holsteinische Anzeigen.

Redigirt von den Obergerichtsräthen Etatsrath Henrici und Lucht.
Gedruckt bei Augustin in Glückstadt.

1. Stück.

Ueber

provocationes ad agendum

(von dem Herrn Advocaten Ipsen in Neumünster).

Die

§ 1. Einleitung.

Den 4. Januar 1864.

Die Aufforderungen zum Klagen*) wegen berühmter Ansprüche oder wegen des drohenden Verlustes einer Einrede bieten die im Processe so gut wie allein stehende Erscheinung, daß sie nicht nur nicht in ihrem Entstehen einer geseßlichen Basis entbehren, sondern daß auch, nachdem sie schon Jahrhunderte im Gebrauch gewesen, die Gesezgebung sich ihrer auch da noch nicht oder nur höchst mangelhaft angenommen. Wenn deffen ungeachtet die Provocationsklagen in der Praxis bis auf den heutigen Tag sich behauptet haben und die Doctrin ihnen am wenigsten ihre Aufmerksamkeit entzogen hat, jo liegt in dieser geschichtlichen Thatsache allein schon ein so gewichtiges Moment, daß man ihnen auch ohne alle fernere Erörterung im Allgemeinen das Prädicat als ex opinione necessitatis entstanden und erhalten zuzuschreiben geneigt sein muß. Hierbei haben sich aber auch vielfach die Proceßlehrer früherer Zeit beruhigt; man wußte und lehrte längst, daß zwei mißverstandene Gesezesstellen des Röm. Rechts den Anlaß zu diesen Rechtsmitteln gegeben; aus den nächsten

*) Es ist mir nicht klar, weshalb Esmarch in seinem Repert. zu den Anzeigen die prov. ad agendum mit der prov. ad ordinarium in eine Linie zusammengestellt hat.

Vorgängern konnte man auch zur Genüge erfahren, daß in dieser Materie ein Reichthum an Controverjen vorhanden, und auf die Behandlung dieser warfen sich durchgängig diejenigen, welche sich mit den Provoca= tionen beschäftigen, wobei es an Citirung von Autoritäten für und wider gar nicht fehlte. Ein Weiteres wird aber von ihnen nicht geboten. Erst der neueren und neuesten Zeit war es vorbehalten, die Natur und das Wesen dieser Klagen dadurch näher zu begründen, daß den Ansichten derjenigen Juristen, zu deren Zeit die Provocationen zuerst auftauchten, nachgeforscht und von da an der weiteren Entwickelung nachgegangen ward. Insbesondere sind hier zwei verdienstliche Arbeiten hervorzuheben:

A. Martin, über den Begriff und die Begrün-
dung der sog. provocatio ex lege: si contendat,
im dritten Heft des ersten Bandes des Maga-
zin für den gemeinen Deutschen Proceß von
Christ. Martin und Walch (1829), S. 257
bis 345,*) und

Muther, die Diffamationsklage, in seinem und
Bekker's Jahrb. des gemeinen Deutschen Rechts,
Bd. II S. 53-196 (1858).

*) Die zwei ersten Hefte dieses Bandes erschienen bekanntlich schon 1802, Martin fügt in seiner Abhandlung den citirten älteren Juristen stets deren Zeitalter bei, Muther in der seinigen aber nicht, wodurch die Beurtheilung seiner Behauptungen über die jeweiligen Zeitansichten, namentlich bei dem vielfächen Rückwärtsgreifen, nicht selten erschwert wird.

Dasjenige, was diese beiden Arbeiten an Acuße= rungen über die Provocationen aus der Gloffe und den Schriften der ihr zunächstfolgenden Juristen beigebracht haben, wird sich zweifelsohne zwar vervollständigen lassen; es reicht aber schon aus, um eine selbstständige Ansicht über die Entstehung und Entwicklung dieser remedia zu gewinnen. Es ist dabei nur zu bedauern, daß jeder der beiden Genannten zu einseitig mit der zur Aufgabe gestellten Provocation sich befaßte, während nur eine beide Provocationen gemeinsam umfassende Untersuchung zu einem ersprieß lichen Resultate für jede führen zu können scheint. Vielleicht wäre bei solcher Behandlung insbesondere die legtgedachte davor bewahrt worden, die sog. Diffama tionsklage als aus einem Delict entspringend zu deduciren und darauf hin man möchte sagen mit eiserner Consequenz die für dieselbe gelten sollenden von dem, was bisher gelehrt worden, vielfach abweichenden Grundsäge aufzustellen, mehr noch davor bewahrt worden, diese Ansicht schon der Glosse und den Italienischen Juristen unterzulegen, wodurch die Arbeit durchgängig eine eigenthümliche Färbung erhalten hat.

