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rückschreitenden Weg empfohlen. In seinen „,Réflexions sur l'histoire") äußert er mit vollem Bewußtsein seiner Keßerei: „Au risque d'essuyer quelques fines plaisanteries de la part de ceux qui rejettent d'avance tout ce qui ne ressemble pas à ce qu'ils connaissent, oserais-je proposer ici une manière d'enseigner l'Histoire . . . qui aurait, ce me semble, beaucoup d'avantages? Ce serait de l'enseigner à rebours, en commençant par les temps les plus proches de nous, et finissant par les plus reculés. Le détail, et si on peut parler ainsi, le volume des faits décroîtrait à mesure qu'ils s'éloigneraient, et qu'ils seraient par conséquent moins certains et moins intéressants. Un tel ouvrage serait fort utile, surtout aux enfants, dont la mémoire ne se trouverait point surchargée d'abord par des faits et des noms barbares, et rebutée d'avance sur ceux qu'il leur importe le plus de savoir; ils n'apprendraient pas les noms de Dagobert et de Chilpéric avant ceux de Henri IV. et de Louis XIV." Nicht genug an dieser philo= sophischen Begründung der rückschreitenden Methode, hat schon d'Alembert gefühlt, daß mit ihrer Verwendung der Geschichtsunterricht aufhört, ein bloßer Gegenstand trockener Belehrung zu sein, um sich zu einem der wichtigsten Erziehungselemente emporzuschwingen - gerade wie es heut Kaiser Wilhelm II. vorschwebt.,,Mais pourquoi", fährt nämlich d'Alembert fort, „pourquoi bornerait-on l'étude de l'Histoire à n'être pour les enfants qu'un exercice de mémoire? Pourquoi n'en ferait-on pas le meilleur catéchisme de morale qu'on pût leur donner, en réunissant sous leurs yeux dans un même livre les actions et les paroles mémorables?" Auch der litteraturgeschichtliche Unterricht wird uns erst dann alles geben, was er zu bieten vermag, wenn dem Schüler die Dichter nicht nur als Schöpfer ihrer Werke, sondern als Menschen von phänomenaler Geistesrichtung und ungewöhnlichem Bildungsgang vertraut werden. Und wie ließe sich wahres Verständnis sicherer erreichen als durch unmittelbare Anknüpfung an das Nächstliegende, an die Ideen und Geistesströmungen der Gegenwart?!

Wenn übrigens d'Alembert meinte, der Entdecker der rückschreitenden Methode zu sein, war er ohne ausreichende Kenntnis von der Entwicklung der Pädagogik in den germanischen Ländern. Wen wird es selbst heute nicht überraschen, den übel beleumundeten,,Krebsgang" im Jahre 1724 als eine in Deutschland längst bekannte und geschätzte Methode bezeichnen zu hören?! Der ostpreußische Gelehrte Michael Lilienthal) belegt

1) Vergl.,,Geschichte rückwärts?" S. 21 flg.

2) Lilienthal war damals Diakonus bei der Altstädtischen Gemeinde in Königsberg. Schriftstellerisch hat er namentlich das theologische Gebiet und die Geschichte seines engeren Vaterlandes behandelt.

diese Thatsache zur Einführung seiner Zeitschrift,,Erläutertes Preußen" vollkommen unzweideutig: „Es haben die Methodisten", berichtet er wörtlich,,,längstens nicht ohne Grund geraten, daß man in Lesung der Historie von der neueren den Anfang machen und immer höher hinauf zur älteren Historie steigen solle; weilen, wie in allen Wissenschaften, also auch hierin, der progressus a notioribus ad ignotiora die Sache leichter und angenehmer machet. Nun ist ja wohl nichts bekannter, nichts ist mehr im Munde der Leute, mit denen wir täglich konversieren, als die Geschichte des Vaterlandes, welche überdem ihren starken Influxum in die publique Affairen des Vaterlandes hat. So sollten wir uns demnach um dieselbe vor allen Dingen zuerst bekümmern, ehe wir uns an die Historie fremder und entlegener Länder machten." Das Gleiche gilt vom litterarischen und geistigen Leben überhaupt.

So gelangen wir hier selbst durch rückschreitende Betrachtung immer näher zum Ursprung der Methode. Graben wir nämlich ihren Wurzeln weiter nach, so finden wir in den deutschen Pädagogen des siebzehnten Jahrhunderts mancherlei Hindeutung auf diesen Weg und jedenfalls fast allgemein die Forderung, daß im Unterricht vom Bekannten ausgegangen und allmählich zum Unbekannten übergeleitet werde. Insbesondere Comenius hat in seinen Lehrgebäuden wiederholt angemerkt, daß sich der geschichtliche Sinn des Kindes an der unmittelbaren Gegenwart und nächsten Vergangenheit aufs natürlichste ausbilde. Die Chronologie, meint er, beginnen die Kinder mit Unterscheiden von Tag und Nacht, Stunde, Woche, Feiertag; die Geschichte mit dem, was ihnen selbst gestern und vorgestern geschehen; die Politik mit Kenntnis des Hausregiments. Nach dieser Vorbereitung will Comenius allerdings den Kindern eine ganz allgemeine Geschichtskenntnis vermitteln, nämlich der Schöpfung, des Falles und der Wiederherstellung der Menschen, einige Kosmographie und Kenntnis der Gewerbe und Künste. Für seine Schola pansophica fordert Comenius aber sogar in jeder Woche eine Stunde zum Vorlesen von Zeitungen, um so die Geschichte der Gegenwart und Geographie erlernen zu lassen.

