Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Elftes Buch.

Staatenleben und Völkerkämpfe.

I. Das neue Rußzland.

Der Krieg ist ein strenger Lehrmeister, gleich streng gegen Sieger und Besiegte, am Meisten belehrend aber für die letteren. Mit der Lehrkraft eines verlorenen Krieges ist im Grunde gar nichts zu vergleichen, sie wirkt dort, wo nichts Anderes mehr verfangen will, durch das unvergeßliche Schauspiel, welches der jähe Zusammenbruch eines ganzen Götterhimmels von Scheinwerthen und Tagesgößen, von Wahnvorstellungen und Trugbildern des Dünkels und der Denkträgheit gewährt. Solch' eine Schule hat den Völkern Rußlands der Krimkrieg aufgethan. Das Erwachen der Russen aus dem Schlaftaumel knechtischer Weltvergessenheit und das Sichtbarwerden der großen Krankheit, an der ihr gesammtes Staats- und Gesellschaftsleben litt,

das war die unverwischbare Folge eines Krieges, der begonnen hatte mit einem ruchlosen Friedensbruch und geendet hatte mit einem Einsturz ohne Gleichen. Während des Krimkrieges war in der Lesewelt Rußlands ein Schrifttum von Flugblättern entstanden, ähnlich demjenigen, das im alten Frankreich vor 1789 in den Salons von Hand zu Hand gegangen war: ungedruckte Brandschriften ohne Namen, in denen Alles gesagt war, was die Presse nicht sagen durfte und in den Kreisen der Gebildeten nur geflüstert ward; wilde Naturlaute beleidigten nationalen Stolzes und empörten Rechtsgefühls; leidenschaftliche Verdammungen alles Dessen, was den Massen noch heilig war, wie des Aberglaubens, der es noch heilig hielt. „Erwache, Rußland," hieß es in einer dieser Flugschriften aus unbekannter Feder, „verschlungen von äußeren Feinden, zu Grunde gerichtet durch Sklaverei, schmählich unterdrückt durch die Dummheit der Tschinowniks (Beamten) und durch die Spione, erwache aus dem langen Schlaf deiner Unwissenheit und Gleich

Onden, Zeitalter Kaiser Wilhelms. II.

49

giltigkeit! Lange genug haben uns die Nachfolger der Tataren-Chane in Knechtschaft erhalten. Erhebe dich, richte dich ruhig vor dem Throne des Zwingherrschers auf, verlange Rechenschaft von ihm für das Unheil des Landes. Czar! Du hast die Wahrheit begraben, hast vor die Thür ihres Grabgewölbes einen schweren Stein gewälzt und hast gesagt in der Trunkenheit deines Herzens: „Für sie giebt es keine Auferstehung". Aber am dritten Tage hat die Wahrheit sich erhoben, ist auferstanden von den Todten. Auf, Czar! Erscheine vor dem Richterstuhle Gottes und der Geschichte! Ohne Gnade hast du die Wahrheit unter die Füße getreten! Du hast die Freiheit verweigert und warst selbst Sklave deiner Leidenschaften. Durch deinen Dünkel und deinen Starrsinn hast du Rußland erschöpft, die Welt gegen Rußland in Waffen gerufen. Demüthige dich vor deinen Brüdern. Beuge deine stolze Stirn in den Staub. Bitte um Verzeihung, verlange Rath. Wirf dich in die Arme deines Volkes. Es giebt kein anderes Heil für dich." 1) „Wir Russen schliefen," ließ eine andere Stimme sich vernehmen. „Seufzend zahlte der Bauer seine jährlichen Abgaben; seufzend verpfändete der Gutsherr die zweite Hälfte seines Landes; seufzend zahlten wir alle den Beamten unseren hohen Tribut. Zuweilen bemerkten wir mit ernsthaftem Kopfschütteln, flüsternd, daß es eine Schmach und eine Schande wäre daß es keine Gerechtigkeit bei den Gerichten gäbe daß Millionen verschwendet würden für kaiserliche Reisen, Kiosks und Pavillons daß Alles abwärts gehe, und dann seßten wir uns leichten Herzens zu unserem Robber nieder, priesen die Rachel, bemängelten den Gesang der Frezzolini, bückten uns tief vor käuflichen Magnaten und zankten mit einander um Beförderung in demselben Dienste, den wir so streng verurtheilten. Bei Alledem hatten wir wenigstens einen Trost, einen Stolz die Machtstellung Rußlands im Rath der Könige. Was kümmern uns die Vorwürfe fremder Völker! sagten wir. Wir sind stärker als die, die uns schelten. Und wenn bei großen Revuen die stattlichen Regimenter mit wallenden Fahnen, glänzenden Helmen und blizenden Bajoneten vorbeimarschirten, wenn wir das laute Hurrah hörten, mit dem die Truppen den Kaiser grüßten, dann schwollen unsere Herzen von patriotischem Stolz und wir waren geneigt, uns die Worte des Dichters zu wiederholen: Stark ist unser Heimathland und groß der Ruffen Czar! Und sieh, nach all' unserem Prahlen wurden wir überrumpelt, wie durch einen Dieb in der Nacht. Der Schlaf angeborener Dummheit machte unsere Gesandten blind und unser Minister des Auswärtigen verkaufte uns an unsere Feinde. waren die Millionen unserer Soldaten? Wo war der wohlerwogene Vertheidigungsplan? Ein Curier brachte den Befehl, vorwärts zu gehen, ein anderer den, zurückzumarschiren, und die Armee wanderte ohne Zweck und Ziel umher. Mit Verlust und Schande zogen wir uns aus den Vorwerken von Silistria zurück und der Stolz Rußlands wurde von dem Adler Habsburgs

1) Rambaud, Histoire de la Russie. Deutsch von Steineck. Berlin 1886. S. 737/38.

[graphic][merged small]

Nach dem Schabkunstblatt von Alexander Sirdeniers (1795-1846); Originalgemälde von Krüger.

[graphic]

Alexandra Feodorowna, Kaiserin von Rußland (Gemahlin Nikolaus I.). Nach dem Schabkunstblatt von N. Desmadryl; Originalgemälde von Frau J. Robertson.

« ZurückWeiter »