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biet der Konjugation für die zweite Person sing. zur Herrschaft gelangte Suffixum st, sondern ein einfaches t erscheint, so wird wohl der Grund in dem überwiegenden Einfluß des nahe liegenden präsentischen art zu suchen sein. Umgekehrt wird im Nordischen das aus dem Germanischen übernommene t beseitigt, indem im Singularis des Präteritums derselbe Ausgleich eintritt, den wir bereits im Präsens wahrgenommen haben. Dem er des Präsens entspricht nämlich im Neunordischen das für den ganzen Singularis geltende var; ebenso gleicht der Pluralis praet., um das auch noch hinzuzufügen, dem Plural des Präsens, indem im westnordischen vâre der dem ere des Singularis entsprechende Ausgleich durchgeführt ist, während die ostnordischen võre, vōren und vōro dieselbe Trennung zeigen wie die entsprechenden präsentischen Bildungen.

Höchst interessant nennt Jakob Grimm, Gramm. IV, S. 160, das deutsche verbum substantivum, und wirklich in der Mannigfaltigkeit seiner Bildungen und seiner bewegten Geschichte ist es ein Mikrokosmus, der das Leben der Gesamtsprache darstellt. Wer den Verlauf solcher Schicksale, wie wir sie hier vorgeführt haben, überblickt, dem wird wieder einmal das klassische Wort Herders deutlich: „Und so ward nach großen Revolutionen die Sprache eine Schazkammer, die reich und arm ist, Gutes und Schlechtes in sich faßt, gewonnen und verloren hat, Zuschub braucht und Vorschub thun kann, die aber, sie sei und habe, was sie wolle, eine ungemein sehenswürdige Merkwürdigkeit bleibt." Und doch wie weit war Herder noch entfernt von der Erkenntnis der Gefeße, die heute durch die Sprachgeschichte und die vergleichende Sprachforschung erschlossen sind! Und wie vieles liegt auch jezt noch im Dunkeln! Ja, die lezten Quellen der lautlichen Veränderung, der sprachbildenden und sprachzerstörenden Mächte werden uns immer verborgen bleiben. Wohl können wir beobachten, wie von einem bestimmten Anstoße ausgehend eine Lautbewegung gleichsam Ringe bildet und sich fortpflanzt, bis sie zulezt ermattet oder auf eine von einem andern Centrum aus erregte Gegenbewegung stößt; aber die Urheber solcher Vorgänge nehmen wir nur selten nur hin und wieder in der Zeit des entwickelten Schrift= tums die physiologischen und psychologischen Voraussetzungen aber niemals wahr. Niemand wird uns die Seelenregung enthüllen, die in grauer Vorzeit ein Individuum germanischen Stammes bewog, anstatt des überlieferten Präteritums des es-Stammes ein anderes einer seitwärts liegenden Wurzel entsprossenes zu gebrauchen, niemand aussagen, weshalb diese Neuerung zunächst in engeren, dann in weiteren Kreisen Anklang fand. Und so in unzähligen Fällen. Jede sprachliche Schöpfung ist, um mit Schiller zu reden, eine dunkle Geburt, die aus dem unendlichen Meere des unbewußten Seelenlebens ersteht.

Ein neudeutsches Heldenepos altdeutschen Stoffs,

zunächst der Schule und durch eine Auswahl kritischer Stimmen

empfohlen von Ludwig Fränkel in München.

