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Vierter Abschnitt.

Das Nationalitätsprincip und die Richtung der Zeit.

Dem zweiten Empire in Frankreich, das seinen Ehrgeiz in einer Idee wurzeln zu lassen verstand, war es vorbehalten gewesen, aus der theoretisch erkannten Aufgabe der europäischen Geschichte ein politisches Programm zu machen. Als K. Napoleon im J. 1859 dieses zu verwirklichen unternahm, zeigte sich ihm ganz Europa aufsätzig, wie wenn er sich anschicke, einen vollkommenen Zustand zu zerstören. Eine Art von bleierner Schwere machte damals z. B. die Deutschen noch zu Complicen der Unabhängigkeit partikularistischer Existenzen, wie der Kleinstaaten Modena, Parma, Toskana, Kirchenstaat u. s. w. Die Politik des englischen Cabinets, deren höchstes Motiv stets der materielle Vortheil Englands war, war um dieses Umstandes willen der napoleonischen Politik günstig ; aber das Verdienst, in Italien der Bestimmung der europäischen Geschichte gedient zu haben, konnte nur Napoleon und seinem Cabinet zuerkannt werden. Die Politik des Ministeriums Bismarck, welche die unitarische Bewegung in Deutschland plante, war eine zusammengesetzte; sie war durch die Nothwehr gegen Oesterreich und durch eine an das Beispiel Englands erinnernde Rücksicht auf den Vortheil Preussens motivirt. Napoleon hatte, als er früher in Baden-Baden Preussen wegen seiner Aufgabe in Deutschland seine Mitwirkung angeboten hatte, dies als der Staatsmann gethan, der Europa durch die Nationen zu dienen den Ehrgeiz hatte. Es liegt für den Ruhm eines Staatsmannes ein grosser Anspruch darin, dass er einem höheren Ganzen, der Katholicität der europäischen Interessen, gegen die Ansprüche der Katholicität oder Vormundschaft der Curie im Sinne einer altfränkischen Vergangenheit, dienen will. Das Gegentheil war die Ursache, welche die Verwicklungen des Sommers 1870 erzeugte und die das Kaiserreich und durch dieses zugleich Frankreich, weil dieses es durch die Fortsetzung des Krieges nach der Niederlage der zweiten kaiserlichen Armee bei Sedan so wollte, von seiner bis dahin behaupteten Höhe verdrängte. Was konnte Anderes, als der Verrath des Kaiserreichs durch die Ansprüche der Curie, denen die Hofpartei diente, die Folge sein? Aber die Sache Italiens war ausgemacht, und die deutsche Einigung wurde vollzogen und dadurch das Vertrauen, welches Preussen dem Leiter seiner Politik

bewahrt hatte, nachhaltig belohnt. Die Angriffe, denn die Curie, die, weil sie selbst Auctorität war, stets eines persönlichen Widerparts bedurft hatte, substituirte der Agitation gegen Napoleon die Agitation gegen Bismarck, erneuerten den Gegensatz der Katholicität gegen die Particularität. Der kluge Rücktritt des deutschen Reichskanzlers von der Leitung des specifisch-preussischen Ministeriums sicherte, weil er die preussische Politik der Kirchengesetze zu einem wenig angreifbaren Objekte machte und die Angriffe dagegen abstumpfte, den Gang der deutschen Politik im Ganzen und Grossen als einer nationalen Interessenvertretung gegen den gemeinsamen Feind des nationalen Interesses der europäischen Staaten und des Begriffs vom Wesen des modernen Staates überhaupt.

Durch die italienische Politik Napoleons, wie sie nach den Friedensverhandlungen zu Zürich zur Richtschnur gedient hatte, hatte der Macchiavellismus sein letztes Wort in dieser Zeit gesprochen. Alles für Italien! war die Losung des Florentiners gewesen, als er nach kurzer Beschäftigung im Secretariat des Rathes der Zehn in Florenz durch die Rückkehr der Medici (1512) amtlos geworden war. Er war damals noch Politiker der That, hatte noch nicht den Principe, noch die Discorsi geschrieben; aber er hatte seinem Freunde1), dem florentinischen Gesandten in Rom, seine Auseinandersetzungen über die politische Situation Italiens in einer Denkschrift mitgetheilt und den Rath gegeben, dass der Papst an die Spitze aller italienischen Staaten sich stellen, und die Interessen der Völker Italiens im europäischen Fürstenrathe vertreten müsse. War das nicht der Grundgedanke, den die berühmte Brochüre : Napoleon III. et l'Italie (1858) aussprach, das nicht die letzte Absicht, die die Verhandlungen in Zürich (1859) leitete? Die Italiener des neunzehnten Jahrhunderts waren durch die Erfahrungen, die eine dreihundertjährige Vergangenheit gegeben hatte, genug aufgeklärt, und sahen lieber sich von Sardinien annectirt, als eine von einem Priester präsidirte Conföderation entstehen. Der Wille der Italiener führte die Piemontesen in die Emilia, nach Sicilien und Neapel und durch die päpstlichen Marken. Das Bündniss mit Preussen half dem geeinigten Italien, um die Oesterreicher aus Venetien zu vertreiben. Der Untergang des französischen Kaiserthums führte die Italiener nach Rom. Ganz verschiedenartige Wege, die aber alle nach Rom führten, ganz entgegengesetzt dem Stand

