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herausgeborene Lesebuch in Deutschland an höheren Bürger-, Handels-, Realschulen und Realgymnasien — für unsere humanistischen paßt es nicht ebenso zu benußen, wäre ein schöner Beleg für den unlösbar engen Zusammenhang zwischen jenen fernen Söhnen der Germania und ihren im Mutterhause gebliebenen Kindern. Ich wüßte nach genauer Durchnahme nichts zu nennen, was den von Th. Vogel,,,Was soll und kann im deutschen Unterrichte der Unter- und Mittelklassen das Lesebuch Leisten?" (Neue Jahrbüch. f. Philol. u. Pädag., 1893, 2. Abtlg. S. 2-11), aufgestellten und von O. Lyon, „Über die Stellung des Lesebuches im deutschen Unterrichte“ (Ztschr. f. d. deutschen Unterr. VII 131—134), unwesentlich modifizierten Erfordernissen, insbesondere in Hinsicht auf den daselbst gewünschten „Dualismus“ von Lektüre und allseitigen Übungen sowie Lyons deutlich gefaßte Ziele formaler Ausbildung und geistigen Eindringens, später sittlich-ästhetischen Umwertens der Stoffe, zuwiderliefe. Im Gegenteil: es dürfte in dem aller paar Jahre mächtig angeschwollenen Strome der Lesebuch - Neuerscheinungen selten ein Beispiel begegnen, wo Feinsinn und sachliches Verständnis sich zu solch wohlgeratenem, übrigens, wie alle dortigen Drucksachen, hygienisch und ästhetisch vorbildlich ausgestattetem Erzeugnisse gepaart hatten. Denn leider herrscht gerade in diesem Sachbezirke des Büchermarkts, wo lediglich die Sorge für das schwerste und verantwortungsvollste Unterfach des Unterrichts maßgeblich sein sollte, häufig genug flüchtige Büchermacherei, die buchhändlerischer Monopol - Spekulation unter die Arme greift.

D. Netoliczka und H. Wolff wissen sich davon völlig frei. Sie find der dringenden Notwendigkeit, noch dazu eingeladen, entgegengekommen, fie haben den Schweiß eines guten Jahres, d. h., wie ich weiß, die Muße- und Nachtstunden nach höchst anstrengendem Lehramte, daran gesezt, sie prüften überall die Urtexte, soweit sie erlangbar, beschieden sich nirgends mit glattem Kopieren der Prosa, walteten vielmehr mit jedem sorgsam auserlesenen Stücke als überlegte Bearbeiter, sie betonten bei der Auswahl das Erzieherische und fahndeten beim Einheimsen der anmutenden Materialien besonders gern auf vaterländische und heimische Stoffe. Al diesen Mühen unterzogen sie sich nur im Hinblicke auf den Dienst, den fie damit ihren Volksgenossen leisten, denn der Spielraum des möglichen Eindrucks ihrer That mußte ja von vornherein als ein recht begrenzter gelten. Viel Aufmerksamkeit ist auf das Anordnen der sieben prosaischen (Märchen, Sagen und Legenden; Geschichtliches; Erzählungen und Schwänke; Fabeln und Parabeln; Bilder aus dem Tierleben; Aus der Himmelsund Erdkunde) und sechs poetischen (Geistliche und weltliche Lyrik; Legenden, Sagen und Märchen; Geschichten; Erzählungen und Schwänke; Fabeln und Parabeln; Rätsel, Sprichwörter und Sprüche) Abschnitte und,