In dieser Richtung eine umfassendere Untersuchung vorzunehmen, dazu fehlen der nachfolgenden Arbeit die nöthigen Hülfsquellen, wenigstens für jest; ist übrigens auch nicht eigentlicher Zweck derselben. Sie will vielmehr versuchen, darzustellen, von welchem Gesichtspunkte aus die Provocationen heut zu Tage zu betrachten und welche Grundsäße von diesem Standpunkte aus für dieselben aufzustellen sein möchten, und dabei hervorzuheben, ob und wie weit dieselben in den Schriften vaterländischer Practifer und in der neuern inländischen Praris einen Anhalt finden. Aber auch schon für diesen Zweck ist, um nicht in den vorhin gerügten Fehler zu verfallen, ein geschichtlicher Rückblick unvermeidlich. Da ist es denn erfreulich, daß das von Martin und Muther und zwar je zu dem besonderen Zwecke beigebrachte Material so reichhaltig ist, daß darauf hin schon, wie mir scheint, eine selbststän= dige nicht immer mit der Muther'schen Auffassung übereinstimmende Ansicht über die Entstehung nicht allein der sogenannten Diffamationsklage, sondern der Provocationen im Allgemeinen und deren weitere Entwickelung gewonnen werden könnte, und die Darlegung dieser Ansicht soll nunmehr versucht werden.

§ 2.

Geschichtlicher Rückblick.

Man würde irren, wenn man annähme, durch eine falsche Interpretation der L. 5 C. de ingen. manum, 7, 14, und der L. 28 D. de fide juss., 46, 1, sei die Italienische Jurisprudenz im 13. Jahrhundert und früher zu der Meinung gekommen, als ob die beiden Provocationen schon dem Römischen Recht bekannt gewesen, oder durch solche Interpretation seien wenigstens unmittelbar dieselben hervorgerufen und zwar jede durch die entsprechende lex cit. Das ist nicht der Fall gewesen. Die abgegränzten Begriffe der provatio ex 1. diff. und ex 1. si contendat treten im Gegentheil erst in der Jurisprudenz nach den Gloffatoren hervor, die technischen Bezeichnungen dafür zum Theil sogar erst noch später. Gleichwohl hat die unrichtige Interpretation jener Geseze ihren großen Antheil an der Entstehung und Entwickelung der beiden Remedien, *) hauptsächlich die L. 5 C. cit., in zweiter Linie erst die L. 28 D. cit. Das Römische Recht hatte in der L. un. C. 3, 7, die Regel aufgestellt, ut nemo invitus agere cogatur. Zur Gloffatorenzeit aber ward man durch concrete Fälle darauf aufmerksam, daß Jemand sehr wohl ein Interesse daran haben könne, daß jezt gegen ihn geklagt werde, dann nämlich, wenn zu befürchten stand, daß ihm eine spätere Klage einen jezt noch abwendbaren Nachtheil bereiten werde. Sah man sich im Römischen Recht um, ob hier sich nicht eine Bestimmung finde, aus welcher derartige Fälle entschieden werden könnten, so fand man nur die eine L. 5 C. cit. und darin eigentlich nur wenige Worte, welche man anwendbar hielt. Der in dieser lex enthaltene Fall handelt von der Bemängelung des status eines ingenuus durch einen Dritten, den Jener weder durch Klagen zum Hervortreten excipiendo, noch auch zum Stillschweigen hatte bewegen können. Der rector provinciae hatte nun durch eine Sentenz Sorge, daß der ingenuus,,ne de cetero inquietudi

*) In der L. 28,,Si contendat fidejussor, ceteros solvendo esse, etiam exceptionem ei dandam etc., gab das Wort etiam der Glosse Anlaß zu der Be merkung:,,non solum poterit agi, ut fiat divisio, sed etiam exceptio ei danda. Martin, a. a. D., S. 260 und 283.

