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bei einfachen, natürlichen Zuhörern Erfolg und erhielten sich somit im Laufe dieser immer fortschreitenden Verbesserung. Dies ist der Grund für die allgemein anerkannte, gewöhnlich aber nicht genügend erklärte Vorzüglichkeit aller Volksdichtung.

Dagegen können auf diesem Wege keine Epen nach Art der Jlias und Odyssee, oder des Nibelungen- und Gudrunliedes entstehen, denn so wird nie ein einheitlicher, das ganze Gedicht fest zusammenhaltender Plan geschaffen werden. Daß aber ein solcher in allen Volksepen vorhanden ist, liegt klar zu Tage, und ist auch hauptsächlich nur in Rücksicht auf das älteste derselben, eben die Ilias, öfter bestritten worden. Eine planmäßige Anlage der Ilias zu leugnen, ist aber nur deshalb möglich, weil sie mehr als alle anderen Epen durch spätere Einschiebung verschiedenwertiger Zusäße erweitert und entstellt worden ist. Läßt man diese beiseite, so tritt uns ein geradezu dramatischer Aufbau entgegen,1) eine Eigenart, die auch in der besten modernen Dichtung verwandter Art, in Goethes Hermann und Dorothea, voll nachgebildet ist.

Nur ein einzelner großer Dichter kann einen solchen streng ge= gliederten Plan ersonnen haben, und nichts spricht dagegen, daß er Homer geheißen und daß er in Smyrna geboren war, wo später sein Grab gezeigt wurde, denn er schreibt den Dialekt dieser Gegend und kennt ihre Verhältnisse und Örtlichkeiten. Die voll ausgebildete Sage und viele Einzellieder fand er vor, zum alles beherrschenden Mittelpunkt derselben machte aber erst er den Streit seines Lieblingshelden Achilleus mit dem Oberkönig Agamemnon. Wohl mag er viele einzelne Teile der alten Lieder benugt haben, er selbst aber hauchte ihnen allen seinen Geist ein und ordnete sie seinem einheitlichen Zwecke unter, sodaß sie jezt nicht mehr, wie das im Anschluß an Friedr. Aug. Wolf einige Gelehrte versucht haben, reinlich aus der gesamten Dichtung herausgeschält werden können. Dagegen mögen manche der älteren eingeschobenen Zusäße auf solchen alten Einzelliedern, die sich wohl noch eine Zeit lang neben der Hauptdichtung erhalten haben dürften, beruhen.

Ähnlich war jedenfalls der Gang der Entwicklung bei der mindestens ein halbes Jahrhundert jüngeren Odyssee, die genau so wie die Ilias nur das letzte Jahr, die eigentliche Katastrophe, wirklich darstellt, die vorausliegenden Ereignisse aber durch Erzählung vorführt und so mit der Handlung selbst verwebt. Während aber die Ilias hauptsächlich die Sagen der Stämme des griechischen Festlandes behandelt hatte, verwertet sie diejenigen der Fischerbevölkerung auf den Inseln des Ägäischen und

1) Den dramatischen Aufbau der Ilias habe ich in meiner Griechischen Mythologie (Sammlung Göschen) § 177 flg. nachgewiesen.

Beitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 7. Heft.