der Rede

wie das methodisch wichtige Vorwort hervorhebt, auf das innere Verzahnen 195, davon 95 (an Seitenzahl 244 von 326) in ungebundener Nummern aufgewendet worden. So steht die Fülle aufge= speicherten Stoffs im Banne geistiger Harmonie. Außerdem findet man alle Schulklassiker (von Herder bis Uhland und Geibel) sowie die forterbenden pädagogischen Muster von Campe bis Otto Willmann') richtig vertreten, ferner neben vielen sonst oft übersehenen Männern die Blüte der sächsischfiebenbürgischen Litteratur: Haltrich, Fr. Müller, G. D. Teutsch, Fronius, bei den Dichtern den ausgezeichneten Michael Albert, den erst vor wenigen Jahren zu früh verstorbenen Schäßburger Professor. Zu gern ergreife ich den heutigen Anlaß, um die Lehrer der deutschen Sprache und Litteratur auf lezteren Genossen in der Unterweisung der ersteren und glücklichen Pfleger der zweitgenannten nachdrücklich hinzuweisen. Er lebte vom 21. Oktober 1836 bis 21. April 18932) und bekundete neben einer feinen Begabung für die Heimatlich gestimmte Novelle3) und der, erst hinterher recht zugänglich gewordenen lyrischen Kraft eine sichere, flüssige dramatische Ader: dies namentlich1) in dem hinterlassenen „Ulrich von Hutten), den Netoliczka übrigens ebenfalls) durch eine knapp umrissene Inhalts- und Gedankenperiphrase sofort dem Publikum warm ans Herz gelegt hat. Dem Publikum" muß ich leider mit dem Fremdworte sagen, weil ich das stimmungsgewaltige Geschichts- und Seelengemälde, dessen Schönheiten Netoliczka am ebengenannten Flecke mit dem im,,Lesebuch “ stets ersichtlichen Individualitätsgefühl zum Bewußtsein bringt und auch in dem sogleich angeführten Essay streift, nicht auf „die Leser“ be= schränken will und mich leider nicht auf „Hörer und Zuschauer“ beziehen kann, denen Netoliczkas Schlußworte eine Gelegenheit herbeiwünschen.

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1) Der als mittelbarer Schüler Herbarts, unmittelbarer Tuiston Zillers im Sinne einer praktisch-idealistischen Didaktik die Pädagogik-Professur an der deutschen Universität zu Prag ausfüllt und in seinen theoretischen Schriften wie in den ,,Lesebüchern" vortreffliche Winke, nußbare Unterlagen zur Gestaltung des deutschen Unterrichts gewährt.

2) Lebensabriß und Biographie findet man jezt kurz und bündig am bequemsten in der im Erscheinen begriffenen,, vierten, völlig neubearbeiteten und stark vermehrten Ausgabe“ (1896) von Fr. Brümmers ,,Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten des neunzehnten Jahrhunderts" (Reclams Universalbibliothek) I S. 28 b.

3) Die Dorfschule (1866), die Kandidaten (1874), Traugott (1874), Altes und Neues. Siebenbürgisch-sächsische Erzählungen (1890).

4) Die Flandrer am Alt-Schauspiel (1. und 2. Aufl. 1883); HarteneckTrauerspiel (1886); Ulrich von Hutten (j. o.).

5) Noch 1893 erschienen, wie Alberts Lyrik (j. o.) und unser,,Lesebuch" im Krafftschen Verlage zu Hermannstadt.

6),,Kronstädter Zeitung", 1893, Nr. 302.

Als Alberts herrliche Gedichte", nach dem Tode gesammelt, herauskamen, hat sie Netoliczka in der Kronstädter Zeitung Jhrg. 57, Nr. 298, am 22. Dezember 1893, mit einer ihre Pracht, Vielseitigkeit und Tiefe abspiegelnden Charakteristik schwungvoll begrüßt, und in derselben Stimmung bewillkommnen wir in dem,,Lesebuche" eine neue vollreife Frucht deutschnationalen und deutschpädagogischen Empfindens da unten: denn sie entsproß im Acker heiligster Pflicht.

Nein wahrlich, so lange aus diesem selben Acker noch eines deutschen Lehrers echte und große Poesie wie die Alberts hervorkeimt und in seine Furchen noch eine Saat gestreut wird, wie es mit dem Werke Netoliczkas und Wolffs geschieht, da hat es mit der Angst, die hehre Mutter Germania könne einmal diesen alten Besißstand einbüßen, für manche Weile gute Wege. Wir aber in schier ungestörter Fähigkeit uns national nach Herzensluft zu tummeln, sollen nie vergessen, daß das Häuflein der Siebenbürger Sachsen an sich und seiner alle Umgebung bändigenden Kultur mit deutscher Sprache und Schule niemals verzweifeln wird, so lange wir ihrer stärkend gedenken. In der treuen Hingabe an den deutschsprachlichen Unterricht bei Lehrenden und Lernenden, in dem ihm von Behörden, Erziehern und Eltern, kurzum vom ganzen kleinen1) und doch so bedeutsamen Stamme beigemessenen Werte ruht nicht bloß das sicherste Bollwerk wider die unablässige Drangsal seitens der übermächtigen natio nalen Feinde, sondern auch Schuß und Schirm deutschen Volkstums für alle Zukunft.)