In der Festschrift zum siebzigsten Geburtstage Rudolf Hildebrands in Auffäßen zur deutschen Sprache und Litteratur sowie zum deutschen Unterrichte"1), die unter Mitwirkung von 21 Fachgenoffen und Verehrern unseres nun verblichenen Altmeisters der Herausgeber dieser Zeitschrift zum 13. März 1894 dargebracht hat, steht S. 93-126 aus der Feder des gewiegten Kenners des betroffenen Sondergebietes, Karl Landmanns - desselben, der durch die Schrift,,Die nordische Gestalt der Nibelungensage und die neuere Nibelungendichtung" (1887) sowie manche, besonders in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht veröffentlichte einschlägige Artikel berichtender oder beurteilender Art Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit für dies eigene Feld erworben hat eine Abhandlung,,Zur deutschen Heldensage. Eine Lücke in der Geschichte der deutschen Dichtung“. Sie behandelt gründlichst und ganz vortrefflich Karl Simrocks,,Amelungenlied", diese „großartige, gewaltige Schöpfung“, wie K. Goedeke fie, an der entsprechenden Stelle im Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung "2), nannte, auf Quellen, Komposition, Technik und die litterarisch- ästhetische Bedeutung. Den Gesichtspunkt, den schon das von ihm vorangestellte Urteil Goedekes in dem Verlangen ausdrückt, daß jene,, von der deutschen Jugend, die solcher begeisternder Vorbilder bedarf, mehr gekannt sein sollte", hat er dabei keineswegs vernachlässigt, ihn vielmehr, abgesehen von eingestreuten mittelbaren und unmittelbaren Hinweisen, am Anfange und Schlusse hervorgehoben. Nachdrücklich an lezterer Stelle (S. 125). Da redet er, nachdem er in Hinblick auf Simrocks eigene, durch entsprechende Gedanken Uhlands unterstüßte, theoretische Ansicht über die poetische Wiederbelebung mittelalterlicher Dichtungen) kurz gemahnt hat, diese nach Gebühr zu schäßen, von Karl Simrock,

1) Drittes Ergänzungsheft zur „Zeitschrift für den deutschen Unterricht“. 2) III, 1127–1139, der vorläufig allein so weit reichenden ersten Auflage. 3) Als mustergiltige Leistungen jüngeren Datums seien hier genannt die von Gustav Legerloß (Nibelungenlied, Gudrun, Walther von der Vogelweide und andere mittelhochdeutsche Lyriker), die ältere wie mundartliche Worte und Wendungen glücklich einführen (vergl. dazu K. Dudens Lob im Vorwort zum,, Bollständigen orthographischen Wörterbuch der deutschen Sprache"), Ludwig Fulda (Meier Helmbrecht), auch Ostar Henke (Das Nibelungenlied, Drei altdeutsche Schwänke).

Wilhelm Jordan und Richard Wagner1) als den drei Dichtern, deren Amelungenlied, Nibelunge und Nibelungenring,,die drei bedeutungsvollsten Wahrzeichen einer Wiedergeburt der deutschen Sage um die Mitte des 19. Jahrhunderts find“2), und meint sodann: „diese drei Werke sollten jedem gebildeten Deutschen als Marksteine für das Erwachen des germanischen Geistes aus einem vielhundertjährigen Schlafe genau bekannt und ans Herz gewachsen sein.") Daran knüpft er nun seinen Vorschlag an, nachdem man, wie er hofft, den außerordentlichen Wert des Simrockschen,, Amelungenliedes" erkannt und anerkannt haben werde, auch folgerichtig dieses in den deutschen Unterricht einzufügen, in dem die Schule manches gewohnte Glied1) mit geringerem Nachteil werde entbehren können, und zwar solle dies geschehen vermittelst einer passenden Auswahl-Bearbeitung, deren Anlage er für den Augenblick noch außer dem Spiel läßt. Somit glaubt er dann Goedekes nochmals wiederholte Forderung erfüllt zu sehen.

Über den Grad der Schwierigkeit, das herrliche Werk für den gedachten Zweck zuzustußen um etwas andres könnte es sich ja in An

1) Für Jordan ist dieser Maßstab in den zahlreichen 1889er Jubiläumsauffäßen und den sonstigen Würdigungen nicht angelegt worden, auch nicht in einer einzigen Biographie (von K. Schiffner, 1889). Die 1889 im Druck fertiggestellte Lebensskizze und Charakteristik Jordans von Alexander Tille (in Kürschners ,,Deutschem Litteratur - Kalender für das Jahr 1890" S. 863 schon als erschienen aufgeführt) wäre wohl berufen, diese Aufgabe zu lösen, und wir fordern hiermit den thätigen Verfasser zur Veröffentlichung auf.

