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Simrocks vom 22. Mai 18711) atmet. Dort heißt es: „Über die Tageskritik betrüben Sie sich nicht. Das Publikum ist nicht gewohnt auf sie zu achten. Meine Bücher werden von der Presse systematisch totgeschwiegen und leben doch zuweilen wieder in neuer Auflage auf. Ich glaube gar nicht an Kritiken! Wohin ich sehe, giebts nur Kliquen.' Am besten hat fich auch hier wieder Goethe darüber zu trösten gewußt.,Alles bleibt so stumpf, Sei guter Dinge! Der Stein im Sumpf Macht keine Ringe.' Wie die Tagespresse mich ignoriert, so halt' ichs auch mit ihr. Ich bin nicht Mitarbeiter irgend einer Zeitschrift, sonst würde ich wohl irgendwo eine Anzeige Ihres Büchleins veröffentlicht haben."

Vorstehender Aufsaß maßt sich nicht an, als Ganzes die Wissenschaft bereichern zu wollen. Auf dreierlei zielt er, leider viel später als abgeschlossen wirklich in Druck gelangt2), ab: er will zunächst einem bei der Litteraturgeschichtschreibung und Litteraturkritik bis dato in der Regel zu kurz gekommenen großen nationalen Dichtwerke und dem bescheidenen Verfasser den geziemenden Plaß einräumen, indem er aufzeigt, wie Karl Simrock mit seinem,,Amelungenliede“ aufzufassen ist; sodann strebt er an, von dessen hohem bildenden Gehalte eine Ahnung zu erwecken, und tritt für entsprechende Rücksichtnahme seitens des deutschen Unterrichts ein; zu guterlezt möchte er die drei Bände prächtiger Nibelungenstrophen weiterhin dem deutschen Hause, sowie allen aufrichtigen Freunden wahrer, hoher Poesie, der nationaler Pulsschlag das Leben gab und erhielt, aufs innigste empfehlen, er erkühnt sich dabei auch die Fachgermanisten, und zwar auch außer denen der Lehrer im Schulamte), einzuladen, nicht bloß zum sporadischen Blättern und etwaigen Aufspüren von Anklängen der alten Vorlagen, sondern zur echten und rechten Lektüre: denn eine solche wird bei jedem, der noch nicht gegen das in seiner Ehrwürdigkeit frisch gebliebene deutschvolksmäßige Versmaß versteift ist, reichen Genuß erzeugen. Wenn dieser mein Wunsch sich erfüllen wird, so gebührt der Dank jedoch nicht mir, sondern meinem Anreger Karl Landmann, der mir frühere eigene Freude am,,Amelungenlied" erneut und diese, nicht der Untersuchung geweihten Blätter vom Schreibtisch auf die Straße gejagt hat.

1) Durch Dr. G. A. Müller im Feuilleton der „Frankfurter Zeitung" vom 23. Mai 1894, Erstes Morgenblatt, veröffentlicht.

2) Im Mai 1894 der Redaktion eingeliefert (und daher Ztschr. f. deutsch. Philol. XXVII, 412 [vergl. XXVIII, 560 Anm. 1] zu früh angekündigt), aber aus Raummangel hinausgerückt und daher inzwischen mannigfach erweitert.

3) Dünßer a. a. D. III 3 flg. nimmt auf Simrocks Fürsprache eines gedeihlichen deutschen Unterrichts mit germanistisch gebildeten Lehrern Bezug, wie ihn die Vorrede zu Simrocks,,Altdeutschem Lesebuch“ verficht.

Ein neues Handbuch der germanischen Mythologie.

Von Karl Landmann in Darmstadt.

