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wo darauf aufmerksam zu machen ist, daß wir im Nhd. „nichts Schöneres“ den Gen. Sg. Neutr. als Nom. auffaffen. Abweichen vom nhd. Sprachgebrauch ist Nib. 444, 1:

Dô sprach diu wol getâne 'des mak niht ergân,'

wo des an das frz. en erinnert.

In manchen Fällen entspricht das mhd. niht mit Genitiv dem frz. pas de, point dẹ, wofür wir im Nhd. kein seßen, z. B. Walther 95,6: wan daz dâ niht steines lac

(gut, daß kein Stein da lag, sonst 2c.).

Bei diesem Anlasse kann ich einige Bemerkungen über den Berner Dialekt nicht unterdrücken. Vielleicht ist es dem Einflusse des Französischen zuzuschreiben, daß jener z. B. statt, das ist kein guter Wein“ sagt: „das isch nit guete Wi," ,,ce n'est pas de (ober du) bon vin." Dem mhd. niht mit Genitiv entspricht in Berner Mundart öppis (etwas) mit einem Substantiv in demselben Fall, z. B.,öppis Grüsts" etwas Gerüstartiges, ,,öppis Gnagis" etwas Schweinsknochenartiges. Die obige Stelle Walthers könnte berndeutsch wiedergegeben werden: „wen öppis Steis wär dâ gsî.“

Wie mhd. niht, so regiert vil den Genitiv, in Übereinstimmung mit dem frz. beaucoup de, bien de, das aber die Fügung nach dem Sinne hat, wonach also das Prädikat in der Mehrzahl steht, während das Mhd. meist die Einzahl sezt, z. B. Nib. 143, 4:

dagegen 2,4:

in hilfet vil der degene,

dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.

Dem frz. combien entspricht oft waz, z. B. Nib. 900,4:

hei waz man guoter spîse in dem aschen ligen vant!

Auch die nhd. Dichtersprache kann zwar nach viel und wie viel das Substantiv in den Genitiv sezen, aber die Prosa nicht. Überhaupt ist der Teilungsgenitiv im Schwinden begriffen, und nur poetisch ist es, vom,,besten Becher Weins" zu sprechen, während der Franzose immer noch „un verre de bon vin" liebt und um,,un morceau de pain" bittet. Aber auch schon im Mhd. heißt es neben Walther 20, 14:

Nib. 909:

und gulte ein fuoder guotes wînes tûsend pfunt,

Dô sprach der Niderlende 'ir lîp der habe undane,
man sold mir siben soume met und lûtertranc
haben her gefüeret.'

Nun noch einige Einzelheiten. Das mhd. ob und das frz. si stehen für ob und wenn, wie wir es noch in ob auch, obgleich, obschon haben, z. B. Nib. 16:

du wirst ein schone wîp,

obe dir got noch gefüeget eins rehte guoten rîters lîp. Mhd. al hat in der Einzahl die Bedeutung des frz. tout, z. B. Nib. 950,4: dô schrei si nâch unkreften, daz al diu kemenâte erdôz. Sogar der Ausdruck,,tout le monde" ist in al diu werlt" borhanden, z. B. Walther 28,31:

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Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen.

Das mhd. Wb. 3, 579 führt gerade für Walther noch eine Anzahl Stellen (auch im Nominativ) an.

Damit sind wir bei den Redensarten angelangt, und auch bei ihnen fehlt es nicht an Parallelen, z. B. Nib.(Zarncke) 142,6:

Dô sprachen sîne jägere 'magez mit hulden wesn,

sô lât uns, herre Sîvrit, der tier ein teil genesn.'

Zwar entspricht der Nebensaß nicht genau einer frz. Redewendung; aber daß für den Gedanken,,mit Eurer Erlaubnis" überhaupt ein Sat gebraucht wird, erinnert an das frz.,,s'il vous plaît", wie auch an das englische „if you please" für „gefälligst“. (Da an schweizerischen Gymnasien auch ziemlich viel englisch getrieben wird, sind Hinweise auf diese Sprache nicht übel angebracht, zumal sich manche mhd. Wörter noch im Englischen erhalten haben, z. B. kone, smielen. (Vielleicht komme ich später einmal auf dieses Thema zurück.)

Sogar die umständliche französische Fragestellung mittelst Umschreibung hat ein mhd. Seitenstück, z. B. Nib. 1179:

Dô sprachen aber die Hiunen 'küniginne rîch,
iuwer leben wirt bî Etzel so rehte lobelîch,

daz ez iuch immer wünnet, ist daz ez ergât.'