1) Vettori.

punkte zu Zeiten der Mediceer, als man von dem Heile träumte, das entweder direkt von Rom, oder doch durch seine Unterstützung über Italien ausgebreitet werden sollte.

Da die Auctorität des Florentiners durch seine eigenen Landsleute als unpraktisch für sie befunden worden war, konnte die Politik Preussens vollends nicht aus diesem Geiste mehr sich inspiriren. Sie musste bei der Verfolgung der Aufgabe, die sie sich in Deutschland nach den Mitteln ihrer Macht zutraute, sich auf die geistigen Hülfsquellen, über die Bismarck verfügte, verlassen. Fest gegründet im Vertrauen bei den conservativen Elementen, nicht wählerisch gegen den Nutzen, den die liberalen Elemente versprachen, durchgreifend mit den der Macht gebührenden Ansprüchen, dilatorisch beschwichtigend bei Anlässen, die Preussens patriotische Reputation gefährdeten, wandelte er, stetig fortschreitend, die preussische Politik in eine deutsche um, sich selbst Rathgeber und Helfer.

Wie die Politik, welche Italiener und Deutsche als geeinigte Nationen in die Geschichte einführte, so wird auch die Geschichte dieser Epoche, welcher die Abrechnung mit den ihre Constituirung bekämpfenden radicalen Parteien, die ihre Befehle aus an kein Vaterland gebundenen Centren empfangen, vorbehalten ist, neues Material der Zukunft der Wissenschaft von der Geschichte zuführen. Möge es kein Vorgreifen genannt werden, wenn dem folgenden Abschnitt die Aufgabe zugedacht wird, in einigen Sätzen die Ergebnisse auszudrücken, welche sich als wiederkehrende Wahrnehmungen aufdrängen. Der Sinn der Geschichte Europa's erschöpft sich nicht in einer durch Zergliederung derselben gewonnenen Uebersicht über die durchgreifenden Resultate innerhalb derselben. Die Summe der letzteren ist noch gross genug, dass die wesentliche Uebereinstimmung Vieler bei aller formellen Verschiedenheit die Aufstellung sogenannter Grunderscheinungen wünschenswerth macht.

Fünfter Abschnitt.

Ergebnisse und Vorbehalt.

Wenn das Verfahren, Beobachtungen zu verallgemeinern, das erschöpfende Mittel wäre, zu Gesetzen, wie sie die Geschichte regieren sollen, zu gelangen, so möchte der Gewinn der psychologischen Erforschung der letzteren wenig zuverlässig sein. Niemand

dürfte z. B. aus der Thatsache, dass die Sonne bisher alle Tage aufging, den allgemeinen Schluss ziehen können, dass sie auch fortan alle Tage aufgehen werde, wenn nicht durch die Astronomie sich diese Nothwendigkeit darthun liesse.

Jede blose Verallgemeinerung bleibt eine empirische Beobachtung, und gelangt erst zur Geltung eines wissenschaftlichen Gesetzes theoretisch im Einklang mit anderen Gesetzen. Darum werden die Ergebnisse, die der gegenwärtige Abschnitt aufstellt, Gesetze nur bedingungsweise sein, weil die Erforschung der Geschichte Europa's bisher hauptsächlich auf der Betrachtung des Antheils der Nationen beruhte. Man könnte uns nämlich bestreiten, dass diese allgemeinen Ergebnisse mit Recht gezogen werden, weil sie ohne Befragung des Antheils, den die Führer der Nationen an ihrer Geschichte gehabt haben, gezogen werden. Es bleibt daher noch offene Frage, ob die ganze Erkenntniss in der Erkenntniss des Antheils der Nationen liege?