2) Da die Bewegung zu Gunsten einer führenden Stellung R. Wagners in dieser Hinsicht heutzutage ganz besonders lebhaft ist, so hebe ich heraus, was mir aus der endlosen Litteratur darüber beachtenswert scheint: M. Koch, Was kann das deutsche Volk von Richard Wagner lernen? (1888); derselbe, Geschichte der deutschen Literatur (1893; 2. Aufl. 1895); s. v.; Arthur Seidl, Hat R. Wagner eine Schule hinterlassen? (1892); Fr. Munders gediegene Biographie R. Wagners (5. Aufl. 1891), die Landmann S. 98 Anm. 1 heranzieht und die jezt in Munckers Wagner-Artikel der Allgemeinen deutschen Biographie", 40. Band (1896), ein Seitenstück erhält. Für Klarlegung von R. Wagners Verhältnis zur altgermanischen Sagenwelt hat W. Golther Vorzügliches geleistet, meist in den,,Bayreuther Blättern", so früher schon für „Tristan und Isolde“ und „Tannhäuser“ und neuerdings (1893, S. 307–319) für den „fliegenden Holländer“.

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3) Mit Landmann verweise ich hierzu auf Lyon, Ztschr. f. d. dtsch. Unterr. VII, 705 flg., bej. 729.

4) Er denkt auszuschließen,,Herders Cid und auch einige Schillersche Dramen, wie die Jungfrau von Orleans und Maria Stuart, vielleicht auch den doch niemals ganz verstandenen Laokoon." Ersterer dürfte so wenig gelesen werden, daß mit seiner Ausmerzung nichts gewonnen wäre, letterer aber ist an der Gelehrtenschule ebenso unentbehrlich wie die genannten Schillerschen Stücke an den andern.

betracht der großen Ausdehnung nicht handeln - will ich mich hier nicht verbreiten. Ebensowenig über die schwache Möglichkeit, für diese neue „Last" unserer einen „Normalarbeitstag“ erstrebenden Schuljugend Raum zu schaffen. Aber der Anregung Landmanns zunächst einmal grundsäßlich näher zu treten, das halte ich für geboten. Ja, aber bevor man erwägen soll, ob Simrocks Werk für die beabsichtigte Erweiterung der Lektüre passe und in welcher Weise ihre Aufnahme vorzunehmen sei, muß man doch von dem Gegenstande selbst, um den die ganze Angelegenheit sich dreht, genaue Kenntnis besigen, und ich meine nicht fehlzugehen mit der Annahme, daß viele, wohl sogar sehr viele Lehrer des Deutschen, selbst solche, die auf germanistische Universitätsstudien zurückblicken, die drei starken Bände kaum oder wenigstens nicht zur Genüge kennen, um hier in einer so wichtigen Frage mitsprechen und mitentscheiden zu dürfen. Die lange Kette von vollwertigen, wenn auch nicht gerade funkelnden und glizernden1) Perlen, die diese Dichtung birgt, ist gewiß den meisten Fachgenossen noch eine Sammlung böhmischer Dörfer. Deshalb rate ich ernstlich an, das höchst genußreiche und gehaltvolle Buch), dessen Einreihung in den Kanon auf der Tagesordnung steht, gründlich zu lesen, wenn ja auch angesichts der Überbürdung" vorderhand doch wohl nur ein neues Stück Privatlektüre3) winkt.

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Es liegt mir gegenwärtig nun fern, meinerseits den Antrag Landmanns zu verfolgen und, wozu er wegen der ausführlichen Untersuchung der Simrockschen Grundlagen und Vorbilder nicht gekommen sein mag, im einzelnen zu begründen. Doch bin ich völlig davon überzeugt, daß die ausgedehnte Dichtung nicht bloß außerordentliche poetische Schönheiten womit eben nicht sogenannte Glanzstellen gemeint sind aufweist, ja in ihrer Art geradezu ein Meisterwerk heißen darf, sondern daß auch ein hoher bildender Wert und damit verbunden ein aller Voraussicht nach erheb licher pädagogischer ihr innewohnt. Gleitet auch unser Blick auf dem leidlich vollständigen Bücherbrett über den Rücken verschiedener brauchbarer Umgestaltungen, die den Kern der alten Mythen für Schule und Haus in behäbigem Prosakleide erneuen, so läßt sich doch gar nicht einsehen, warum man nicht lieber nach dem neuhochdeutschen Epos greifen soll, das mit erstaunlichem Wissen und Verständnisse, mit seinem, fast durch

1) Schon Goedeke hat, der entsagenden Einfachheit Simrocks" gedacht (Landmann S. 93 und 96).

