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künstlichen Formeln zu verdünnen und ihr ein blasses Ideal gegenüberzustellen; mehr ist ihm nicht gegeben; denn nur der vermochte das Leben bis auf den tiefsten Grund zu ergründen und ihm die einfachste und machtvollste Antwort und Lösung des Geistes zu geben, der selber zugleich mächtigstes Leben und erhabenster Geist war, also der Gottmensch; weder das Leben allein noch das Denken allein hat den Schlüssel der Erkenntnis. Darum steckt in jedem Worte des Evangeliums unvergleichlich mehr geistige Verarbeitung der Lebenswirklichkeit als in allen weltumspannenden Systemen der Philosophie, und darum ist auch die Versenkung in das Evangelium, mit der ungeheuren Konsequenz all seiner Urteile und seiner Vorbilder, eine weit größere Schule der Logik als alle philosophischen Handbücher der Welt. Stammten nicht die gewaltigen Deduktionen der mittelalterlichen Scholastik noch von der erhabenen Bestimmtheit des Lebensganges Christi und von der Treue bis zum Tode, die die Apostel, die Märtyrer und die Heiligen durch glühte? Was ist das Denken ohne Christus? Was ist die Logik ohne Golgatha? Ein ewiges Haltmachen und Irrewerden, ein stetes Abgelenktwerden und Geknechtet werden, oder ein starrer und lebensfremder Ablauf von wertlosen Spitzfindigkeiten und menschenfeindlichen Torheiten!

Nie wird Maria Magdalena die Arme nach der Philosophie ausstrecken — die lebendige Seele kennt ihren Retter; und je mehr eine Seele zum wahren Leben und zum wahren Denken erwacht, desto unbarmherziger durchschaut sie die hohle Anmaßung aller Geistigkeit, die sich höher dunkt als die Lehre vom Kreuze, statt ihr zu dienen und vor ihr zu knien.

Zweites Kapitel

Christus und der Klassenkampf

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1. Christus und der Fabrikarbeiter

ancher meint: Wer Christus dem Fabrikarbeiter nahebringen wolle, der müsse in der Sprache des Sozialismus und der Revolution predigen und den Welterlöser als den Wortführer der Enterbten und der Unterdrückten darstellen. Das ist gänzlich falsch und nichts als ein Buhlen des Christen um die Volksgunst. Das gerade Gegenteil ist notwendig. Der moderne Arbeiter soll gar nicht in dem Glauben gelassen werden, als bedeute seine Vorstellungswelt die untrügliche Wahrheit, vor der sich alles in der Welt zu rechtfertigen habe, um angehört und angenommen zu werden. Vielmehr soll die Ahnung in ihm erweckt werden, daß es eine unendlich viel größere Wahrheit gibt, als es diejenige ist, die ihm durch die Wortführer seiner Klasseninteressen verkündigt wird: Jene größere Wahrheit aber läßt sich auf die engen Vorstellungen der Klassenkampfpolitiker so wenig zurückführen wie auf die Beschränktheiten irgendwelcher andern Klassenweisheit. Der Arbeiter muß zu spüren bekommen, daß derjenige naht, der sich vor niemand zu rechtfertigen braucht: Christus ist es, vor dem sich alles zu rechtfertigen hat, er urteilt über das Leben, er richtet über die Lebendigen und die Toten. In seiner Passionsgeschichte ist die ganze Leidensgeschichte der Menschheit in ihrem tiefsten Wesen beantwortet. Wie immer wir Unrecht leiden raten kann uns nicht das erregte Tier in uns, sondern nur der triumphierende Christus über uns.