Dieser Vorbehalt wird genügen, um die Ergebnisse gegen den Einwand zu decken, dass sie Ansprüchen dienen, für die noch die letzten Beweise erbracht werden müssten, oder was das Gleiche sagt, dass wir vermöge psychologischer Forschung schon mit diesen die Aufgabe erfüllt haben.

Das Einzige, was von vornherein mit Zuversicht behauptet werden darf, ist die Aussicht, dass die abstrakte Ableitung des Gesetzes, wie sie der erste Band erzielte, sich in einer concreteren Fassung nunmehr prüfen lässt. Die Einzelkräfte, die in dem concurrirenden Process der Entwicklung sich durch die Sprache bezeugen, treten an die Stelle des unbestimmten Ausdrucks Macht.

Die Macht, die in dem sprachlich vermittelten Wissen sich offenbart, ist entweder nach Aussen gerichtet, oder sie arbeitet innerhalb der Nation. Beide Seiten sind nie gleichzeitig in ihrem Zenith, wohl stehen sie im Verhältniss der Succession. Jede Kraftentfaltung bedarf der Vorbereitung und erzeugt das Bedürfniss des Ausruhens, womit sich die Zeit der Vorbereitung begegnet. Bleibt diese Begegnung continuirlich regulirt, so wird die Macht erhalten. Wird mehr geruht nach einer durch Production zugeführten Stärkung der Macht als vorbereitet, so wird die Macht geschädigt; wird weniger geruht, so wird die Macht gesteigert, aber auch die Quelle der Kraft mehr angestrengt, die Entwicklung mehr überhastet, wie die Dauer der Fähigkeit, Kraft zuzuführen, abgekürzt.

Die Thätigkeit nach Aussen ist eine andere als die innerhalb der Nation. Die Verfolgung der staatlichen Interessen und die Verfolgung der Bildungsinteressen sind dem longitudinalen Wechsel derart unterworfen, dass die geistige Höhe einer Nation nie auch zugleich die politische Stärke derselben ist. Wenn eine Nation geistig hervorragt, ist ihre politische Bedeutung nach Aussen untergeordnet, und umgekehrt, so dass sich geistige Bedeutung und politische succediren. Das Gesetz, welches sich hierin ausdrückt, geht auf die Grundfaktoren im Einzelwesen zurück. Intellekt und Wille sind nicht simultan, sondern successiv gleich stark, sie verstärken sich nicht, sie kehren wieder.

Möge die angedeutete Erscheinung noch durch Beispiele erläutert werden, wenngleich sie schon die verschwiegene Voraussetzung der Ableitung dieses Gesetzes sind! Die Deutschen stehen mit den Erfahrungen der Zeit seit den Wiener Verträgen dafür ein, dass es zwar das Zeitalter der Philosophie, aber auch die Zeit der politischen Ohnmacht war, dass diese nicht durch jene verhütet wurde. Weiter zurück die Franzosen: das Zeitalter der Encyclopädisten war zugleich das Jahrhundert der politischen Ohnmacht Frankreichs. Noch weiter zurück: Das Zeitalter Ludwigs XIV. ragte bis zum Tode Colberts (1672) und Molière's (1673) geistig hervor, und trat erst in der folgenden Generation politisch in den Vordergrund. In England zeigt die Zeit der Baco von Verulam und Hobbes, der von Clarendon und Milton, d. h. das XVII. Jahrh. bis zur „Revolution" Bedeutungslosigkeit nach Aussen. Endlich das Papstthum: das geistig bedeutende Zeitalter Leo's X. zeigte die Macht der Päpste nach Aussen gelähmt; das Inventar legt evident Zeugniss dafür ab.

Man könnte mit viel mehr Recht als Cousin auf die grossen Männer, auf diese Wiederkehr der Fortschritte auf geistigem bzw. politischem Gebiete wie auf eine Quelle der Geschichtserklärung hinweisen.1)

Diese Wiederkehr in der biographischen Entwicklung wird zum Wechselverhältniss in der transversalen oder solidarischen (internationalen) der gegebenen Epoche in der Geschichte Europa's. Diese erkannten Thatsachen, beide auf einander angesehen, haben den Werth einer regulirenden Bestimmung. In ihr liegt das Geheimniss, warum eine Nation, wie viel sie auch leistet, ihren erlangten

1) Vgl. Aristoteles I. S. 66.

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