Bartsch übersetzt den Bedingungssatz in seiner Ausgabe Str. 1239: ,,wenn der Fall eintritt, daß." Wörtlich also: „ist es, daß es ergeht," was im Französischen hieße: „, est-ce qu'il va." Wir haben es mit einem Bedingungssag in Form eines Fragesaßes zu thun, einer im Deutschen ja alltäglichen Erscheinung. Auch hier wird also durch eine dem Schüler ganz geläufige Redewendung eine auffallende mhd. Konstruktion erläutert.

Überzeugt, daß sich bei weiterer Beobachtung noch mehr Stoff herbeischaffen ließe, verwende ich doch hier nur das, was sich mir bei der Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 8. Heft.

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Erklärung von selbst aufdrängte. Das Gesagte genügt indes vollständig, um meinen werten Fachgenossen einen Fingerzeig zu geben, der vielleicht manchem unter ihnen nicht unwillkommen ist.

Sprechzimmer.

1.

Die tragische Schuld in Schillers Jungfrau von Orleans.

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Herr Gymnasialdirektor Evers in Barmen weicht in seiner neuen Schulausgabe der Jungfrau von Orleans (Meisterwerke der deutschen Litteratur, Band 7, Berlin, Reuther und Reichard) in Bezug auf Bestimmung der tragischen Schuld Johannas von den bisherigen Erklärern ab. Er findet die Achse der Tragik nicht in der Lionelszene, sondern schon in der Montgomeryszene. Das Verlieben ist ihm nicht „Johannas ausschließliches und Hauptvergehen," sondern nur eine gottverhängte Folgeschuld und zugleich Nemesis für das vorhergegangene, viel schwerere Vergehen der Selbstüberhebung, für die in steigender Selbstverblendung eigenmächtig vollzogene Überspannung ihrer ursprünglichen Aufgabe, für ihre in verhängnisvoller Selbsttäuschung vollzogene Abirrung von der reinen Bahn der Prophetin und idealen Gottesstreiterin zur unmittelbaren, persönlichen Beteiligung an der Tötung der einzelnen Feinde."

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Als einzigen Vorgänger in dieser Auffassung führt der Verfasser Laas an. Bei diesem findet sich (Deutsch. Auff. II, 682 flg.) allerdings ein Auffagentwurf über das Thema: Welches ist die Schuld der Jungfrau von Orleans?" und in diesem u. a. folgende Säße:,,Wie ein Würgengel schreitet die patriotische Jungfrau, die Botin des Himmels, durch das Schlachtfeld. In diesem wilden Rasen schweigt völlig die Stimme weiblichen Gefühls. Aber wenn sie, als Montgomery ihr naht, zum ersten Male zögernd stehen bleibt, so fällt sie aus der dämonischen Wut in Selbstbesinnung; sofort bricht die natürliche Scheu vor Blut und Mord durch die starre Rinde. Ganz freilich wird sie noch nicht erweicht: sie schont den Montgomery nicht; aber sie tröstet ihn. War fie dazu aber auch vom Himmel berufen? Das natürliche, empfindende, zarte Weib spricht: Die erste Stufe der Schuld ist bestiegen."

Also auch hier wird der Beginn von Johannas Schuld in die Montgomeryszene gesezt. Aber wir fragen: Was sagt denn Johanna in dem Drama selbst über den Beginn ihrer Schuld?

Vilmar, der für Schiller gewiß nicht und für seine Jungfrau von Orleans am allerwenigsten eingenommen ist, dessen Analysen der Schillerschen Dramen man aber feinsinniges Verständnis des vom Dichter Gewollten nicht wird absprechen können, ist so sehr davon überzeugt, daß Johannas Schuld im Stücke mit der Lionelszene beginnt, daß er dem Stücke daraus sogar einen Vorwurf macht. Er schreibt: (Litteraturgesch. 10. Aufl., S. 497): „,,Der nächste (nämlich schwere Fehler) ist der, daß Johanna im Kampfe zwischen himmlischer Begeisterung und irdischer Liebe der leztern unterliegt, während es ganz nahe lag, und fast unvermeidlich war, den Fall der Jungfrau (ihre Gefangenschaft und ihren Tod) dadurch zu motivieren, daß sie hingerissen von weltlicher Ehre ihren ursprünglichen himmlischen Beruf überschreitet."