nem sustineret" und die Kaiser rescribirten einmal, daß der Richter diese Sentenz merito dedisse, fügten aber noch hinzu, daß, wenn der Gegner dennoch verharre in eadem obstinatione,aditus praeses provinciae ab injuria temperari praecipiet". Ob die Glossatoren selbst annahmen, daß die dieser Entschei dung zu Grunde liegenden Facta den concreten Fällen, für welche sie eine Enscheidung suchten, entsprächen, dürfte sehr zu bezweifeln sein. Nur in einem Punkte war Aehnlichkeit: der ingenuus hatte offenbar Widerwärtigkeit von dem Verhalten des Gegners zu erdulden. Dieser Grund war auch dort vorhanden, mithin glaubte man sich auf die L. 5 oder richtiger auf die darin enthaltene Entscheidung berufen zu können. Es fragt sich, welche Fälle denn den Glossatoren vorschwebten. Vorzugsweise war es der eine sog. Scholarenfall, den die Glosse zur L. un. C. 3, 7, als Ausnahme von der darin enthaltenen Regel erwähnt. *) Ein zur Abreise rüstender Scholar vermuthet, daß ein Bürger an ihn Ansprüche mache; der Bürger klagt aber noch nicht, wo der Scholar noch Zeit hat, sich zu vertheidigen. Dieser fürchtet daher, daß der Bürger erst im Moment der Abreise hervortreten und ihm Widerwärtigkeit bereiten wolle. Das wäre offenbar auf Seiten des Bürgers ein chikanöses Verhalten, ähnlich wie der Gegner in L. diff. sich chikanös beträgt. Wie hier, so soll auch in dem Scholarfall folcher möglichen Chikane vorgebeugt werden. Der darum angegangene Richter sezt dem Bürger eine Frist, binnen welcher er klagen soll, postea eum non audiri. Der aus dem Stillsigen des Bürgers für den Scholaren zu befürchtende Nachtheil soll für jenen einen Klagezwang rechtfertigen. Die Sentenz in L. 5 cit. war ja erst erfolgt, nachdem der Präses den Gegner verschiedentlich aufgefordert, und die Glosse bemerkte dazu in irriger Auffassung: vel dic quod praeses statuerat certum tempus, intra quod inciperet agere, quod po

*) Gloffe: Solet quaeri, an Bononiensis possit cogi a scholare, ut agat contra scholarem, qui in brevi est recessurus? cum forte Bononiensis sperat eum convenire, cum habet pedem in stipodio!, et est argumento lex ista quod non possit. Magis tamen puto, judicem debere ei statuere tempus, intra quod agat, et postea eum non audiri. arg. 1. diff. u. a. Stellen mehr.

test, denegando sibi postea jurisdictionem. Die Glosse gedenkt auch anderer Fälle, bei denen sie, wieder freilich ganz irrig, Stellen des Römischen Rechts herbeizieht. In der L. 6 D. 33, 5, ist davon die Rede, was vorzunehmen sei, wenn der, dem die mancipiorum electio legirt worden, mit der Wahl zögere. Das kann dem Erben schaden; er kann nicht wohl verkaufen, es können einige mancipia sterben. Der Legatar hat immer davon keinen Nachtheil, so lange nur noch mancipia am Leben sind, kann er wählen. wählen. Sein Stillsizen scheint daher ein wohl be= rechnetes zu sein. Die Stelle selbst giebt die einfache Aushülfe an die Hand, daß der Prätor eine Frist zur Wahl sezt. Verstreicht diese, ohne daß der Legatar wählt, so kann der Erbe z. B. ohne Nachtheil verkaufen, freilassen. Es versteht sich, daß der Legatar auch klagen könne, nur ist davon in der Stelle nicht die Rede; und daß weiter eine Klageverzögerung dem Erben aus obigen Gründen nachtheilig sein könne. Accursius bemerkt aber zu der Stelle: nota quod ad tempus quis agere cogitur, sic in L. diff. Also im Allgemeinen ein befürchteter Nachtheil soll den Klagzwang begründen können. Aehnliche Aeußerungen der Glosse zu anderen Stellen. Specieller, wenn der Verlust von Einreden befürchtet ward. In der L. 4 C. 5, 56, handelt es sich um die Frage, wie der Vormund, der an den mündig gewordenen Pupillen etwas auszukehren hatte, ohne daß dieser gerichtlich die Regulirung vornehmen will, sich vor dem Zinsenlauf der späteren Zeit schüßen könne. Nachdem im Eingang der Stelle ausdrücklich bemerkt ist, daß der Pupill nicht gezwungen werden könne, mit der act. tutelae aufzutreten, werden anderweitige Sicherungsmittel angegeben. Dennoch bemerkt die Glosse zu der Stelle unter andern Vorschlägen, der Vormund könne beim Richter anhalten, ut statuat tempus pupillo, ultra quod non audiet eum agentem, ut in 1. diff. Bei der L. 6 C. 8, 26, sagt die Glosse, es scheine also, daß der creditor hyp. zum Klagen gezwungen werden könne, was gegen die L. un. C. 3, 7. Aber gezwungen werde er doch eigentlich nicht, sondern si non agat, amittit jus suum et praetor postea denegat ei jus, sic etiam supra ad 1. diff. Endlich die L. 28 D. 46, 1. Zur Sicherung der Einrede des Bürgen soll dieser den Gläubiger zum Klagen veranlassen können.

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