Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Menschen das Schöne, d.h. das an sich Gute als das Ziel des Lebens vorschwebt, in der sein Gemüt gereinigt ist von jeder schädlichen Neigung, diese Umänderung ist es, die Aristoteles unter der tragischen Katharsis versteht; in ihr sieht er die Wirkung der Tragödie.

Wir kommen zur zweiten Hauptfrage, die Laehr zu beantworten unternimmt (S.78-101): Mit welchen Mitteln bewirkt nach Aristoteles die Tragödie jene Reinigung der Affekte? Sie bewirkt sie durch Mitleid und Furcht. Es werden zwar alle möglichen Affekte durch die Tragödie erregt, aber Mitleid und Furcht sind es, die die reinigende Wirkung bedingen. Nicht Mitleid und Furcht zu gleicher Zeit: entweder ergreift der eine oder der andere Affekt den Zuschauer. So deutet Laehr die Worte des Aristoteles mit Feller gegen Leffing.1) Er läßt sich dabei leiten von seiner Bestimmung des Mitleids und der Furcht. Unter Mitleid,,dürfte Aristoteles das gleiche Gefühl, das wir Mitleid nennen, gemeint und nur einen stärkern Grad desselben ins Auge gefaßt haben." (Man beachte die potentiale Ausdrucksweise!) Es fällt darunter auch die sympathische Furcht, von der wir ergriffen werden, wenn wir einen andern von Furcht vor einem drohenden Übel erfüllt sehen. Die Furcht aber, die sich vom Mitleid scheidet, ist diejenige, die wir im Zustand der höchsten Ergriffenheit nicht mehr für das Schicksal des Helden, sondern für uns selbst empfinden, weil wir uns in diesem Zustande mit dem Helden eins fühlen, weil in der Vorstellung des Zuschauers die Verschmelzung der eigenen Person mit dem Helden eintritt.) Auch diese Auffassung vermag Laehr nicht durch die eigenen Worte des Aristoteles zu unbedingter Sicherheit zu erheben; er zeigt nur, daß sie mit der allgemeinen Bestimmung der Furcht, die Aristoteles giebt, nicht im Widerspruche steht und daß diese Furcht des Zuschauers in der Tragödie ihr Entsprechendes in einer besonderen Art von Furcht hat, die der Philosoph bei den Menschen und auch bei gewissen Tieren beobachtet hat.

Indem ich auf die anderen Punkte nicht weiter eingehe, durch die Laehr die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit seiner Deutung der tra gischen Furcht im Zusammenhange Aristotelischer Anschauungen darthut (S.86-101), füge ich eine kritische Anmerkung ein. Bei der Erklärung der tragischen Furcht sind wir darauf angewiesen aus Vorgängen, die wir selbst in unserer Seele beobachten, uns dasjenige, was Aristoteles gesagt

1) Auch Walter erklärt sich gegen Lessing (S. 612 flg.).

2) Eine weitere wichtige Abweichung von Leffings Lehre. Daß Aristoteles die Identifikation des Zuschauers mit dem tragischen Helden verlangt, hat auch Dehlen nach Laehrs Angabe (S. 103) gesehen.

hat, zu deuten. 1) Wir befinden uns somit hier auf einem verhältnismäßig unsichereren Boden als bei der Bestimmung des Wesens der tragischen Katharsis, wo wir durch entsprechende Vorgänge, die bei Aristoteles genügend gekennzeichnet sind, die durch die Tragödie erzeugte Wirkung beleuchtet sahen, nicht aber diese aus unseren eigenen Erfahrungen beim Anschauen einer Tragödie uns zu vergegenwärtigen brauchten. Es zeigt sich also, daß an diesem Punkte Laehrs Arbeit die sprachliche Unbestimmtheit der Aristotelischen Definition nicht hat beseitigen können. Wir müssen uns erst über die Mittel der Tragödie klar sein, wenn wir Aristoteles' Worte überhaupt verstehen wollen, und wir dürfen nicht erwarten, von ihm über diese Mittel aufgeklärt zu werden. So lange wir keinen neuen Stoff in Äuße: rungen des Philosophen erhalten, müssen wir den Aristoteles aufhellen, wird nicht Aristoteles uns aufhellen.