Und keine Seele gibt es, die sich nicht unbewußt dieser Autorität Christi öffnete, sobald man nur alle Theorien beiseite läßt und geradewegs zu den persönlichen Lebensschwierigkeiten des Menschen hinabsteigt. Vermögen jene großen Theorien auch nur die leiseste Hilfe und das geringste Licht für das eigentliche Leben des Menschen zu

spenden? Reden sie nicht immer nur zum wirtschaftlichen oder politischen Menschen? Der Arbeiter ist aber doch nicht etwa nur Lohnempfånger, Parteigenosse und Gewerkschaftsmitglied, nein, Mensch ist er vor allem, Bruder ist er, Sohn, Gatte oder Vater. Als solcher aber steht er mitten in all den ewigen Aufgaben und Schwierigkeiten des menschlichen Gewissens, in dem Kampf zwischen Sinnlichkeit und Geist, Selbstsucht und Opfer, Leidenschaft und Treue, Lebensgier und Verantwortlichkeit; nicht nur seine Maschine hat er zu bes dienen, sondern er hat auch mit seiner menschlichen Doppelnatur fertig zu werden, die ihn unablässig in Scham vor sich selber stürzt und ihn eine Knechtschaft fühlen läßt, die weit erniedrigender ist als diejenige, gegen die er in großen Versammlungen flammenden Protest erhebt. Diese seine persönliche Erfahrung aber wird von niemand angeredet, zur Klärung gebracht und zur Grundlage alles Denkens über das Leben gemacht - nein, nur die eine Erfahrung wird unablässig aufgewühlt, die mit seiner Stellung in der Fabrik und in der Gesellschaft zu tun hat, nur von diesem Problem lebt der ganze Mensch, nur damit speist er seine Vernunft, erregt er sein Süblen, treibt er sein Wollen. Und worauf kommt dies alles hinaus? Auf die Erkenntnis kommt es hinaus, daß seine Oberen und Geldgeber mit ihrer menschlichen Dop pelnatur nicht in höherem Sinne fertig wurden, also nur zu oft nicht Herren im eigenen Hause“ sind, sondern Sklaven schmutziger Leidenschaften, engherziger Empfindungen, brutaler Instinkte: Und er, der wehrlose Fabrikarbeiter, er ist nun der Angestellte und Fronknecht dieser niederen Gewalten und muß handeln und leben, wie es ihnen beliebt. Wie merkwürdig aber, daß er jene schlechten Leidenschaften immerfort nur bei den andern bekämpfen möchte, statt sich zuerst einmal dort an sie heranzumachen, wo sie ihm doch am greifbarsten entgegentreten, nämlich in der eigenen Seele und in den persönlichsten Lebensbeziehungen! Das aber ist nun gerade das Wesen des Christentums, daß es weit radikaler zu den letzten Wurzeln des gesellschaftlichen Elends und Zwiespaltes vordringt als alle wirtschaftlichen Geschichtserklärungen: Es lenkt fort von all den Programmen und Forderungen, die an den Staat oder an die

andere Klasse gerichtet werden, es lenkt hin zur innern Umkehr des eigenen Willens, es sozialisiert nicht die Bergwerke, sondern die Beziehung zwischen dem Gatten ́und der Gattin, dem Vater und dem Sohn, dem Bruder und der Schwester, es erweckt den Menschen zu so tausendstimmigem Protest gegen sich selbst, daß er gar nicht mehr dazu kommt, gegen die andern zu protestieren, es stellt vor die Seele nicht das nebelhafte Bild einer neuen Gesellschaft, sondern die lebendige Verkörperung des erlösten Willens, die alles an sich zieht, was Besseres im Menschen ist, und die allein vermag, den Dämonen der irdischen Begierde eine „neue Gesellschaft“ abzuringen. hat aber der zu innerer Erläuterung erweckte Mensch erst einmal ehrlich versucht, in der eigenen Sphäre wahrhaft Bruder zu sein, die fremde Menschenwürde so heilig zu halten wie die eigene, selber nicht den Wehrlosen zu mißbrauchen, die eigene Seele vom Fluch des Goldes reinzuhalten, die eigene Tierheit zu überwinden und zum Gehorsam zu zwingen dann wird er plötzlich beginnen, auch in seinen Gedanken über die Erneuerung der Gesellschaft nicht von bloßen Theorien, sondern von. der Kenntnis des lebendigen Menschen auszugeben, er wird also die ganze ungeheure Hartnäckigkeit des verkehrten Willens vor Augen haben und wird nicht länger von bloßen äußeren Ordnungen Dinge erwarten, die nur aus der Nachfolge Christi erwachsen und nur von dorther dem gesellschaftlichen Leben einverleibt werden können.

