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Nachdem gezeigt worden ist, aus welcher tiefen Naturauffassung der Mythus entstanden ist, ist aus Sage und Geschichte alles das zu reproduzieren und zu ergänzen, was über die verschiedenen Sagenkreise im Erfahrungskreise der Schüler bereits vorhanden ist. Namentlich ist darauf hinzuweisen, wie die Sage in dem Bestreben nach Fort- und Umbildung des Stoffes das eine mit dem andern zu verknüpfen und die Schicksale ihrer Helden miteinander zu verweben sucht, indem sie, weiter dichtend, das Ganze mit dem Zauber der Phantasie umkleidet. Der Träger dieser Weiterbildung aber ist der Volksgeist, der uns zugleich das ganze geistige Leben des Volkes in seiner Weiterentwicklung widerspiegelt. Allmählich wird der Sagenstoff das fast ausschließliche Eigentum der Sänger, die, zugleich Dichter und Komponisten, die verschiedenen Teile des Stoffes durch individuelle Thätigkeit dem Geschmack ihrer Zeit gemäß dichterisch umbilden. Damit gelangen wir zur Betrachtung des Nibelungenliedes in seiner jezigen Gestalt, und es gilt nunmehr, nachdem gezeigt ist, ein wie weiter Weg vom Mythus zum Epos führt, den Begriff des letteren zu erarbeiten und auf die Bedeutung und Entstehung des Nibelungenliedes einzugehen. Den Begriff des Epos, das für Sekunda ein Konzentrationszentrum ist, kennen die Schüler. Es erübrigt nur, in Form einer litterargeschichtlichen Orientierung die ver schiedenen Unterabteilungen des Epos, namentlich den Gegensaß zwischen Volks- und Kunstepos herausfinden zu lassen und einen Ausblick auf das höfische Epos und von diesem auf die höfische Lyrik zu gewinnen. Hat sich dann herausgestellt, daß allen epischen Dichtungen im wesentlichen dieselben ethischen Grundbegriffe wie Mannesmut, Heldenehre, Gehorsam, treue Pflichterfüllung u. s. w., zu Grunde liegen, so ist nunmehr auf das Nibelungenlied insofern einzugehen, als kurz die Grundidee mit ihrem Reichtum an Motiven und Konflikten klarzulegen ist. Da diese aber dem Rittertum angehören und überhaupt das ganze Epos im Gewande des Rittertums erscheint, so ist hiermit in Verbindung auch noch kurz die Frage der Abfassung zn berühren, die zu den wichtigsten der Vorbesprechung gehört. Die Ausführungen des Verfassers über die Besprechung der Entstehung des Nibelungenliedes bieten nichts Neues. Da ich dem Leser zeigen wollte, was nach der Ansicht des Verfassers der Abhandlung alles in die Vorbesprechung gehört, habe ich diesen Teil der Programmschrift recht ausführlich, meistens mit den eigenen Worten des Verfassers wiedergegeben. Über die weiteren Formalstufen kann ich mich kürzer fassen.

Mit Recht verwirft der Verfasser den Gebrauch der Simrockschen Übersetzung mit dem fremdartigen Reckendeutsch, die Übertragung von Legerloh scheint ihm den Anforderungen der Schule am besten zu ent

sprechen. Freilich meint der Verfasser, daß eine ideale, allen Anforderungen in Bezug auf Richtigkeit, Wohllaut, sinnliche Frische genügende Übersehung zu den unlösbaren Aufgaben gehört. Das dürfte wohl niemand bestreiten, da eine Überseßung niemals das Original erreichen kann. Teilweise aus solchen Erwägungen ist ja auch die (freilich etwas schüchterne) Wiedereinführung des Mittelhochdeutschen herbeigeführt. Übrigens bemerke ich, daß der Verfasser auf den zweiten Teil seines Themas, den mittelhochdeutschen, nicht eingeht, sondern dieses Thema auf eine spätere Abhandlung verschiebt.