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Jonischen Meeres. In demselben Verhältnis stehen bei uns Deutschen das Nibelungen- und das Gudrunlied zu einander. Nur bei jenem find außerdem, so wie bei der Ilias, die der Sage zu Grunde liegenden Ereignisse auf eine geschichtlich bestimmbare Zeit zurückzuführen. Im Haupthelden Siegfried, auf den allerdings im Laufe der Sagenentwicklung zweifellos auch wesentliche Züge von einem altgermanischen Lichtgott übertragen worden sind, haben sich die Schicksale zweier Frankenkönige Namens Sigibert vereinigt. Der erste von ihnen wurde auf Chlodwigs Anstiften im Jahre 508 auf einer Jagd ermordet; der zweite besiegt die Sachsen und Dänen, er ist der Gemahl der Brunhilde und findet durch Fredegunde, Chilperichs Gemahlin, im Jahre 575 den Tod. Mit dem Namen der geschichtlichen Brunhilde verknüpft sich der Mythos von der gleichbenannten Walküre und hilft nun weiter dazu, die Geschichte in Sage umzuwandeln. Ihr zu Liebe wird vielleicht auch Siegfried erst zum Lichtgott. König Gundikar oder Gundahari von Burgund wird 437 durch die Hunnen vernichtet, aber auch der große Sieg der Hunnen bei Chalons vom Jahre 451 dürfte sich wohl im Liede mit spiegeln. Ezel-Attila stirbt bekanntlich 453 und Dietrich von Berne, d. H. Theoderich von Verona, im Jahre 526. Erst die Sage rückt diese über ein Jahrhundert voneinander liegenden Ereignisse und Personen zusammen, sodaß die Handlung etwa um 500 zu spielen scheint.

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Seit dieser Zeit entwickelte sich die Sage in der vorhin geschilderten Weise weiter, doch auch hier sind die Zwischenstufen bis zur Vollendung des Epos um 1200 nicht sicher nachweisbar, obschon manche Erscheinungen auf eine solche Vorstufe der Dichtung in althochdeutscher Sprache entschieden hinweisen. Hier ist sogar, ebenso wie beim Gudrunlied, der Name des Dichters verloren gegangen, vielleicht deshalb, weil in dieser Zeit fahrende Leute, wie überhaupt alle Nichtadligen, noch keinen Familiennamen führten, und ein bloßer gewöhnlicher Vorname, ohne die bei seßhaften Leuten gebräuchliche Angabe ihres Wohnsizes, der Überlieferung kaum wert erscheinen mochte.

Einen Beweis für die Richtigkeit aller unserer Annahmen in Rüdsicht auf die Entstehung des Volksepos bietet uns nun ein weit jüngeres und deshalb seinem Entwicklungsgang nach bekanntes Werk: ich meine die Dichtung Herders, welche die Sage vom spanischen Nationalhelden Cid behandelt. Troßdem dieser in geschichtlicher Zeit lebt er starb im Juli 1099 zu Valencia und seine Thaten schon frühzeitig in geschichtlichen Werken behandelt worden sind, ist er doch zum Helden der Sage geworden, weil sein Volk wegen seines Bildungsstandes von solchen Darstellungen keine Kenntnis hatte, sondern ganz so, wie früher geschildert, die Erinnerung an seinen Liebling nur von Mund zu Munde fort

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pflanzte. Noch nicht hundert Jahre nach Cids Tode ist schon in jenen gelehrten Werken davon die Rede, daß das spanische Volk seinen Lieblingshelden in Volksliedern als nie besiegt besinge. Bald darauf haben zwei allerdings wenig bedeutende Dichter solche Einzellieder zu größeren Gesängen vereinigt, indem der eine die Jugendgeschichte, der andere das Mannes- und Greisenalter seines Helden behandelte. Schon in diesen beiden uns vorliegenden Werken wird Cid, der in Wirklichkeit ein kühner und tapferer, zugleich aber rücksichts- und treuloser Eroberer nach Art der Cortez und Pizarro war, immer fortschreitend veredelt, seine Vorzüge vergrößert und seine Fehler gemildert, auch werden bereits sehr viele dichterisch wirksame, aber geschichtlich bei Cid nicht nachweisbare Züge und Motive in die Darstellung seiner Thaten eingeflochten. Daneben, wenn auch vielfach von diesen Dichtungen beeinflußt, entwickelt sich das eigentliche Volkslied weiter; die alten cantares werden im 16. Jahrhundert in Romanzen umgebildet, und dabei wird auch der Charakter des Helden selbst, den fortgeschrittenen Anschauungen der Zeit entsprechend, umgestaltet. Aus diesen Romanzen schöpft das volkstümliche Drama im Anfang des 17. Jahrhunderts, es vertieft aber die Motive und schafft eine einheitlichere, spannendere Handlung. Insbesondere wird jezt Cids Liebe zu Chimene in den Vordergrund gestellt, und bei dieser der tragische Konflikt zwischen Liebe und Kindespflicht geschaffen. An dieses Vorbild schließt sich Corneille an, dessen Drama die Cidsage in der ganzen gebildeten Welt bekannt machte. Dennoch führt auch er noch nicht den Abschluß dieser Entwicklung herbei.