Mit vollem Recht hat der Herausgeber dieser Zeitschrift Bd. 6, S. 288 das Erscheinen der deutschen Mythologie von Fr. Kauffmann aufs freudigste begrüßt. Denn anstatt einer von Liebhaberhand mit Bilderschmuck und in Prachtband zu entsprechendem Preise hergestellten Be= arbeitung dieses Gegenstandes, wie sie bis dahin üblich gewesen waren, eine solche aus der Feder eines Universitätsdozenten zu dem bei der Sammlung Göschen“ unabwendbaren Preis von 80 Pfg.: das war wirklich ein Ereignis in der pädagogischen Litteratur, bei dessen Eintritt man sich selbst jugendlich angeregt fühlen konnte.1) Und die bald notwendig gewordene zweite Auflage hat diese Freude vollauf gerechtfertigt. Inzwischen ist eine andere Sammlung, die der,,Deutschen Schulausgaben von H. Schiller und V. Valentin, mit einem ähnlichen Büchlein eröffnet worden. Und wer des Verfassers Streben, die Ergebnisse seiner Wissenschaft zum Gemeingut für die Gebildeten aller Stände zu machen, kennt, der konnte wohl hinter diesem Büchlein zum Schulgebrauch ein ausführ: licheres Werk erblicken, das, nach denselben Grundsägen angelegt, jene Ergebnisse mit tieferer Begründung in weitere Kreise hinauszutragen bestimmt war. Dem Büchlein „Götterglaube und Göttersagen der Germanen“ (Dresden bei L. Ehlermann 1894, 66 S.) ist nun das Handbuch der germanischen Mythologie von Wolfgang Golther, (nunmehr) ord. Professor an der Universität Rostock (Leipzig bei S. Hirzel 1895, XII und 668 S. gr. 8o), gefolgt, das in den nachstehenden Zeilen einer etwas eingehenderen Besprechung unterzogen werden soll.

Als die neuesten Darstellungen der germanischen Mythologie bezeichnet der Verfasser (S. 48/9) neben der seinigen die von Elard Hugo Meyer (Berlin 1891), der auch J. Grimms Deutsche Mythologie in der 4. Auflage herausgegeben hat, und die von Ed. Mogt in Pauls Grundriß der germanischen Philologie, beide mit gebührender Würdigung ihrer wissenschaftlichen Bedeutung. Neben seinem eigenen Schulbuch nennt er das von Fr. Kauffmann mit Hervorhebung der Punkte, in denen sich beide unterscheiden, und mit dem Hinzufügen, daß sich sein eigenes Büchlein zu dem vorliegenden Buche verhalte wie ein Entwurf zur Ausführung, die aber zugleich vieles zu berichtigen hat." Vergleichen

1) Vergl. auch Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte, Bd. 1: I, 5. 93 (R. M. Meyer) mit Hinweis auf Deutsche Litteratur-Zeitung 12, S. 1050 und Lit. Centralbl. 1890, S. 892/3.

wir diesen Endpunkt der geschichtlichen Einleitung des Handbuches mit der Rezension, die Kauffmann neuerdings (Ztschr. f. d. Philologie Bd. 28, S. 245-248) dem Werke von E. H. Meyer hat angedeihen lassen, so finden wir in dem so wichtigen Einteilungsgrunde der germanischen Mythologie drei gegen einen: Meyer und Mogk und Golther, die eine niedere und eine höhere Mythologie unterscheiden, gegen Kauffmann, der diese Unterscheidung eine ,,widersinnige" nennt. Es ist nicht unsere Absicht, in dieses Kampfgebiet einzutreten. Wir führen die mitgeteilte Redeblume, der wir noch andere, wie die im Buche aufgestapelten reichhaltigen Materialiensammlungen“, „,verfehlt und unfruchtbar" anfügen können, lediglich an, um von vornherein auszusprechen, daß wir in dem Buche von Golther bei allen Abweichungen in Einzelheiten auch nicht einen Ausdruck gefunden haben, der in die hier angeschlagene Tonart einstimmte1), daß dagegen die drei angeführten Werke in den wichtigsten Fragen die erfreulichsten Berührungspunkte bieten.

