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Und gerade das Abziehen dieses Geistes von seinem Urquell wird V. 324 ausdrücklich als Motiv, als das die gesamte nun beginnende, durch die Welt bis zur Hölle verlaufende Handlung Bedingende genannt. Also das Abziehen und das Abgezogenwerden dieses Geistes von seinem Urquell in allen seinen einzelnen Stufen und Folgen wird die eigentliche Handlung der Tragödie ausmachen. Der, welcher den Menschen von seinem Urquell abzieht, ist hier wie dort der Teufel, dem er sich ergiebt, sodaß immer die Schuld auf Seiten des Menschen bleibt. Er aber führt in jene drei Kreise der Fleischeslust, Augenlust und Hoffart, wie es uns nicht nur die heilige Schrift, sondern auch die Faustsage und Goethes Faustdichtung darstellen. Es sind aber diese drei Kreise hier wie dort nicht etwa als sich ausschließende, sondern wie es dem wirklichen Leben entspricht, als konzentrische Kreise dargestellt, wie denn z. B. mit der Besudelung des Leibes auch die des Geistes Hand in Hand geht und alle fleischliche Gier ohne die des Geistes nicht gedacht werden kann. Die Sünden der Augenlust reichen in das Gebiet der Fleischeslust und beide in das des Hochmuts. So führt Abgötterei zur Hurerei und umgekehrt. Diese drei Sündenkreise sind nun gleichsam die Operationsbasis für den Teufel in der Faustsage, wie in der Dichtung.

Es ist also die zuchtlose Weltfart eines von Gott abgefallenen hochtragenden Adlergeistes an der Hand des Teufels durch die kleine und große Welt der Fleischeslust, Augenluft und Hoffart, welche hier wie dort zur plastischen Darstellung kommt, einer Weltfart, auf welcher sich der Abfall vom Urquell stetig mehr vollendet.

Erst mit diesem Problem der zentrifugalen Ausarbeitung des Abfalls (von Gott, von der Offenbarung, von der Kirche und ihrem Bekenntnisse) zur Schrankenlosigkeit auf allen Gebieten des Lebens erhält wie die Faustsage so die Fauftdichtung ihre innere Einheit. Es ist dies Problem, wie es ein mit innerer Notwendigkeit sich ergebendes ist, zugleich das Einheitsband, das alle Teile auch der vielgestaltigen Faustdichtung_umschlingt. Von diesem Grundgedanken, wie er in der Tragödie selbst V. 324 erscheint, eröffnen sich dann die großartigsten Durch- und Fernblicke, wie in das Trauerspiel der Dichtung, so in das des wirklichen Gilt für alle Lebensgebiete jenes in den Faustbüchern so betonte Wort:,,Seid Gott unterthänig!" so muß auch der Abfall von dieser Unterthänigkeit zur Schrankenlosigkeit auf allen Gebieten zur Darstellung kommen.

Deshalb ist es nicht etwa willkürlich, sondern durch die ganze Tendenz der Tragödie gefordert, daß der Dichter uns gerade an die Stätten des Abfalls und der Schrankenlosigkeit, wie anderseits im Gegensaze dazu an die des demütigen Gehorsams, der Schranken

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und der Beschränkung führt, wobei es nicht übersehen werden kann, daß die Goethesche Faustdichtung - bewußt oder unbewußt thatsächlich ebenso antilutherisch geprägt ist wie die Faustsage, auf der sie ruht; antilutherisch geprägt allerdings nicht nur nach dem Bilde der Reformationszeit, sondern noch weit mehr nach dem Bilde der modernen Zeit mit ihrer den Abfall des 16. Jahrhunderts noch überbietenden Schrankenlosigkeit, so daß über dem eigentlichen Mutterboden jener Zeit der Nährboden der folgenden Jahrhunderte bis in unsere Zeit hinein sich lagert. Denn „auch die der Goetheschen Zeit weit voraufeilenden Kulturtendenzen kommen zur überraschenden Darstellung“ (v. Löper).

Wohl war auch Goethe wie jedem echten Dichter das munus jener vorschauenden Erkenntnis eingeboren, aber unvermittelt trat es auch bei ihm nicht hervor. Wie viel und wie viel mehr als davon in dem Bewußtsein des Dichters lebt, vermittelt ihm eben ganz unbewußt schon die

