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Wunderlich sagt, daß die Grammatiker für sie dieselbe Kongruenz in Anspruch nähmen wie für das Adjektiv." So könnte ich noch in manchem andern Punkte meine abweichende Meinung begründen. Diese geringe Zahl anfechtbarer Ergebnisse kommt aber gar nicht in Betracht gegen die Fülle des Wahren und Guten, die in Wunderlichs Buch enthalten ist. Ich erinnere nur an die hübsche Darlegung der Entwickelung der partizipialen Formen: Ich habe hören wollen, ich habe das sagen hören, ich habe das kommen sehen, er hat das schreiben lassen u.s. w., die keineswegs bloß schlechthin als Assimilationen an den voraufgehenden Infinitiv zu erklären sind, wie das seit Erdmann Mode geworden ist und wie es auch Merkes in seiner oben besprochenen Schrift im Anschluß an Erdmann lang und breit ausführt, sondern von Wunderlich S. 53 flg. mit Recht als alte Partizipien ohne ge angesehen werden, deren Form zufällig mit dem Infinitiv übereinstimmte, weshalb man dann bei anderen Verben in falscher Analogiebildung einfach den Infinitiv einseßte. Bei sehen, lassen, heißen kam diese merkwürdige Perfektumschreibung zuerst vor: Ich habe das kommen sehen (statt des spätern Partizips: gesehen), ich habe dich rufen lassen (statt des spätern Partizips: gelassen), wer hat dich das thun heißen? (statt geheißen). Erst von diesen ganz gebräuchlichen Wendungen übertrug man das auf können, dürfen, sollen, wollen u. s. w., z. B. Ich habe das nicht erlangen können u. s. w. Dabei hat dann die Assimilation an den vorhergehenden Infinitiv wohl mitgewirkt; sie kam aber doch erst in zweiter Linie in Betracht. So könnte ich noch zahlreiche, gleich geistvolle und vortreffliche Darlegungen Wunderlichs anführen. Das Gesagte wird jedoch genügen, um zu zeigen, mit welch wertvollem Hilfsmittel für deutsche Grammatik und deutschen Unterricht wir es hier zu thun haben. Kein Lehrer des Deutschen darf Wunderlichs vorzügliches Werk unbeachtet lassen. Für eine gründliche wissenschaftliche Ausgestaltung des deutschen Unterrichts ist es einfach unentbehrlich.

Höchst fesselnd ist auch das andere oben angeführte Buch Wunderlichs über unsere Umgangssprache. Wunderlich untersucht darin die Umgangssprache, wie wir sie täglich gebrauchen und wie sie namentlich in den Schriften Gerhard Hauptmanns, Sudermanns, Hebels, Halbes, Anzengrubers u. a. Verwendung gefunden hat. Das Buch wird dadurch zugleich eine Untersuchung über den Stil der realistischen Dichterschule. Nach einer vortrefflichen Auseinandersetzung über Rede und Schrift, Auge und Ohr, geschriebene Sprache und gesprochene Rede, in der er das Wesen der Umgangssprache darein seßt, daß sie lebendige Rede ist, sich an kleine Verkehrskreise wendet, sich deshalb auch bequeme und nachlässigere Toilette erlaubt und ihren hauptsächlichen Charakterzug durch

das lose, lockere Gefüge und die ungemeine Beweglichkeit der Wort- und Sazwerte erhält, legt er die Grundverschiedenheit der Umgangssprache von der Schriftsprache dar, indem er die Eröffnungsformen des Gesprächs, den sparsamen und verschwenderischen Zug unserer Umgangssprache, den Tauschwert unserer Formen und Formeln, sowie die Altertümlichkeit der Prägung aufs eingehendste darlegt. Wir haben selten etwas so Fesselndes auf sprachwissenschaftlichem Gebiete gelesen wie diese hervorragenden Ausführungen Wunderlichs. Das Wesen der lebendigen Rede wird hier zum ersten Male in ihrem Unterschiede von der Schriftsprache in klare Beleuchtung gestellt. Wir wünschen, daß dieses wirklich lebendige Buch in die weitesten Kreise dringe und überall reiche Belehrung spende. Das sind die Wege, welche die neuhochdeutsche Sprachforschung wandeln muß, wenn wir zu einer wirklichen Erkenntnis unserer herrlichen Muttersprache und ihrer Geseze vordringen wollen.