Im Jahre 1783 erschien in der Bibliothèque universelle des romans eine französische Prosabearbeitung der inzwischen gesammelten Tid-Romanzen, die abermals ordnete, hinzufügte, ausschied, Widersprüche beseitigte und überhaupt in jeder Hinsicht glücklich und mit künstlerischem Geschmack das Überlieferte verschönerte. Dieses Werk ist es endlich, das Herder, der Homer der Cidsage, neben einer Anzahl der spanischen Originalromanzen seiner 1802 bis 1803 ausgeführten Dichtung zu Grunde legte; und wenn er sich selbst auch in seiner Bescheidenheit nur als Überseßer bezeichnet, so hat er doch zweifellos das Verdienst, das eigentliche Epos erst geschaffen zu haben.

Aus alledem geht klar hervor, warum sich in unserer Zeit und gerade in unserm Volke ein Epos nach Art der homerischen Dichtung nicht mehr entwickeln kann. Die bei uns im gesamten Volke verbreitete Kenntnis der Schrift und das dadurch gesicherte Bewußtsein vom geschichtlich Thatsächlichen verhindert jene für die Dichtung notwendige Idealisierung des historischen Stoffes, eine willkürliche Umgestaltung desselben in dieser Richtung würde aber nicht mehr durch den Glauben des Volkes an die

Wirklichkeit der geschilderten Ereignisse getragen werden. Troßdem hat die moderne Dichtkunst diesen Versuch thatsächlich und auch mit einem gewissen Erfolg gemacht, aber nicht in der Form des eigentlichen Epos, sondern in der des historischen Romans. Freilich sind in diesem die Haupthelden der Geschichte nur selten, und immer nur dann als Hauptgestalten der Dichtung verwendet, wenn sie uns zeitlich so fern liegen, daß ihre wirkliche Persönlichkeit bereits troß unserer Geschichtskenntnis dem Volksbewußtsein einigermaßen entschwunden ist.

Dabei drängt sich uns die weitere Frage auf, warum behandeln moderne Dichter solche Stoffe nicht in der Form des Epos, oder warum lassen die modernen Leser jeden solchen Versuch wenigstens durchaus unbeachtet? Mit anderen Worten:,,Warum ist auch das Kunstepos unfähig, moderne Helden würdig zu verherrlichen?" Der Grund hierfür ist der Gegensatz zwischen antik-naiver und modernreflektierender Denk- und Empfindungsweise. Wie die antiken Menschen selbst im Durchschnitt geistig einfacher und deshalb einander innerlich ähnlicher organisiert waren, so war ihnen auch in der Dichtung die Schilderung typisch-einfacher Charaktere und einfach durchsichtiger Verhältnisse vertraut und angenehm. Anders in unserer Zeit der unendlichen Arbeitsteilung und des vollkommenen Spezialistentums. Der antike Dichter führt nur das äußere Ereignis anschaulich vor Augen, die innere Entwicklung berührt er höchstens nebenbei, da sie sich in jedem seiner Zuhörer unter den geschilderten Verhältnissen doch nahezu gleichartig abgespielt haben würde. Aus demselben Grunde läßt er seine eigne Empfindung und seine Gedanken völlig hinter die Darstellung des objektiv Thatsächlichen zurücktreten. Für solche einfache, bilderreiche Anschauung giebt es aber keinen naturgemäßeren Ausdruck als die einfache, aber edelerhabene, die ungehindert fortschreitende und doch streng gebundene Form des epischen Verses. Die metrische Gestalt selbst treibt den Dichter dazu, das Einzelne auf die Stufe des Allgemeingültigen, das Wahre in das Gebiet des Schönen zu erheben. Unsere Zeit, die ja überhaupt das Wahre höher als das Schöne schäßt, verlangt vom Dichter eine volle psychologische Begründung für die Handlungsweise seiner Helden; ihre Empfindungen, Leidenschaften und Gedanken müssen bis auf die lezten Ursachen und Triebe zergliedert vorgeführt werden, damit jeder einzelne Leser, wenn er auch noch so verschieden von ihnen angelegt und ausgebildet ist, im stande sei, sich wenigstens innerlich mit ihnen gleichzusezen, mit ihnen zu denken und zu empfinden und so zu der Überzeugung zu gelangen, daß er in gleicher Lage ebenso wie der Held gehandelt und sich somit auch in die gleiche Schuld wie dieser verstrict haben würde. Ist dies doch der Hauptgrund all unseres Interesses