Vilmar vermißt also in Schillers Drama, was Laas und Evers darin gefunden haben wollen. Man kann es aber nur darin finden, wenn man Johannas eigene Worte falsch deutet und so dem Dichter Niegewolltes und Niegemeintes unterschiebt. Ein recht bezeichnendes Beispiel solches Falschverstehens findet sich auch bei Bellermann, der übrigens ganz richtig bemerkt, daß schon früher nicht wenige Erklärer in der Montgomeryszene und in anderen Szenen des zweiten und dritten Aktes bereits eine Trübung der gottbegeisterten Seele" Um solche irrtümliche Auffassung zu

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Johannas haben finden wollen. bekämpfen schreibt Bellermann (II, 256) u. a.: „Diese Auftritte (mit Montgomery und mit dem Herzog von Burgund) sind in der That notwendige Vorstufen zur Lionelszene, aber es bleibt ein völliges Mißverständnis, daß irgend etwas darin eine Verweltlichung" ihres Wesens bezeichnen oder ein,,Schritt zum Bruche ihres Gelübdes" sein sollte. Daß ihr Mitleid mit Montgomery, welches auf ihr Handeln nicht den mindesten Einfluß ausübt, kein Abfall ist, kann durch Johannas eigene Worte aufs bündigste bewiesen werden. Denn wenn sie später nach ihrem Fall, in der Beklemmung ihres Herzens ausruft (IV, 1): „Bin ich strafbar, weil ich menschlich war? Ist Mitleid Sünde?" und alsdann sich selbst zurückweist: „Arglistig Herz, du lügst's dem ew'gen Licht, dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht," so ist offenbar, daß sie die bloße Regung des Mitleids keineswegs als eine Sünde empfindet.“

Bellermann spricht hier von,, Mitleid mit Montgomery," von Mitleid mit einem, den Johanna getötet hat. Wie in aller Welt kommt er dazu? Gehen denn den angeführten Stellen nicht unmittelbar Worte voraus wie: Wehe! Weh' mir! Welche Töne! Wie verführen sie mein Ohr! Jeder ruft mir seine Stimme, Zaubert mir sein Bild hervor!

Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm
In's Auge sah! Ihn töten! Eher hätt' ich

Den Mordstahl auf die eigne Brust gezückt!

Kann sich das auf einen andern als auf Lionel beziehen? Und nun die Fortsetzung dieser Worte, in denen Johanna geradezu ihr Verhalten gegen Lionel zu dem gegen Montgomery in Gegensaß bringt, wo sie ausdrücklich sagt, daß des Mitleids Stimme nur für den einen, aber nicht für den andern gesprochen habe:

Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?
Jst Mitleid Sünde? Mitleid! hörtest du
Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit
Auch bei den andern, die dein Schwert geopfert?
Warum verstummte sie, als der Walliser dich,
Der zarte Jüngling, um sein Leben flehte?

Johannas Worte nach Montgomerys Fall lassen wenig von Mitleid erkennen:

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und der erhabenen Jungfrau" dankte sie mit den Worten:
Du wirkst Mächtiges in mir!

Du rüstest den unkriegerischen Arm mit Kraft,
Dies Herz mit Unerbittlichkeit bewaffnest du.

Hier ist nichts davon zu spüren, daß Johanna bereits begönne, sich schuldig zu fühlen. In dem großen Monologe am Anfang des vierten Aktes aber spricht sie ganz offen aus, von wann an sie schuldig sei und wessen sie sich schuldig gemacht habe. Nicht Mitleid mit Lionel - Montgomery kann, wie oben gezeigt, gar nicht in Frage kommen —, sondern Liebe zu Lionel ist ihre Schuld, und als sie ihm zum ersten Male in die Augen sah, begann ihre Schuld:

Arglistig Herz, du lügst dem ewigen Licht,

Dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht!
Warum mußt' ich ihm in die Augen sehen!
Die Züge schaun des edlen Angesichts!
Mit deinem Blick fing dein Verbrechen an,
Unglückliche!

Von da an war sie nicht mehr „das blinde Werkzeug, das Gott fordert":

Mit blinden Augen mußtest du's vollbringen!
Sobald du sahst, verließ dich Gottes Schild,
Ergriffen dich der Hölle Schlingen.

Wer unbefangen sich an des Dichters Worte hält, kann in dem neuen Erklärungsversuche nur völlig mißglückte Spitfindigkeiten erkennen.

Leipzig.

Albert Richter.

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