Die Stufen der Darbietung und der Vertiefung behandelt der Verfasser in sehr ausführlicher Weise, doch treten dabei neue Gesichtspunkte nicht hervor. Auf der Stufe der Verwertung (Anwendung) ist mit Homer zu vergleichen. Der Verfasser führt aus: Natürliche Konzentrationspunkte zu einem Vergleich des Nibelungenliedes mit Homer und Vergil ergeben sich schon dadurch, daß diese ebenfalls in die Heroenzeit ihrer Völker einführen und deren tapfere Thaten, Vorzüge und Fehler schildern, wie denn überhaupt die Kongenialität der Dichtungen, die durch die Jugendzeit der Völker bedingt wird, ähnliche Verhältnisse und Zustände schafft. Von diesem Gesichtspunkte aus hat eine zweite (vor= wiegend häusliche) Lesung der Dichtung stattzufinden, an welche sich dann eine fruchtbare und fließende Repetition anknüpft, in deren Verlauf alles, was nach dem Geseze der Ähnlichkeit oder des Gegensaßes Anklänge an das Nibelungenlied aufweist, zusammenzutragen ist. Dabei soll die Schule aber nicht allgemeine ästhetische Urteile herausfordern, sondern unter Berücksichtigung der in der Natur der Sache liegenden Verschiedenheiten für beide Teilnahme zu erwecken suchen.

Die Lektüre der Abhandlung Wagenführs möchte ich allen, die sich für den Gegenstand interessieren, dringend empfehlen. Der Verfasser, ein begeisterter Anhänger der Formalstufen, will offenbar zeigen, wie das umfangreiche Nibelungenlied, das doch in vielen Punkten der künstlerischen Einheit entbehrt, nach den Formalstufen zu behandeln ist, und es läßt sich nicht leugnen, daß er seine Aufgabe in erschöpfender Weise gelöst hat.

Wenn der Verfasser jedoch meint, daß die Berechtigung der Formalstufen nicht in Zweifel gezogen werden könne und somit auch das Nibelungenlied streng nach diesen Stufen behandelt werden müsse, so kann ich ihm nicht beistimmen. Die Strenge, mit welcher der Verfasser die einzelnen Stufen auseinanderhält, führt zum Schematismus. Dem Schema zu liebe werden alle Vergleiche mit Homer, die sich doch zum größten Teil bei der Darbietung ungezwungen ergeben, auf die Stufe der An= wendung verschoben. Von diesem Gesichtspunkte aus findet sogar eine Zeitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 4. Heft.

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zweite Lesung statt, die nach meiner Ansicht einen guten Teil des poetischen Hauches wieder nimmt, den die erste Lesung in die Seele des Schülers legte. Von einem bestimmten Gesichtspunkte aus soll der Schüler ein poetisches Werk überhaupt nicht lesen. Unsere heutige Pädagogik steht unter dem Zeichen der Formalstufen, doch habe ich die Empfindung, daß die in ihren Grundzügen so gesunde Herbartsche Lehre allmählich zu einem starren System wird, das die natürliche Hingabe des Lehrers bei der Behandlung einer Dichtung ernstlich zu gefährden droht. Ich habe gefunden, daß die Lektüre der Uhlandschen Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter eine viel bessere Vorbereitung für die Behandlung unserer Dichtung ist, als alles sorgsame Einteilen nach Formalstufen.

Auch möchte ich wesentliche Punkte, die der Verfasser in der Vorbesprechung erledigt, der Darbietung (Erklärung) überweisen. Der Schüler, dem in der Vorbesprechung bereits alle Beziehungen der Siegfried- und Brunhildengestalt zum Naturleben klargelegt sind, wird die Dichtung nicht mehr mit der durchaus nötigen Unbefangenheit und Frische genießen. Ich glaube, der Lehrer wird besser thun, solche Hinweise gelegentlich bei der Darbietung zu geben, wenn auch dadurch das System der Formalstufen durchbrochen wird. Allerdings läßt sich keine Regel darüber aufstellen, wo solche Exkurse am Plaze sind, der Lehrer, der auf die Stimmung seiner Schüler zu achten weiß, wird den richtigen Augenblick schon zn finden wissen.