Dresden.

Otto Lyon.

R. Wossidlo, Das Naturleben im Munde des Mecklenburger Volkes. Zweiter Teil. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 4. Heft. 1895. S. 424-448.

Für den zweiten Teil hat der Verfasser außer den im ersten erwähnten Mitarbeitern noch Mitteilungen anderer benußt, die mit „, Wind" und Wasser" besonders gut Bescheid wissen. Der mythologische Gehalt vieler Ausdrücke, namentlich über Wolkenbildung, ist klar erkennbar, doch hat der Verfasser alle Hinweise unterlassen. Dieser zweite Teil behandelt in sechs Abteilungen die Sonne, den Mond, die Sterne, die Wolken, den Wind und das Wasser. Niederdeutsch: sünn wird mehrfach als Maskulinum gebraucht, ebenso: man, mand als Femininum. Das letztere geht besonders daraus hervor, daß der Niederdeutsche, wenn er hochdeutsche Lieder singt, in dem bekannten Liede vom Ritter und seiner Geliebten sagt: [Sie trafen sich in der Laube]:,,Wenn die Mond am Himmel stand." Meistens ist allerdings „Sünn" Femininum. So sagen z. B. die Schiffer: „De sünn sitt uppe kimm (Horizont); wenn se in'n letzten is, seggen wi, nu geiht se uppe kimming dal." Sehr hübsch heißt es vom Sonnenuntergang in niederdeutschen Versen:

,Wenn de sünn so tickert,
Wenn de sünn so mickert,
Wenn se up'n gläden steiht,
Denn se bald ünnergeiht."

Wenn am Abend die Wolken neben der Sonne goldige Ränder zeigen, sagt man hie und da: „Dat sünd de sünn ehr taschendök, dor wischt se sik den sweit mit af." Zahlreich sind die Ausdrücke für Beitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 12. Heft.

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Dämmerung und Dunkelheit: „dat aukert all, dat ward all aukerig,
dat wir stockendig düster, stockenstirndüster, stickbalkendüster, picken-
rabenswarte nacht." Wenn die Sonne zwischen Wolken untergeht, so sagt
man: „De sünn kickt dörch de luk." Wenn bei starkem Wassergehalt der
Atmosphäre die breiten Strahlen auf die Erde fallen, so vergleicht der Nieder-
deutsche diese Strahlen mit Stüßen, die die Sonnenscheibe halten: „De sünn
steiht up stütten." Der Mond giebt auch im Munde des mecklenburger
Landvolkes zu zahlreichen Bildern Veranlassung. Er heißt auch „de
Wesenbarger sünn, de Stirnbarger sünn", bei den Schiffern,,de Swedsche
sünn", in Hamburg und Holstein,,de Meckelborger sünn". Besonders
beliebt ist die Deminutivform,,mäning". "Stirnbarger mänings“ heißen
nach Felix Stillfried (Biweglang S. 36) auch die Gesteinreste, die in der
Mineralogie unter dem Namen Sternberger Kuchen bekannt sind.
Wenn ein großer Stern beim Mond steht, sagen die Schiffer: „de mand
het sinen verklicker (d. h. Verräter) bi sik; denn ward't weihgen,
woneger, wo arger. Interessant sind die niederdeutschen Namen für
einzelne Sterne. Melkstrahl, wildbahn, wildgang (es richten sich die Zug-
vögel nachts danach), wederbahn, wederstrang sind Namen für die Milch-
straße, himmelswagen, nordwagen, dümk (dümk is eigentlich blos de
fuhrmann, de lütte funk, de up dat middelst pird upsitt) für den großen
Bären. Petri staff, scheperstaff, Jacobs staff heißt der Orion, stirnscheitent,
stirnschott die Sternschnuppe. (Wo de stirnsnupp henföllt, dor starwt
en.) Bei den Ausdrücken für die Wolkenbildung ist es merkwürdig, daß
sie sehr häufig lokale Färbung haben, indem die Bewohner irgend einer
Gegend die Bildung von dunklen Wolken u. s. w. auf ihre Nachbarn
schieben, z. B.: Kiek, wo de Kalschen (die Bewohner von Neukalen)
gludern. De Penzliner sünd slicht upstahn (schlecht bei Laune).
De Grüssowschen maken all wedder'n dick mul. De Dierhäger
warden all wedder unklok. De Börgerender brugen u. s. w. Die
Richtung des Windes, günstiger und ungünstiger Wind, Windstille so
wie flauer Wind, das Anwachsen und Abnehmen des Windes, un-
beständiger Wind, böiger Wind, Sturm bieten zahlreiche verschiedene
Ausdrücke. Die Windhose und der Wirbelwind sind Teufelswerke. Et
kommt im Wirbelwind, um nicht sichtbar zu sein, und fährt öfter in
demselben durch den Schornstein auf die Feuerstelle hinab. Im Küsel-
wind nimmt der Teufel dem einen etwas weg und bringt es dem andern.
Er tanzt darin mit den Heren. Zahlreich sind die Mittel, die man an-
wendet, um dies sehen zu können. Die Bewohner der mecklenburgischen
Ostseeküste sind besonders reich an Bildern für die ruhige, wenig bewegte
See, für Wellengang und Wellen mit weißen Köpfen, für Sprizwasser
und Sturzseen, nicht minder wie für die Seekrankheit (seesük). Dat