Verwandten Prinzipien begegnen wir namentlich auch bei Locke: wenigstens sind die psychologischen Vorausseßungen für ein Ausgehen vom Nächstliegenden in seinen pädagogischen Lehren unverkennbar. Spielend, im eigentlichen Sinne des Wortes, sollen die Kinder lernen, sodaß der Unterricht in bestimmten Gegenständen zur Erholung wird. Die Geschichte will er wenigstens zunächst durch Lesen der lateinischen Klassiker gelehrt wissen. Dazu aber verlangt schon Locke eine intimere Kenntnis der vaterländischen Geschichte, um den Schüler zu belehren, wie die einzelnen Geseze und Institutionen entstanden sind und welche

Bedeutung fie für die Gegenwart haben. Das wäre immerhin ein anschaulicher und auf die Gegenwart zugespizter Geschichtsunterricht, aber allerdings kein direkt rückschreitender Weg.

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Wer die Methode zuerst klar formuliert hat, ist noch nicht festgestellt. Eine vorschreitende Verfolgung derselben durch die Jahrhunderte würde so von vornherein in der Luft oder doch auf schwankendem Boden ruhen, und es zeigt sich durch unser Beispiel selbst, wie die rückschreitende Geschichtsbetrachtung den eigenlich natürlichen Weg sowohl für den Unterricht wie für die Forschung -wenn auch natürlich nicht für die systematische Darstellung! — bildet. Der natürliche Weg alles Forschens und Lernens ist es, von den nächsten Erscheinungen zu den Quellen zurückzusteigen: geschichtlich klassifiziert heißt eine Idee, heißt eine Dichtung, wenn wir sie schrittweise immer weiter zurückverfolgen, ihren Ursprung oder ihre Urquelle schrittweise immer weiter rückwärts datieren, immer frühere Belege gleicher Richtung sammeln. Wie unsere Untersuchung für die Methode eine Reihe von Zeugnissen sammelte, die was ihren Wert wesentlich erhöht - unabhängig von einander dastehen, ohne daß wir doch mit Bestimmtheit das erste Verlauten von einem rückwärts gewandten Wege in den geschichtlichen Unterrichtsfächern bezeichnen können: so schweben Tausende von geschichtlichen Ideen durch die Jahrhunderte, ohne daß sich ein anderer fester Ausgangspunkt für deren Betrachtung als die Gegenwart, als ihr Dasein böte. Sie sind da sie waren schon früher - und noch früher und dann finden wir sie oder ihre Vorläufer noch immer früher aber wie oft fehlt die letzte Antwort auf die Frage nach dem Ursprung! Und ist es mit der geschichtlichen Gesamtbetrachtung etwa anders? Wo bietet sich ein wahrer Anfang? Je weiter wir zurückblicken, desto dichter wird der Nebel. Klar vor uns aber liegt die Gegenwart: in unserer eigenen Brust ruht der Ausgangspunkt des Fadens, den wir rückwärts durch die Zeiten schlingen.

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Weites Ausholen im Lehrvortrag gilt längst als ein Zeichen von Unbeholfenheit; ein Redner, der seine Hörer zu packen weiß, knüpft stets an ihr unmittelbares Interesse und Verständnis an. Schon Gottsched1) kannte eine Anekdote, welche die abschreckende Wirkung weithergeholter historischer Exempel glücklich veranschaulicht: „Ein gewisser König in Frankreich that sehr wohl, daß er einem Redner, der ihm, als er eben im Begriff war, zur Tafel zu gehen, Glück wünschen wollte, und den Anfang seiner Rede so machte: Als vormals Alexander der Große Asien zu bekriegen auszog dergestalt ins Wort fiel: Mein Freund,

1) Vergl. Ausführliche Redekunst (1736) S. 143.

als Alexander Asien bekriegte, so hatte er sich zuvor satt gegessen; ich aber bin noch hungrig und will ein Gleiches thun, ehe ich euch hören kann." Und doch hatte es der ärmste Redner so gut gemeint: denn offenbar wollte er seinen König mit Alexander dem Großen in irgend einen Vergleich, in irgend eine Beziehung stellen. Hätte er mit den Thaten seines Königs selbst begonnen, um ihn alsdann durch den Vergleich mit Alexander zu ehren, es gälte die Wette, ob der Herrscher nicht geschmeichelt ihm Gehör geschenkt hätte. Das Ausgehen von Alexander ließ ihn aber wohl mit Recht fürchten, er müßte erst die halbe Weltgeschichte über sich ergehen lassen, ehe er an die Reihe käme. Zur Warnung aller Feinde einer in der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit fußenden Geschichtsbetrachtung sei es gesagt!