Schließlich möchte ich nochmals die Lektüre der Wagenführschen Schrift empfehlen. Mag man auch mit manchen Prinzipien nicht ganz einverstanden sein, so wird man reichlich entschädigt durch die außerordentliche Frische, welche die ganze Abhandlung durchweht. Man sieht es der Abhandlung an, daß der Verfasser, von innigster Liebe zu unserem nationalen Epos beseelt, an der Hand des Nibelungenliedes unsere Jugend zu echtem Deutschtum erziehen will.

Großherzoglich hessisches Gymnasium zu Gießen; Gymnasiallehrer Dr. Clemm: Uhlands Trauerspiel „Ernst, Herzog von Schwaben" als dramatische Anfangslektüre im Gymnasium, I. Teil.

Der Verfasser hält den Herzog Ernst für die beste dramatische Anfangslektüre im Gymnasium, er bedauert, daß in Preußen die Uhlandschen Dramen nicht in den Unterricht einbezogen worden sind. Am Herzog Ernst läßt sich vor allen Dingen der Begriff des Tragischen dem Schüler vermitteln, auch die Einfachheit im Aufbau der Handlung läßt das Drama besonders geeignet erscheinen, um an ihm die Grundbegriffe aus der Technik der dramatischen Kunst zu erlernen. Aus diesen Gründen sollte

der Herzog Ernst an den Anfang der dramatischen Lektüre im Gymnasium gestellt werden.

Ich muß diesen Ausführungen des Verfassers auf das Entschiedenste widersprechen. Nach meiner Ansicht eignet sich Herzog Ernst für die dramatische Anfangslektüre durchaus nicht. Es ist möglich, daß sich aus dem Herzog Ernst der Begriff des Tragischen besonders leicht ableiten läßt, aber dieser Begriff kann dem Schüler bei seiner ersten dramatischen Lektüre überhaupt noch nicht klar gemacht werden, dazu steht der Schüler dem Drama noch viel zu befangen gegenüber. Für die dramatische Anfangslektüre eignet sich überhaupt keine Tragödie, ein Schauspiel (Tell) wird den Schüler viel leichter und sicherer in die dramatischen Grundbedingungen einführen. Der Verfasser giebt selbst zu, daß von manchen Litterarhistorikern der Wert der Uhlandschen Dramen recht gering ge= schäzt werde, doch kommt das nach seiner Ansicht nicht sehr in Betracht. Nach meiner Ansicht wiegen die Bedenken dieser Litterarhistoriker sehr schwer, und der Pädagog darf die kostbare Zeit der Schule nicht auf ein dramatisch minderwertiges Werk verwenden, nur weil aus demselben der Begriff des Tragischen und die Grundbegriffe der Technik besonders leicht abgeleitet werden können. So sympathisch der treue Ernst ist, ein dramatischer Held ist der Uhlandsche Herzog nicht, dazu fehlt ihm die aktive Energie, die einem dramatischen Helden niemals fehlen darf. Auch die Art der ,, vorbereitenden Vorbesprechung" des Verfassers kann ich nicht billigen. Er verlangt, daß etwa 3-4 Wochen vor Beginn der eigentlichen Behandlung des Dramas dem Schüler die Aufgabe zu stellen sei, daß bis dahin ein zweimaliges Lesen erfolgt und der Inhalt soweit angeeignet sein muß, daß eine Erzählung der im Stück aufeinanderfolgenden Ereignisse aus dem Gedächtnis stattfinden kann. Weiter verlangt der Verfasser von der vorbereitenden Lektüre zu Hause, daß jeder wissen soll, welche Personen die Hauptrolle in der Handlung des Stückes spielen, wie ihr Verhalten zu einander im allgemeinen ist, auf welchen Schauplägen und in welcher Zeit die Ereignisse stattfinden; endlich muß er die hauptsächlichsten zeitgeschichtlichen Strömungen kennen, unter deren Einfluß sie sich vollziehen.