Die Liebesgemeinschaft der in Christus neugeborenen Seelen war einst der weltgeschichtliche Protest der Enterbten gegen den Cåsar, gegen den Reichtum, gegen die Entartung. Ohne das jahrhundertelange Wirken dieses Protestes im Reiche der Gewissen hätte die Volksbewegung keinen einzigen ihrer Erfolge erreicht, ohne die Umkehr zu dieser wahrhaft geistigen Gegenwirkung wird sie auch heute nichts anderes erreichen, als die Mächte der abwehrenden Gewalt immer weiter zu verhårten und zu verstärken. Erst wenn Christus der Herr der Seele geworden ist, wird er auch der Herr der Fabrik und der Organisator der Produktion werden - obne seine leuchtende Wahrheit wird das gewaltige Reich der technischen Werkzeuge immer aufs neue den niedern Lebensmächten verknechtet werden!

2. Christus und die drei Haustöchter

In einem Hause erkrankten nacheinander die drei Töchter an Typhus. Das Dienstmädchen wacht nach schwerer Hausarbeit jede Llacht unermüdlich an ihren Betten und pflegt sie ohne jede Rücksicht auf die eigene Gefahr, bis fie fich nicht mehr auf den Süßen halten kann. Als die Töchter wieder aufstehen können, da legt sie sich in vòlliger Erschöpfung zu Bett.

Da sagt die älteste Tochter: „Marie ist doch merkwürdig weichlich mit sich selbst, warum muß sie sich gerade jetzt binlegen, wo wir doppelt gute Pflege und forgfältig gekochtes Essen brauchen, um uns wieder zu erbolen ?"

Die zweite sagt: „Ich habe dir ja immer gesagt, mit den modernen Ideen kann man keinen Haushalt in Ordnung halten. Durch zuviel Güte und Rücksicht ermutigt| man nur jede Art von ungeordnetem Wesen in den Dienenden, damit aber erweist man auch ihnen einen schlechten Dienst. Laß sie nur aufstehen!"

Die dritte sagt: „Oh, wie ich mich schåme, mit euch von der gleichen Mutter geboren zu sein! Dreimal Schande über eure gottlosen Reden! Ja, gottlos ist es, wie ihr es wagt, die Pflege eures Leibes über alle menschlichen Gefühle zu stellen. Habt ihr denn wirklich keinen Sunken von Dank für die treue Seele, die ihre Gesundheit für euch aufs Spiel gesetzt hat? Nein, keinen Dank habt ihr, mit Schrecken habe ich euch durchschaut; ihr Leben ist euch so gleichgültig wie das eines Hasen auf dem Acker; wenn sie stürbe, so würdet ihr es noch ungebildet finden, daß sie sich dazu nicht habe rechtzeitig ins Spital bolen lassen! Mir graust, wenn ich denke, wie verlassen ein armes Mädchen bei gebildeten Menschen ist! Und da redet ihr noch von Ordnung! Dies foll Ordnung sein: das eigene Ich über alle menschlichen Rücksichten stellen? Nein, gerade dies ist die schrecklichste Unordnung, die wildeste Revolution und zieht jede andere Revolution nach sich; es wird sich råchen an uns allen, erschlagen wird man uns, wie wir es verdient haben!“

Christus sagt ihr im Traume: „Geduld, liebe Tochter, Geduld! Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Du eiferst und hassest und läßt böse Geister in dir

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