Geburt! In unseren Volksdichtern aber ist ja gerade eben dies zu bewundern, daß und wie ihres Geschlechts, ihres Stammes, ihres Volkes Eigenart zur persönlichen Eigenart wird, also daß in ihrer Seele alle Schwingungen der Volksseele erklingen. Und wenn Goethe selbst in der Zueignung zu seiner Faustdichtung (V. 28) sagt: „Mein Lied ertönt der Äolsharfe gleich," so hat dies Wort, wie wir sahen, auch in dieser Beziehung volle Wahrheit. Das eben macht den Faust zum eigentümlichsten Gedicht der Deutschen, daß es die Biologie des germanischen Geistes, nicht etwa nur die eines geschichtlich abgegrenzten Zeitraumes, sondern ein überraschend wahres, oft überwältigendes Spiegelbild des germanischen Geistes und der germanischen Volksseele für alle Zeiten bietet. Und wurde diese Dichtung in ihrer für die gesamte Volksgeschichte vom Dichter selbst ungeahnten und ihm selbst unbewußten großen Bedeutung und Tragweite geschaffen, so benimmt dies seinem Werke so wenig etwas, daß es dann vielmehr erst recht als das erscheinen muß, was es ist, als eine Biologie des deutschen Geistes ohne gleichen auf Grund der alten Faustsage, die bekanntlich dem Dichter selbst durch sein ganzes Leben ebenso in rechter Ferne nachrückte, wie sie unserm Volke nachrückte und bis in die fernsten Zeiten nachrücken wird.

Wie viel ihm die Faustsage für seine Dichtung bewußt und wie viel mehr noch sie ihm unbewußt vermittelte wer wollte das ergründen? Kommen doch gerade die tiefsten Blicke in solche Sagen überhaupt zunächst unbewußt und auf einmal; dann aber wird die erste Totalidee von außen und von innen her allmählich heller, und indem sie heller wird, lernt der Dichter, in welchem der Volksgeist pulsiert, nicht allein seinen Gegenstand, sondern an ihm vor allem sein eigenes Selbst ebenso wie das seines Volkes klarer erkennen, also daß sich in der Sagengestalt

die eigene Persönlichkeit wie die Volkspersönlichkeit leibhaftig darstellt, wie sich uns diese Beobachtung wohl bei keiner Sage so wie bei der Faust: sage und der Goetheschen Faustdichtung aufdrängt.

Das aber, was die Faustsage dem Dichter thatsächlich vermittelte, ist vor allem ihre antibiblische, antievangelische und antilutherische Prägung, jene Prägung, ohne die sie selbst gar nicht mehr gedacht werden kann, weil sie zu ihrem Wesen gehört, ihr von Haus aus eigen ist. Es ist, wie schon Göschel (S. 147) sagt, nicht zu verkennen, daß in Goethes Tragödie die Grundzüge der Volkssage unverfälscht und unverwischt erhalten und dennoch die neuesten Ergebnisse der Zeit damit verwebt worden sind. Der Stoff der alten Sage ist, seiner Mannigfaltigkeit unbeschadet, bis auf die neueste Zeit erweitert worden. So scheint auch der Geist der alten Volkssage in seiner ursprünglichen Einfalt, aber verklärt und ver ständigt, von neuem geboren und in dieser Wiedergeburt zu sich selbst gekommen zu sein." So gottlos, so antievangelisch und antilutherisch die Sage aussieht, so sehr will sie gerade, wie schon das Motto der Faustbücher zeigt, zur Unterthänigkeit unter Gott, zum evan gelischen Glaubensgehorsam und zu der durch Luther der Welt wieder dargebotenen Lehre von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt und zu der Freiheit eines Christenmenschen unser Volk rufen, das Volk, von welchem ganz dasselbe gilt, was der Dichter von Faust (1856-57) sagt:

Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,

Der ungebändigt immer vorwärts dringt,

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jenen hochtragenden Geist, der Adlersflügel an sich nimmt, um Himmel und Erde zu spekulieren. Dies Vorwärtsdringen es ist seine starke wie seine schwache Seite. In der Unterthänigkeit unter Gott, im Glaubensgehorsam wirkt dieser Geist wie in Luther volkserhaltend, im vermessenen schrankenlosen Hinausstürmen über die Schranke, also im Ungehorsam gegen das Wort Gottes, in der Autonomie dagegen volkszerstörend, denn Ungehorsam, sagt die heilige Schrift und predigt uns ebenso die Faustdichtung, ist Zaubereisünde; sie führt zur Schrankenlosigkeit und zwar zu der Schrankenlosigkeit der Erkenntnis in der Magie, wie zu der des Genusses auf einer zuchtlosen Weltfart der Augenluft, Fleischeslust und Hoffart und treibt somit in die Banden des Teufels. Das ist der Grundgedanke wie der Volkssage, so auch der Goetheschen Tragödie und zwar in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit des Lebens im Trauerspiel des von seinem Urquell abgefallenen modernen deutschen Geistes, der nach der Schrankenlosigkeit der Erkenntnis, von allem Wissen übersättigt, die zuchtlose Weltfart des Genusses antrat.

(Schluß folgt.)

Bur Heimat Hagens.

Von Karl Wehrmann in Kreuznach.

"

Zu dem Aufsage: Kleine Jrrungen in der Litteratur zum Nibelungenliede, bis zu ihren Quellen verfolgt" von H. Kamp möchte ich hier eine Bemerkung machen. In dem 2. Abschnitt: Kirchberg oder Kirchheim? wird die Heimat des Helden Hagen nach Kirchheim, welches dem alten,,Thronie" entspreche, verlegt. Die Heimat Hagens soll nach jenem Aufsaß das Elsaß sein. Wie man überhaupt dazu kommt, das Elsaß als Heimat anzusehen, ist nicht zu ersehen; Lachmann scheint der erste zu sein, welcher diese Behauptung aufgestellt hat, indem er sagte: ,,Unsere Dichter verstanden Tronia oder Kirchberg im elsässischen Nordgau.“ Aber wie kommt denn Lachmann zu seiner Vermutung?