Hinsichtlich der dritten Hauptfrage: Wie bewirken Mitleid und Furcht die tragische Reinigung? erklärt Laehr selbst (S. 103), daß wir bei ihrer Lösung durchaus auf eigene Vermutung angewiesen sind. Er erinnert daran, daß Aristoteles das Mitleid, dessen Bedingung Selbst= losigkeit sei, einen Ausfluß der wackern Gemütsart nenne, daß also, wenn jenes hervortrete, diese in uns vorhanden sei. Wenn schon das gewöhnliche Mitleid, bei dem uns doch nur Schmerz über das ergreife, was wir für uns selbst fürchten würden, wenn es uns bevorstände, sittlicher Art sei, meint nun Laehr, so müsse das Mitleid mit dem tragischen Helden so rein von selbstsüchtigen Beimengungen sein, wie es in uns überhaupt nur erregt werden könne; denn hier sei die Möglichkeit einer besondern Beziehung zwischen Person und Geschick des Leidenden und dem von Mitleid Ergriffenen völlig ausgeschlossen. Die Furcht für uns selbst aber, die durch das den Personen der Tragödie drohende Schicksal in den Augenblicken der höchsten Täuschung in uns hervorgerufen werde, sei, weil sie nur eine Steigerung des selbstlosen Mitleids bilde, erst recht eine reine, nur vom Gesichtspunkt des Schönen ausgehende Furcht.

Ich bekenne offen, daß ich hier Laehr nicht zu folgen vermag. Denn die Furcht kann wohl eine sozusagen geläuterte sein. Ein furchtbares Ereignis ruft bei allen Menschen einen gewissen Eindruck hervor, der aus einer Betrachtung desselben entspringt, welcher sich keiner

1) Laehr sagt S. 85 flg.:,,Der Furcht ist das Mitleid vorangestellt. Der Zuschauer empfindet Mitleid mit dem Helden, dem Helden droht ein Unglück, nun soll der Zuschauer für sich fürchten und zwar offenbar das Unglück, das dem Helden droht. Das wäre doch aber nur dann möglich, wenn Zuschauer und Held eins wären! Aber können sie denn nicht eins werden? Kann denn der Zuschauer nicht im Helden aufgehen? Es ist der einzige Ausweg, der uns bleibt."

[ocr errors]

entziehen kann von furchtlosen Menschen redet man bloß mit Übertreibung Daneben wirkt es auf den oder jenen noch in besonderer Weise ein. Die Tragödie aber wird die allgemeine Furcht erstreben, da nur so der Dichter seiner Wirkung sicher sein kann. Zweitens wird die Furcht dem Grade nach verschieden sein: der eine wird stärker, der andere weniger von ihr erfaßt werden, oder wenn das Gefühl zunächst in allen gleich sein sollte, so wird es doch nicht bei allen den Willen in gleicher Weise bestimmen. Aber welcher Art auch die Furcht sein, in welcher Stärke sie auch auftreten mag: immer wird sie eine Äußerung der Selbstsucht sein, einer Selbstsucht, die ja auch an sich nichts Schlimmes ist, da sie uns von der Natur zum Schuße unseres Daseins gegeben ist. Nicht anders steht es mit dem Mitleid. Auch dieses ist ein Affekt, der uns ergreift, ohne daß unser Wille dabei einen Widerstand auszuüben vermöchte; es ist lediglich der Ausfluß eines natürlichen Triebes. Was aber von natürlichen Trieben in uns liegt, ist an sich weder sittlich noch unsittlich. Wenn also Aristoteles das Mitleid zu den Affekten der wackern Gemütsart rechnet, so denkt er dabei nur an die Folgen, die das Mitleid möglicherweise für unser Handeln hat, indem es zu einer fittlichen That anregt. Für diese sittliche That aber ist entscheidend das Verhalten unseres Willens. Soll demnach die Tragödie das Gemüt gerade für das sittliche Handeln in die rechte Verfassung bringen, so erhebt sich vor allem die Frage, wie sie den Willen beeinflußt. Diese Frage scheint Aristoteles nicht in Erwägung gezogen zu haben; er hat nur an die Reinigung der Affekte gedacht, die für die Herstellung der rechten sittlichen Gemütsart allerdings auch notwendig ist. Laehr aber fand sich vor die Notwendigkeit gestellt, Gedanken des Aristoteles in einen innern Zusammenhang zu bringen, der sich in überzeugender Klarheit überhaupt nicht finden läßt.