an Dichtungen jeder Art, zugleich aber der Grund der sittlichen Wirkung einer solchen, da wir bei der innern Gleichsehung unserer selbst mit den Helden der Poesie empfinden, wie leicht wir durch unsere Leidenschaften ebenso wie diese in Schuld und Strafe gestürzt werden können.

Für so verwickelte Darstellung aber ist die langsam fortschreitende, gleichmäßig erhabene und gebundene Form des Epos eine lästige Fessel und daher nicht die naturgemäße Form. Deshalb tritt hier der in ungebundener Sprache geschriebene geschichtliche Roman oder, bei einer in sich geschlossenen Einzelhandlung, das geschichtliche Drama mit Recht an seine Stelle.

Derselbe Gegensaß macht sich endlich auch zwischen dem altepischen Einzelliede und seinen modernen Vertretern, der Ballade und Romanze, geltend. Während jenes die schöne Wirklichkeit in fast sinnlich anschaulicher Form schildert, machen diese wenigstens in ihrer vollkommensten Entwicklung durch Schiller das Streben nach hohen, thatsächlich unerreichbaren Idealen zum Kernpunkt ihrer Darstellung. Bei allen modernen Gedichten dieser Gattung aber tritt die Empfindung des Dichters und der handelnden Personen dem geschilderten Ereignis selbst gegenüber in den Vordergrund. Der Unterschied beider erzählenden Dichtungsarten beruht auf dem zufälligen Umstand, daß wir die Romanze direkt von ihren Erfindern, den auf dem Wege moderner Kultur voranschreitenden romanischen Völkern, übernommen haben, während uns die Ballade das schottische Volk übermittelte, das dieser Form den düster abergläubischen Grundzug seines eignen Charakters aufgeprägt hat. Nur aus diesem Grunde lassen auch Bürger, Goethe und Uhland in ihren Balladen eine düster-geheimnisvoll wirkende Naturmacht so häufig sich geltend machen, während diese Schiller in seiner antikisierenden Periode durch das ähnlich aufgefaßte antike Schicksal oder, wie besonders im Gang nach dem Eisenhammer, geradezu durch das Eingreifen der göttlichen Vorsehung ersetzt. In den vorzüglichsten Dichtungen dieser Art macht er aber, wie ich schon angedeutet habe, an Stelle jener Macht eine klare sittliche Idee zum beherrschenden und alles belebenden Mittelpunkt der Darstellung. Ich erinnere nur an die Verherrlichung der Freundestreue in der Bürgschaft und an die der Demut im Kampf mit dem Drachen, sowie im Grafen von Habsburg.

So vollkommen ist also auch das epische Einzellied, der Richtung des modernen Geisteslebens entsprechend, umgestaltet worden, aber dennoch fann wenigstens dieses noch zum Lobe moderner Heldenthat verwendet werden. Freilich tritt viel häufiger dafür das rein lyrische Lied ein, wie die Hochflut derselben beweist, die während des großen deutschen Krieges entstanden ist.

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