2) Auch dessen ausgezeichnetem Verfasser könnte man dabei näher treten, unter Rücksicht auf H. Dünzers persönliche wertvolle,,Erinnerungen an Karl Simrock": Picks Monatsschrift für die rheinisch-westfälische Geschichte und Altertumskunde II (1876) 321-345, 501-531, III (1877) 1—18, 159–186.

3) Vergl. dazu ganz neuerdings Ztschr. f. d. dtsch. Unterr. VIII, 184 flg.

gehends ebenbürtigem Nachempfinden dieselben Stoffe auffrischt1) und dazu in einem großen durchaus künstlerischen Gefüge zusammenschmiedet. Als ein solches entpuppt sich,,Das Amelungenlied" in der That, und übrigens, wen es lediglich nach den schier zahllosen kleinen prächtigen Genre- und Gruppenscenen mit ihren innigen Nebenzügen gelüftet, der mag getrost in ihm eine verläßliche Vorratskammer dafür finden, ohne auf die umfriedende Mauer und deren schönen Anstrich sonderlich Zeit zu verwenden. Wir legen aber trotzdem auch Gewicht darauf, die Thatsache des vollendeten Gewandes zu betonen, weil das Lesen und Erläutern des vaterländischen Schrifttums erst wirklich einen Hauptpunkt in der Erziehung auszumachen im stande ist, wenn nicht nur der Inhalt zu erbauen, sondern auch die Form das jugendliche Gemüt zu veredeln vermag. Und das langgereifte Erzeugnis von Simrocks Muse erwärmt sowohl für die unvergeßlichen Heroenmären unserer Vorväter, als erhebt auch einen für Architektonik und Kleinmalerei empfänglichen Sinn zu den lichten Höhen reiner Schönheit. Und um ein etwa zauderndes Lehrerherz ganz zu beruhigen, sei auf ein Büchlein verwiesen, in dem ein Simrock eng befreundet gewesener 2) und die breite Sagenwelt seiner rheinischen Heimat mit glücklicher Hand beherrschender Mann3) Leben

1) Vergl. dazu jezt auch meine Bemerkungen Zeitschr. f. dtsch. Philol. XXVIII, 559 flg.

2) Vergl. Dünßer a. a. D. III, 169.

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3) Ich kann mir es nicht versagen, auf eine Schnurre einzugehen, die im Frühlinge 1895 die Runde durch viele deutsche Tagesblätter machte; sie wird hier in der Fassung citiert, in der ich sie im Feuilleton der Münchner Neuesten Nachrichten" vom 10. Mai 1895, Morgenblatt, antraf:,,Der gefoppte Simrod. Von den Fremden, die nach Mainz kommen, besteigt gar mancher den Turm der Stephanskirche, um die Aussicht auf das Rhein-Panorama zu genießen. An diesen Turm knüpfen sich alte und neue Sagen; zu den leßteren zählt die, daß früher Brautreisen auf den Turm unternommen wurden. Es dürfte interessieren zu hören, wie diese Sage entstanden ist. Wir lesen in einer 1866 erschienenen Beschreibung der Kirche: Simrock und nach ihm andere erzählen dichtend, daß Neuvermählte dahier in früherer Zeit ihre Brautreise auf den Turm machten und oft 14 Tage und länger sich in einer Stube des Turmes aufhielten. Dies ist aber nie geschehen und der Vater des jezigen Türmers weiß noch recht gut, wie sein Vorgänger, der originelle und wegen seiner Anekdoten und Wize hier noch wohlbekannte Schneider, dem Dichter Simrock, der damals den Turm bestieg, jene Erzählung aufband. Noch andere gleich unbegründete Sagen giebt es über diesen Turm, z. B., daß ein Soldat, der sich gewöhnlich in einem Korbe habe aufziehen lassen, eine Nacht in der Luft schwebend zugebracht habe.'" Mir erscheint dieser nicht üble Schluß kaum apokryph; das Vorkommnis kann aber schließlich auch sogar ein geschulter Sagenkundiger wie Simrock" (j. meinen Hinweis hierauf Zeitschr. f. dtsch. Philol. XXVIII, 560 Anm. 1) an sich erfahren. Alexander Kaufmann freilich in seinen „, Nachträgen zu den Quellenangaben und

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