Was das vorliegende Handbuch von den beiden andern Darstellungen wesentlich unterscheidet, während es dasselbe dem Kauffmannschen Buche nähert, das ist die bereits angedeutete Bestimmung für weitere Kreise. · Und dazu ist es durch den Verfasser, wie durch den Verleger, auf dessen Veranlassung es geschrieben wurde (s. Vorwort), vortrefflich eingerichtet. Der gelehrte Apparat ist mit möglichster Vollständigkeit in Fußnoten „aufgestapelt“, der fortlaufende Text liest sich wie eine gute Unterhaltungslektüre, deren wissenschaftliche Grundlage man stets vor Augen hat, und die durch die eingefügten Sagenbruchstücke (meist nach Uhland) und Liederstrophen (aus H. Gerings Eddaübersehung, der auch die mythischen und heroischen Erzählungen aus der Snorra Edda entnommen sind) eine angenehme Abwechslung erfährt. — Am wenigsten freilich treten diese Vorzüge im ersten der vier Hauptstücke: Die Gestalten des Volksaberglaubens (S. 72-191) hervor. Aber auch schon hier ist durch eine reiche Sammlung von Beispielen, auf die nicht bloß in Klammerzitaten hingewiesen ist, sondern die in gefälliger Form erzählt werden, dem Grundsatz des delectando docemus ausreichend Rechnung getragen.

Das wichtigste und darum umfangreichste Hauptstück ist natürlich das über den Götterglauben (S. 192-500). Welche Bedeutung Golther der Entwickelungsgeschichte des Gottesbegriffes beilegt, beweist die

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1) Die einzige den Freund des Friedens in wissenschaftlichen Dingen ansprechende Ausführung in dieser Rezension des Meyerschen Werkes ist die Schlußbemerkung der Redaktion, die die elende Ausstattung",,,den blassen, schmierigen Druck auf jämmerlichem Papier" mit gebührender Schärfe rügt: ein Umstand, der neben dem Erscheinen von Pauls Grundriß begreifen läßt, warum die,, Lehrbücher der germanischen Philologie" nach dieser Nr. I nicht fortgesezt wurden.

Thatsache, daß die zwei ersten Seiten dieses Hauptstückes, von einer kleinen redaktionellen Änderung im Handbuch abgesehen, ganz ebenso bereits in das Schulbuch (S. 16/7) eingestellt waren. Die zwei folgenden Säße, die wir daraus entnehmen, mögen den Gang der Darstellung programmatisch andeuten:,,Drei Göttergestalten sind allein mit Sicherheit zum Urbestand des germanischen Himmels zu rechnen: der des Donners mächtige Himmelsgott (Juppiter tonans), in die zwei Gestalten des Tiuz und Thonaraz gespalten, und seine Gattin Frijô, die Liebliche. Alles andere scheint Sonderbildung der einzelnen Stämme und Kultverbände zu sein.“ Und eine ganz kurze Übersicht über den ersten Abschnitt (Die einzelnen Götter. I. Tiuz. S. 200—217) möge die Art der Behandlung durch das ganze Buch hin kennzeichnen: 1. Des Gottes Art und sein Kult. Der idg. Dieus, der Gott des strahlenden Himmels und Tages, wurde auch bei den Germanen verehrt ... Aber nachdem Kampf und Kriegsfahrt zur ersten und wichtigsten Lebensaufgabe der Germanen geworden war, wandelte sich die leuchtende, in erhabener Ruhe über den Wolken in lichten Himmelshöhen thronende Gestalt des idg. Göttervaters zum schwertfrohen Helden... In dieser Eigenschaft lernten ihn die Römer kennen, welche ihn als Mars umschrieben." Und nun folgt: seine Verehrung bei den Semnonen, Hermunduren, Goten; das Schwert als Abzeichen des Gottes, der Schwerttanz, die weißen Rosse (Tac. Germ. 10); der Fund des Mars Thingsus zu Housesteads (1883) und der Kampf der Historiker und Philologen um denselben (W. Golther:,,Der Mars, der die friesische Truppe beschüßt, nichts weiter will das Beiwort sagen "); die Cyuuari-Suâpa und ihr Hauptsiz Ciesburc, der schwäbische Ziestag und der bairische Ertag (,,der,hieratische' Name der Schwaben und der ihrer,Ziuburg mit Vorsicht aufzunehmen"); die göttliche Abstammung der drei Hauptstämme der Germanen: Tuisto, Mannus, die Stammesheroen Ingvio, Istvio, Irmino (,,Geistvoll weiß Müllenhoff diese ,hieratischen Kultnamen' auszulegen; doch unumstößlich feste Beweise sind nicht erbracht"); die Erklärung Laistners: Ingvaeonen, die Einheimischen', Erminonen, das Großvolk', Istvaeonen die Echten'; Verbreitung der Ingvaeonen und Erminonen: Freyr Ingvifreyr, Stéaf; die irminsûl und die Eresburg (,,Tiuz, aus dem Himmel unter die Menschen herabsteigend, ward der Vater der westgermanischen Hauptvölker"); der nord. Tyr noch im 6. Jahrhundert der höchste Gott der Skandinavier; das irische dîberc Týverk, Werke des Tyr': Wikingerthaten; der northumbrische Kampfruf aus der Schlacht bei Flodden (1513):,,Teer yebus, ye Teer ye Odin",Thr habe uns, Thr und Odin!' - der Ertac der Baiern (Mogk, Pauls Grundr. I. 1055); die alts. Abschwörungsformel v. J. 772: Sarnôt Tiu, Schwertgenoß (,,Der Gott nahm auch hier den Namen