1) Nicht einmal ganz 10 Prozent (217670, d. i. 9,67 Prozent) der Bevölke rung Siebenbürgens entfallen auf die Sachsen (die mit den übrigen deutschsprachlichen Volksgenossen der östlichen Hälfte Österreich-Ungarns, z. B. den fast viermal so starken, aber national weit lässigeren, Schwaben" im ehemaligen Banat, die sich keine einzige deutsche Mittelschule gerettet haben, ohne Zusammenhang sind), 9,27 Prozent auf die Lutheraner. Näheres bietet F. G. Schultheiß' obengenannte äußerst gründliche und begeisterte Schrift (1895) S. 68 flg. (der S. 72-75, 39, 43, 112 flg. die deutschen Sprach- und Schulverhältnisse etwas günstiger als ich ansieht); vergl. auch H. Nabert,,,Die Bedrängnis des Deutschtums in ÖsterreichUngarn" (1894), S. 8 flg. und 38-46, daneben ebendesselben Buch „Das deutsche Sprachgebiet in Europa und die deutsche Sprache sonst und jezt“ (1893), S. 53, 78, 80.

2) Nach Erledigung der Druck-Korrektur vorstehenden Artikels erschien in der 36.,, Beilage zur (Münchner) Allgemeinen Zeitung" 1896 (13. Febr.) ein ch. gezeichneter Aufsatz Zur Erinnerung an drei Siebenbürger Deutsche", der G. D. Teutsch (vergl. jezt auch Allg. dtsch. Biogr. 37, 618-628), M. Albert und J. Wolff ausführlich würdigt und jedem unserer Leser nachdrücklich empfohlen sei.

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Ursprung und Entwicklung des Heldengesanges. Von H. Steuding. 479

Ursprung und Entwicklung des Heldengesanges.
Von H. Steuding in Wurzen.

Bei der Erinnerung an unsern großen Krieg und Sieg der Jahre 1870/71 hat sich wohl schon manchem Lehrer des Deutschen die Frage aufgedrängt, wie es kommt, daß diese gewaltige Zeit in ihrer Gesamtheit keinen würdigen Sänger findet, obwohl sie an weltgeschichtlicher Bedeutung jeden der in den alten Epen geschilderten Kriegszüge mit ihren Musterbildern persönlicher Tapferkeit so weit übertrifft.

An die Stelle des begeisternden Heldenepos ist jezt die kritische Geschichte getreten, auf dem Gebiete der Dichtung aber bieten das historische Drama und die Ballade nur bei der Verherrlichung einzelner Thaten oder Ereignisse einen hinreichenden Ersay. Muß nun der moderne Held wirklich einstimmen in die Klage Alexanders, der den Achill um seinen Sänger, den Homer, beneidete?

Wenn ich durch diese Frage das Interesse der Schüler erweckt habe, pflege ich (in der Oberprima des hiesigen Gymnasiums) zur Beantwortung derselben das Verhältnis von Held und Sänger, d. h. den Ursprung und die Entwicklung des Heldengesanges etwa in folgender Weise darzulegen.