Ich möchte hier nur für diejenigen, welche in diesen Forschungen bewanderter sind als ich, eine Ansicht mitteilen, die in weiteren Kreisen noch nicht bekannt zu sein scheint. Auf dem Hunsrück, diesem unbekanntesten Teile der Rheinprovinz, der wegen seiner Schönheit und Wildheit wohl verdiente, mehr besucht zu werden, dem aber auch von unseren Sagenforschern durchaus nicht die Bedeutung und Beachtung ge= schenkt wird, die ihm gebührt, da liegt ein Dörfchen Tronecken. Wie es in dem Hochwald- und Hunsrückenführer, der eben erst erschienen ist (Kreuznach, Voigtländer 1892), heißt, verlegt die dortige Volkssage den Siz des grimmen Hagen von Tronje nach der Burg von Tronecken, wie uns auf dem Hochwalde (so heißt die waldigste und höchste Er= hebung des südwestlichen Hunsrücks) überhaupt viele Anklänge an das Nibelungenlied entgegentreten. Bei den mächtigen Ruinen von Hunoltstein, die am nördlichen Abhange des Hochwaldes liegen, soll man sich des tapferen Hunolts (?), des Kampfgefährten Hagens erinnern. Auch liegt in der Nähe von Tronecken ein Dorf,,Haag," welches nach der Sage auch auf Hagen hinweisen soll. Nördlich von Hermeskeil, das etwas nordwestlich von dem bekannten Hunnenring von Ozenhausen liegt, befindet sich noch ein kleiner Bach, der „Hahnenborn“ heißt; er müßte aber nach dem Volksmunde eigentlich Hagensborn heißen, und hier soll der Ritter Hagen einen König erschlagen haben. Tronecken war früher wildgräfliches Besigtum. In der Nähe befindet sich eine alte Burgruine, über deren Geschichte mir nichts bekannt ist.

Aber auch der Ort Kirchberg fommt auf dem Hunsrück vor. Lachmann giebt Kirchberg im elsässischen Nordgau an; Kamp glaubt, Lachmann

hätte sich im Namen versehen, es müsse Kirchheim westlich oder eher noch westnordwestlich von Straßburg gemeint sein. Das mag sein. Vielleicht ist es aber mehr als Zufall, wenn oben auf dem Hunsrück auch der Name,,Kirchberg" vorkommt. Es liegt nordwestlich von Tronecken aus. Das Städtlein ist sehr alt; seine Geschichte führt bis in die Römerzeiten zurück.

Was ich hier angeführt habe, mag nur eine Anregung sein für diejenigen, welche sich streng wissenschaftlich mit dem Schauplatz des Nibelungenliedes befaßt haben. Ich glaube nur, daß man das große Gebiet des Hunsrücks, auf dem eine ungeheure Anzahl von Ruinen alter Denkmäler und Burgen, die eine beredte Sprache mit uns reden, die uns hinweisen nicht allein auf die romantische Zeit des Mittelalters, sondern noch weiter zurück auf die Zeiten der Franken, der Römer und sogar der Kelten, daß dieses große Gebiet mit Unrecht von den Sagenforschern bei unseren deutschen Sagen nicht genügend berücksichtigt wird. Auch kommt noch in Betracht, daß das Gebiet des Hunsrücks nicht sehr entfernt von Worms, dem örtlichen Mittelpunkte des Nibelungenliedes liegt, jedenfalls näher als der elsässische Strich in der Nähe von Straßburg, wo jenes Kirchberg liegen sollte.

Über Goethes „Bueignung“.

Zur Einführung in die klassizistische Periode des Dichters.
Von Hermann Henkel in Wernigerode a. H.

Bekanntlich haben die Dichtungen Goethes immer ein doppeltes Interesse, neben dem objektiven, als Werke von Gehalt und Schönheit, als unabhängige und gleichsam für sich bestehende Kunstgebilde, ein subjektives biographisches, als Bruchstücke eines Lebensbekenntnisses und Offenbarungen seines innersten, individuellsten Seelenlebens. Der Weg zum Dichter geht durch den Menschen, die Etappen seines Lebens- und Bildungsganges sind auch Etappen seiner dichterischen Entfaltung,1) und es ist eine der anziehendsten Aufgaben der Goetheforschung, die Beziehungen beider auf einander zu verfolgen und aufzudecken. Dieser Gesichtspunkt ist es denn auch, der vorzugsweise für die Besprechung des oben bezeichneten Gedichtes maßgebend sein wird, das, kein bloßes Spiel der frei erfindenden und gestaltenden Phantasie, aus dem tiefsten Geistes

1) S. Camp. in Fr. Pempelf. 2. Nov. 1792:,, Meine Produktion hielt immer gleichen Schritt mit meinem Lebensgange.“

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