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von seinem Volk)." 2. Spuren von Mythen: Der von Tacitus (Germ. 43) berichtete Kult der Zwillinge (Dioskuren, Alkîz) und seine Verwertung für die deutsche Heldensage (Harlunge, Hartunge) durch Müllenhoff (,,Über Vermutungen gelangt der Versuch, germanische Tiuzsagen wieder herzustellen, nicht hinaus... Nur eine einzige Sage, wie der Himmelsgott sein Weib gewann, hat sich in lebendiger Darstellung erhalten"). Mit dem zuletzt angeführten Sage leitet der Verfasser auf Freyr über (S. 218-242). Die angedeutete Sage ist die dem Swipdagliede zu Grunde liegende, die sich in veränderter Fassung unter dem Namen Freys im Skirnirlied wiederholt. Des Gottes Art und sein Kult ist mit klaren Strichen aus der Verehrung der Nerthus bei den ingvaeonischen Stämmen (Tac. Germ. 40) abgeleitet (Njord = Nerthus, nach der Zweigeschlechtigkeit der urgermanischen u-Stämme mit dieser verwechselt, daher Vater des Freyr und der Freya mit seiner eignen Schwester und mit diesen Geisel im Friedensschluß nach dem Wanenkriege). Ergebnis des lezteren:,,Asen und Wanen, Odin und Freyr herrschen. zusammen... Ein Ausgleich gewährte den Asen im Schwedenland Opfer und Tempel, aber Freyr verschwand nicht vor Odin, er trat ihm gleichberechtigt zur Seite" (S. 222/3). Bevor die Darstellung zu der hier bereits angedeuteten Herrschaft Odins im Norden vorschreitet, stellt der Verfasser S. 242-283 die andere Seite des Juppiter tonans in Donar-Thor, dem gemeingermanischen, vorzugsweise aber norwegischen Bauerngotte dar, der gerade im Norden von einem reichen Kranze von Sagen und Märchen umwoben ist und auch im heutigen Volksglauben noch fortlebt:,,Während im An. der Donner mit thruma bezeichnet wird und das gemeingermanische Wort nur im Namen des Gottes weiterlebt, weist dän. torden, schwed. tordön auf thorduna d. i. Thors Getöse zurück. Im Schwedischen ist ein zweites Wort für Donner åska aus åsaka, neben welchem die Mundart toraka bietet. åka bedeutet Fahren. Der Donner ist also Thors oder des Asen Fahrt. Noch jezt also erkennt die Sprache Asathor an, der in den Wolken dahinfährt" (S. 283).

Wie das Hauptstück über den Götterglauben im Handbuch, so -nimmt der Abschnitt über Wodan-Odin in diesem Hauptstücke den weitesten Raum ein (S. 283-359). Und der Weg von dem Sturmgeiste Wode, dem Anführer des wütenden Heeres, bis zu Wodan, dem ,,vergöttlichten Wode", der bei den rheinischen oder istvaeischen Stämmen im 1. Jahrhundert nach Chr. (vergl. Tac. Germ. 9) bereits den Sieg errungen hatte, dann weiter im 3. und 4. Jahrhundert in NorddeutschLand zu hoher Machtstellung gelangte (vergl. die alts. Abschwächungsformel Thuonar ende Uôten ende Saxnôte), der Stammvater aller ags. Könige wurde, in der longobardischen Sage festen Fuß faßte und als

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