Es lag aber noch eine zweite Schwierigkeit vor, wenn Laehr die Ansicht des Aristoteles von der Wirkung der Tragödie sich zu eigen machen wollte, wie er es wirklich thut. Aristoteles sieht diese Wirkung in der Herstellung der rechten Stimmung des Menschen für das an sich Gute. Anderseits fordert er, daß wir uns in den ergreifendsten Augenblicken der Handlung mit dem Helden eins fühlen, daß wir das Schicksal, das ihm droht, für uns selber fürchten. Diese beiden Gedanken stehen in einem Widerspruche, den Laehr fühlte und deshalb auch aufzuheben sucht (S. 105): nach meinem Dafürhalten nicht mit dem rechten Erfolge. Wer im schwersten Unglück das Ziel des Schönen nicht verloren hat, durch niedere Rücksichten nicht von der rechten Gesinnung abgedrängt ist, bei dem sind Lust und Nugen in den Hintergrund getreten, und die rechte Gemütsart ist hergestellt worden": das trifft offenbar nur bei

einigen Personen der Tragödie zu, wenn wir unter der rechten Gesinnung eine sittliche Stimmung verstehen. Wie wir aber für gewöhnlich uns mit der tragischen Person eins fühlen und doch auch wieder ihrer selbst= süchtigen Gemütsverfassung gegenüber die rechte Gesinnung gewinnen sollen, das ist schwerlich zu erklären.

Aber auch die vierte Hauptfrage, die Laehr in seiner Schrift beantworten will (S. 107-124): Wie läßt sich die tragische Reinigung als Ziel der Tragödie vereinigen mit der allge= meinen Lehre des Aristoteles, daß die Kunst Luft wirke, die auf der Nachahmung beruht? bietet eine, wie mir scheint, unlösbare Schwierigkeit. Ich lasse ganz unerörtert, ob das Vergnügen, das wir empfinden, wenn wir in dem Bilde eines Gegenstandes den Gegenstand selbst erkennen, wirklich ästhetischer Art ist, und zeige nur, daß die Lust, die wir nach Laehr bei der Reinigung fühlen, keine Lust an der Nachahmung im Aristotelischen Sinne sein kann. Laehr sagt: In der Tragödie wird erstens Handlung nachgeahmt. Die dadurch hervorgerufene Lust entspringt dem Erkennen der Notwendigkeit und Allgemeinheit der Handlung, die von unserer Vernunft geahnt und gefordert wird. Zweitens werden Menschen von ihr nachgeahmt, Menschen, mit denen wir uns in gewissen Augenblicken ganz eins fühlen sollen. Also auch mit Bezug auf sie kann die Lust an der Nachahmung erregt werden. Das Schicksal dieser Menschen ist freilich ein leidvolles und muß uns als solches mit Unlust erfüllen. Aber dem unbehaglichen Gefühle steht gegenüber die Lust an der Bethätigung der rechten Gemütsart, wie sie ja gerade durch die tragische Reinigung veranlaßt wird. Niemand wird Laehr abstreiten, daß nach den Vorausseßungen des Aristoteles die Reinigung von einer solchen Lust begleitet sein könne. Ist dies aber eine der Nachahmung entspringende Lust? Ist die rechte Gemütsart, die in uns beim Genusse einer Tragödie hervortritt, eine nachgeahmte? Gewiß nicht. Vielmehr entsteht sie infolge der durch die Handlung in uns selber erregten Affekte des Mitleids und der Furcht, die in reiner, der rechten Gemütsart entsprechenden Weise sich bethätigen. Diese Affekte sind nicht nachgeahmt wenn auch die Affekte der tragischen Personen nachgeahmt sind —, und ebensowenig ist die mit ihrer Bethätigung verknüpfte Lust eine nachgeahmte. Nicht die Beziehung, in der die der Nachahmung entstammenden Affekte der tragischen Personen zu allgemein menschlichen Affekten stehen, erzeugt die Lust der Reinigung; diese kann nur der Ausdruck der Befriedigung des auf die Herstellung seiner rechten Verfassung gerichteten Ge= mütes sein. Wenn also Aristoteles in der tragischen Reinigung das eigentliche Ziel der Tragödie gesehen hat, woran im Ernste nicht gezweifelt werden kann, so besteht zwischen dieser Auffassung und seiner