Alles Wissens und aller Kunst Anfang suchten die Alten bei Homer; wenn wir aber über das Heldenlied sprechen wollen, müssen auch wir mit ihm beginnen. Der große Kriegszug, der den Stoff der Ilias bildet, hat höchstwahrscheinlich in der Zeit zwischen 1400 und 1200 vor Chr., der Blütezeit von Mykene, stattgehabt. Vor kurzem nämlich ist durch mancherlei bei den Ausgrabungen gemachte Funde nachgewiesen worden, daß in vorhistorischer Zeit zwischen Mykene, dem Herrschersit des Agamemnon, und Troja, dessen Lage auf dem Hügel von Hissarlik jezt als erwiesen gelten muß, eine enge Beziehung bestanden hat. Produkte mykenischer Kunstfertigkeit, insbesondere eine ganz eigentümliche Art von thönernen Bügelkannen, finden sich auf diesem mit Schutt bedeckten Hügel, und zwar in der sechsten Schicht von unten, die aus den Trümmern einer reichen, stark befestigten und in ihrer Blüte durch Brand völlig zerstörten Stadt besteht. Die Lage des Orts und diese Fundthatsachen entsprechen völlig der Schilderung der Ilias. Die Zeitbestimmung ist besonders durch die sicher datierbare Darstellung der gleichen mykenischen, von Griechen in homerischer Tracht getragenen Gefäße in einem kürzlich aufgedeckten ägyptischen Grabe gelungen. Etwa vierhundert Jahre später, um 850 vor Chr., ist die Ilias gedichtet. Frühstens in dieser Zeit selbst ist die Schrift in Griechenland zur Aufzeichnung von Ge= dichten verwandt worden. Jahrhundertelang erzählte man also nur

mündlich, und zuerst selbstverständlich in prosaischer Form, von den Thaten jener Helden vor Troja. Dabei verwandelte sich bereits ganz naturgemäß allmählich die Geschichte in Poesie, denn wie noch heute gar mancher, der eine Geschichte wiedererzählt, ganz unabsichtlich und ohne täuschen zu wollen, gleichgültige Nebendinge wegläßt, ausschmückende Züge hinzufügt, die Pointe besser herausarbeitet, ja auch wohl, ohne starke Gewissensbisse zu empfinden, ihm sonst bekannte Aussprüche oder Thaten dem Helden seiner Erzählung beilegt, so wurden jene ursprünglich geschichtlichen Einzelgestalten durch die fortwährende Wiederholung und Weiterentwicklung dieser verschönernden Art der Erzählung allmählich zu typisch einfach geschilderten, nur wenige, aber um so klarer hervorgehobene Seiten. ihres Wesens zeigenden Helden der Dichtung, deren Bild sich uns um so leichter einprägt, je weniger die wesentlichen, charakteristischen Züge durch unbedeutende Nebendinge verwischt und verdunkelt werden. Ebenso wurden die Ereignisse selbst allmählich immer mehr verklärt und verschönert, Interessantes hinzugefügt, Langweiliges weggelassen und die einzelne Thatsache auf die Stufe des Allgemeingültigen erhoben.

Vor Verbreitung und regelmäßigem Gebrauch der Schrift giebt es nun überall, da auch auf solcher Kulturstufe die Menschen gern Neues erfahren, eine Klasse von Leuten, die von Ort zu Ort wandernd aus dem Erzählen ein Geschäft machen. Rhapsoden nannte man sie, vielleicht nach dem Wanderstabe, den sie beim Vortrage in der Hand hielten, in Griechenland, bei uns hießen sie „das fahrende Volk" oder nur „die Fahrenden," die, bei jedem wichtigen Ereignis nach Art moderner Berichterstatter zugegen, die Kunde davon singend und sagend im Lande umhertrugen. Sie sind es nun zweifellos, die zunächst die wichtigsten, immer wieder von ihnen in typischer Form erzählten Züge der bereits zur Sage umgebildeten Geschichte in rhythmische und deshalb leichter zu erlernende Form brachten. Diese selbst aber entlehnten sie jedenfalls den priesterlichen, stets in Verbindung mit dem rhythmischen Tanzschritt vorgetragenen Gesängen zu Ehren der Götter, die eben des begleitenden Tanzes wegen zuerst taktmäßig gestaltet worden waren.

Solche Heldenlieder wurden nur an den interessantesten Stellen in die einfache Erzählung eingeschaltet; jeder Nachfolger besserte aber, da es keine schriftlich festgelegte Form derselben gab, an ihnen, was ihm oder seinen Hörern nicht gefiel, schuf selbst auch nachahmend andere Teile derselben Sage zu solchen Liedern um, bis sich ein ganzer Liederkreis bildete, in dem aber infolge der immer wieder durch Sänger und Zuhörer geübten natürlichen Kritik nur das Wirksame und Gute Bestand hatte. Denn nur die Lieder, welche in Rücksicht auf Einfachheit, Klarheit, Anschaulichkeit und Kraft der Empfindung untadelig waren, hatten

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