Das alles soll der Schüler bereits können und wissen, wenn die Behandlung des Dramas in der Klasse beginnt! und noch dazu ein Schüler, der noch niemals ein Drama gelesen hat, also auch gar nicht weiß, wie ein solches Kunstwerk zu lesen ist. Aber nehmen wir einmal an, die fragliche Klasse bestände aus solchen Wunderkindern, die den häuslichen Anforderungen des Herrn Dr. Clemm genügten, soll man dann das Drama in der Klasse nochmals lesen? Wird der Schüler der Lektüre noch mit der nötigen Teilnahme folgen, nachdem der Inhalt

des Dramas bereits in der Klasse erzählt worden ist? Der Verfasser der Abhandlung geht auf diese Punkte nicht mehr ein, da das vorLiegende Programm nur der „vorbereitenden Vorbesprechung" gewidmet ist, die weitere Besprechung wird das Programm des nächsten Jahres bringen.

Der Verfasser geht dann auf die eigentliche Vorbesprechung ein. Er giebt einen ausführlichen Überblick über die Entstehung des Dramas, geht in sehr gründlicher Weise auf die Quellen ein, welche Uhland be nugte, und untersucht, was Uhland änderte und ändern mußte, um den Stoff zu einem dramatischen zu machen. Diese sehr lesenswerten Ausführungen sind auch von pädagogischem Standpunkte aus unangreifbar, da der Verfasser selbst erklärt, daß er das Material vollständig gebe, damit der Lehrer das wirklich Wichtige auswählen könne.

Königl. Gymnasium zu Tilsit, Oberlehrer Kurschat: Welche Berüdsichtigung verdient die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts im deutschen Unterricht auf der Prima höherer Lehranstalten?

In der Einleitung führt der Verfasser aus, daß die Fin-de-siècleStimmung, diese aus Nervosität und Übersättigung zusammengesezte Krankheit, auch in der Litteratur nach Deutschland überzugreifen droht. Zwar wird der gesunde Sinn unserer Jugend einer solchen Richtung nicht so leicht zum Opfer fallen, aber es ist an der Zeit, daß sie durch einen richtig geleiteten Unterricht in den Stand gesezt werde, den Gang der deutschen Litteratur bis auf die unmittelbare Gegenwart im Zu sammenhange zu überschauen und ihre hervorragendsten Vertreter aus ihren besten Werken kennen zu lernen. Die Stufe, auf der diese

Kenntnis zu vermitteln ist, kann nur die Prima sein. Den Klassikern, die der Verfasser übrigens durchaus nicht zurückdrängen will, fehlt die lebendige Beziehung zur Gegenwart, auch aus den Dichtern der Befreiungskriege, den Romantikern, Chamisso, Uhland und Geibel, kann der Primaner sich kein vollständiges Bild über diejenigen Strömungen verschaffen, die das geistige Leben unseres Jahrhunderts in Deutschland er füllt und bestimmt haben. Auch der Einwand, die nachklassische Zeit, die Zeit des litterarischen Epigonentums, verdiene keine eingehende Berücksichtigung, ist zurückzuweisen. Wenn auch kein einzelner Dichter der nachklassischen Zeit sich mit den großen Klassikern messen kann, in der Gesamtheit haben wir herrliche Schöpfungen auf allen Gebieten der Dichtung aufzuweisen, die selbst den besten Werken Schillers und Goethes an die Seite gestellt werden dürfen und daher würdig sind, Anteil an der Jugendbildung zu erhalten. In der nachklassischen Zeit hat sich

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