allgemeinen Erklärung der ästhetischen Lust ein nicht auszugleichender Zwiespalt.

Laehr hat, wie ich glaube, in seiner von der Wärme der Überzeugung durchwehten, bei aller Polemik feinen und auch durch liebenswürdigen Humor erfreuenden Schrift die Ansicht des Aristoteles von der Wirkung der Tragödie richtig erfaßt und damit auch Lessings Deutung der tragischen Katharsis neu begründet. Heilsamen Gebrauch von diesen Forschungen aber wird die Ästhetik nur dann machen, wenn sie sich be= wußt ist, daß seit Lessings Erklärung des Aristoteles, wie in anderen Fragen, so auch hinsichtlich der Wirkung der Tragödie tiefere Einsichten gewonnen wurden, vor allem durch die kunstphilosophischen Arbeiten Schillers. Nach Schiller handelt es sich bei der Tragödie nicht um die Erzeugung sittlicher Stimmung im Zuschauer und die damit verbundene Lust, sondern die Tragödie zielt ab auf die ästhetische Wirkung, die der besonders im Leiden sich bewährende starke Wille, gleichviel ob er sittliche oder nicht sittliche Ziele verfolgt, hervorruft. Insofern der unbeugsame Wille von aller Einschränkung frei ist, befindet sich allerdings der tragische Held, wenn er leidet, um dem, was er will, nicht untreu zu werden, in der rechten Gemütsverfassung, und wir, die Zuschauer, ebenfalls, soweit wir an dem, was in der Seele jenes vorgeht, den innigsten Anteil nehmen und uns mit ihm eins fühlen. Wo wir ihm aber bloß als Zuschauer gegenüberstehen, da hat unsere Einbildungskraft in der Willensthätigkeit, wie sie der Held in höchster Erhabenheit zeigt, einen Gegenstand, der ihr Gelegenheit giebt, sich in ihrer ganzen Kraft und Unendlichkeit zu erweisen, sodaß auch dieses Vermögen des Gemütes in einer uns aufs innigste befriedigenden Weise sich bethätigt. Und endlich ist die starke Bewegung des Affektsvermögens nicht minder ein naturgemäßer Zustand, gegenüber der Unempfindlichkeit und Kraftlosigkeit des gewöhnlichen Lebens. Das sind Gedanken, wie sie sich in Schillers Auffäßen über die Tragödie finden und ihre weiter greifende Formung erhalten haben in seiner Lehre vom ästhetischen Zustande, der auch der mittlere Zustand des Gemütes ist, aber in anderm Sinne, als Aristoteles diesen Ausdruck verstand.

Straßburg im Elsaß.

Karl Gneiße.

Zopf und Schwert. Lustspiel in 5 Aufzügen von Karl Guzkow. Zum Überseßen aus dem Deutschen ins Französische neu bearbeitet von Dr. Julius Sahr. 2. Auflage. 2. Ehlermann, Dresden, Boyreau & Chevillet, Paris 1895.

Deutsche Dramen zum Überseßen ins Französische zurecht zu machen, ist eine äußerst lohnende, aber keine leichte Aufgabe. Sie erfordert einen

« ZurückWeiter »