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is blankstill, blänkenstill, blinkenstill, blackstill, bleckenstill, blickstill,
blickenstill, dodstill. De strand brüllt, grält, rästert, hult, rohrt
(vergl. engl.: to roar). De rohr brust, brüllt an'n Heiligen Damm. Von
Seekranken heißt es: he is seedull, seedun; he het de seesük, de is
bootskrank worden, he fodert de fisch, de maischullen, de kabeljaus.
Dat krigt de grot hund, dat is den groten hund sin foder. He
betahlt Rassmussen; hest Rassmussen all betahlt? Auch der Aber-
glaube schließt sich an diese Naturerscheinungen. In fleiten water, wenn
dat schümt öwer'n gegenstand, 'n stein, 'n stock oder so, sall man
de bein nich rinhollen, denn krigt man wratten."

Doberan i. M.

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Kleine Mitteilungen.

O. Glöde.

Die Untersuchungen zur Feststellung der Häufigkeit deutscher
Wörter, Silben und Laute, welche seit 5 Jahren unter Beteiligung von
1320 Personen unternommen worden sind, gehen jezt dem Abschluß entgegen.
Die alphabetische Liste aller gezählten Wörter ist in Stärke von 4085 Bogen
vollständig fertig, ebenso sind die 5 verschiedenen Nachweisungen über die Vor-
silben, die Liste der „ nackten Stämme“ und diejenigen der Endungen und Neben=
silben fertig gestellt worden und es bleibt nur noch die Zerlegung der Stämme
in die Buchstaben übrig. Wir werden daher bald über die Beendigung des
ganzen Werkes berichten können, welches der königlichen Bibliothek in Berlin in
der Urschrift als Geschenk angeboten worden ist. Der Generaldirektor derselben,
Herr Geheimer Oberregierungsrat Dr. Wilmanns, hat sich persönlich von der
Einrichtung und dem Umfange des Werkes überzeugt und darauf das Ganze gern
angenommen. Die Buchungsblätter" sind durch den bisherigen Leiter der
Untersuchungen, Herrn Kaeding in Steglitz bei Berlin, bereits vor mehreren
Monaten eingeliefert worden, die Abgabe der übrigen Listen und Tabellen kann
aber erst nach beendeter Drucklegung des „Häufigkeitswörterbuches der deutschen
Sprache" erfolgen, zu welchem Herr Max Baeckler in Berlin SW., Baruther-
straße 5, jezt die Prospekte versendet. Die königliche Bibliothek erhält dadurch
ein umfangreiches und interessantes Werk, welches über die Zusammensetzung
unserer Sprache statistisch genaue Auskunft giebt und in der deutschen Litteratur
einzig dasteht. Den von uns wiederholt gegebenen Mitteilungen aus dem reichen
Schaße interessanter Feststellungen können wir heute hinzufügen, daß die ge-
zählten 20 Millionen Silben der Gesamtrechnung dargestellt werden durch
10910 777 Wörter, von denen 109 493 zusammengesezte Hauptwörter sind,
148 680 einfache und zusammengeseße Wörter anderer Art (Artikel, Präpositionen,
Zeitwörter u. s. w.).