Das verbum substantivum im Germanischen.
Von F. Kunze in Karlsruhe.

Die Geschichte des verbum substantivum in seiner Verbreitung über das Gebiet der germanischen Sprachen liegt in ihren Hauptzügen deutlich vor, und wenn über einzelne wesentliche wie unwesentliche Punkte noch Meinungsverschiedenheiten bestehen, so sind sie von der Art, daß sie voraussichtlich nicht so bald verschwinden werden. Anderseits find die Arbeiten, in denen die hier in Betracht kommenden Fragen behandelt werden, weit zerstreut und vielfach in Zeitschriften veröffentlicht, die nicht jedermann zugänglich sind. Ja selbst die Grundrisse von Paul und Brugmann, in denen übrigens mehr Winke und Fingerzeige als ausführliche Nachweise enthalten sind, dürften nicht immer und nicht jedem zur Hand sein. Darum soll hier der Versuch gemacht werden, das zerstreute Material zusammenzufassen und einen Überblick über die Geschichte des verbum substantivum im Germanischen zu geben, wobei zweierlei vorauszuschicken ist: einmal, daß die außerdeutschen Sprachen mehr zur Vergleichung und Vervollständigung des Bildes als zu erschöpfender Behandlung herangezogen sind, sodann, daß der Natur der Sache gemäß manche Dinge zur Sprache kommen müssen, die jedermann bekannt und geläufig find.

So ist es ja allgemein bekannt, daß die zahlreichen und mannigfaltigen Bildungen, in denen die verschiedenen Modalitäten des Seins innerhalb der germanischen Sprachen ausgedrückt werden, auf drei Wurzeln zurückzuführen sind, von denen sich die erste als es, die zweite als bheu, die dritte als wes in der Ursprache darstellt. Was die erste derselben eigentlich bedeutet, ist ungewiß. Von einigen ist „fißen“, von

andern, wie z. B. von Curtius,,atmen" als die sinnliche Grundbedeutung angenommen worden. Dagegen weiß ein jeder, daß die Wurzel bheu, die wir im Griechischen als pv, im Lateinischen als fu ziemlich unverändert wiederfinden, eigentlich ein Wachsen oder Werden bezeichnet, und auch die konkrete Bedeutung der Wurzel wes ist leicht zu ermitteln: fie drückt ein Bleiben oder Verweilen aus, eine Bedeutung, die dem daraus entsprossenen Zeitwort wesen noch lange geblieben ist, bis sie sich später zu der Bezeichnung eines bloßen Seins verflüchtigte.

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Überschauen wir die Summe der Formen, die aus dem erstgenannten dieser drei Urtypen entsprossen sind, so ist es klar, daß von allen jezt noch lebenden hierher gehörigen Bildungen die der dritten Person sing. praes. den Zusammenhang mit ihrem Ursprunge, wenn nicht am treusten, denn darin kommt ihr das sind der dritten Pluralis gleich - so doch im weitesten Umfange bewahrt hat. Von der nicht mehr vorhandenen, aber leicht erschließbaren indogermanischen Grundform es-ti unterscheidet sich das gemeindeutsche ist nur durch den Übergang des wurzelhaften e zu i, der unter dem Einflusse des in der Flexionssilbe angehörigen i schon im Urgermanischen nach bestimmtem Lautgesetz erfolgen mußte1), zweitens durch den Abfall eben dieses i, der ebenfalls durch die germanischen Lautgesete bedingt war.) Wenn nun dieses ist die der Schriftsprache ausschließlich zukommende Form bis auf die Gegenwart geblieben ist, so hat sie sich doch in den Mundarten noch weiter entwickelt. Bekanntlich vergröbert sich das st im AllemannischSchwäbischen und in den angrenzenden Distrikten des Fränkischen zu scht, sodaß hier das schriftdeutsche ist wie ischt erklingt, das dann bei tonschwacher Anwendung auch sein t verliert, ja in vielen Fällen zu einem flüchtigen 'sch, wie z. B. 'sch aber a wohr, oder wo'sch der Karl zusammenschrumpft. Im übrigen Deutschland aber, zumal im niederdeutschen Norden, aber auch im Bayrisch-Österreichischen be= gnügt sich die Umgangssprache mit einem is, welches ebenfalls weiterer Reduktion zu enklitischen oder proklitischen 's ausgesetzt ist. Dabei ist jedoch zu beachten, daß diese Veränderung, soweit sie innerhalb des niederdeutschen Sprachgebietes wahrnehmbar ist, anders zu beurteilen ist als der anscheinend gleichartige Vorgang in den oberdeutschen Mundarten. Denn während hier die schwache Form is – isch offenbar eine Neubildung ist, die allerdings bis in das Mittelalter zurückreichen mag3), ist

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1) Brugmann, Grundriß der vergl. Gramm., I, § 67,3.

2) Brugmann Gr. I, § 660 u. 61.

3) Aber doch wohl nicht bis Otfrid, wie Weinhold (Bayr. Gramm. S. 298) meint. Wenigstens schreibt Piper Otfr. I, 20,12 anstatt des von Weinhold angeführten nis nist.

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