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Das häufigste einfache Wort der deutschen Sprache ist „die" mit einer
Häufigkeit von 354 614, rechnet man aber die aus den Zusammenseßungen hinzu-
tretenden Zahlen der Wortstämme hinzu, dann behauptet „der" mit 361 044 den
ersten Play. Ihm folgen: die 358 054, und = 320 988, ein
193 256, zu = 183 366, den = 147 642, das 127 137, von
166 692, dem 104021, des =
100 225 u. s. w. Die häufigsten Vorsilben sind:

280 103, in =
122 515, nicht =

103 175, sich = 102 989, sie = 102 212, mit

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Bei den Endungen und Nebensilben stehen bis heute nur die Zahlen für
die einfachen Endungen fest ohne Hinzurechnung der Verbindungen, diese find
aber geradezu überraschend, denn es haben die Häufigkeit: en = 1 306 834, e =
1044 898, er = 561 129, ung 165 856, es = 126 469, em = 74 267, lich =
63 769, ig = 55 893, el 51 531 u. s. w.

Das Verhältnis der einzelnen Silbengattungen zu einander ist folgendes:
Vorsilben = 2 154 366, Stämme = 11 693 666, Endungen- und Nebensilben

6 151 028.

Das,,Häufigkeitswörterbuch der deutschen Sprache" soll bis Ende 1897
gedruckt vorliegen, und die Sprachwissenschaft wird dann endlich erschöpfende Aus-
kunft über die Lautverhältnisse der Sprache erhalten, die schon so oft vermißt
worden ist. Die Kosten des Unternehmens betragen nur ungefähr 8000 Mark,
weil der größte Theil der Arbeiten unentgeltlich geleistet worden ist. Bei der
gewiß sehr mäßigen Bezahlung von nur drei Mark für den zehnstündigen
Arbeitstag würde der Arbeitslohn allein auf 164 000 Mark zu stehen kommen.
Leider ist es noch nicht gelungen, den der Kaffe des Arbeitsausschusses ver-
bliebenen Fehlbetrag von 970 Mark zu decken und die schnelle Fertigstellung der
Arbeit zu sichern. Es wäre dem gemeinnüßigen Unternehmen nach dieser Seite
eine Beteiligung weiterer Kreise sehr zu wünschen.

Zeitschriften.

Litteraturblatt für germanische und romanische Philologie. 1896.
Nr. 10. Oktober: Ferd. Holthausen, Altisländisches Elementarbuch, be-
sprochen von O. Brenner. (Ein Bedürfnis nach einer kleinen altnordischen
Grammatik ist seit Jahren vorhanden. Holthausen will dem Mangel abhelfen,
aber es ist ihm nicht geglückt. Die Fassung der Regeln ist nicht sorgsam
genug. Brenner führt außerdem eine Reihe thatsächlicher Unrichtigkeiten an.)
Ernst Wülfing, Die Syntax in den Werken Alfreds des Großen, be-
sprochen von F. Holthausen. - Johan Storm, Englische Philologie, be
sprochen von K. D. Bülbring. · Nr. 11. November: Reinhold Spiller,

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