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die 15. Generation vor uns künic und die 30. Generation vor uns chunig und chuning sagte, wie zweifellos feststeht; da ferner sprungweise Entwickelung nirgends in der Natur, also auch in der Sprache nicht vorkommt, so ist anzunehmen, daß zwischen den drei Formen chuning, künic, König eine ganze Reihe Zwischenformen liegen, die graphisch nicht dargestellt wurden oder, richtiger gesagt, nicht dargestellt werden konnten. Diese drei Formen sind fixiert; die Zwischenstufen kennen wir nicht. Bei manchen andern Wörtern sind die Veränderungen stärker, bei anderen wieder schwächer; so heißt z. B. Glaube vor fünfzehn Generationen geloube, vor dreißig Generationen giloubo; Salz dagegen hat eine graphisch darstellbare Veränderung während derselben Zeit nicht erlitten. Manche Wörter der Sprache verändern sich also schneller, manche langsamer; die Thatsache der Veränderung aber besteht. Welches sind die Ursachen dafür?

Der Hauptgrund ist ungenaue Auffassung mit dem Ohre und mangelnde Wiedergabe mit den Sprechwerkzeugen. Wir hören als Kinder nicht ganz genau, was unsere Eltern uns vorsprechen; und wenn wir es auch genau hörten, so fehlt uns doch die Fähigkeit, es genau wiederzugeben. Denn unsre Sprachwerkzeuge sind nicht ganz genau ebenso eingerichtet wie die unsrer Vorfahren; es giebt vermutlich nicht zwei Menschen, bei denen sie sich völlig decken. Nimmt man noch hinzu, daß jedes Kind von seinen Eltern eine etwas verschieden gefärbte Sprache hört, mißhört und mißverständlich nachbildet; erwägt man ferner, daß immer drei Generationen zu gleicher Zeit leben, Großvater, Sohn, Enkel, und daß die Irrtümer von allen dreien sich in Auffassung und Wiedergabe vermischen: so kann man sich über das Ergebnis dieser Art der Sprachübertragung und Spracherlernung nicht wundern. Wundern muß man sich nur, daß eine so starke Konstanz besteht, daß die Sprachveränderung eine so langsame, allmähliche ist. Als mitwirkende Ursache kann vielleicht die Schreibung gelten, die die Laute auch dann noch festhält, wenn sie garnicht mehr gesprochen werden. Schwer ent= schließt sich die Orthographie, wie man sie euphemistisch nennt, einen Buchstaben, dessen Bedeutungslosigkeit fürs Ohr einleuchtet, fallen zu Lassen, wir schrieben bis vor kurzem noch Thier, wo zwei Buchstaben zu viel waren, und wir schreiben jezt noch Tier, wo ein Buchstabe überflüssig ist, d. h. keinem wirklich gesprochenen Laute entspricht.

Besonders bei der Übernahme von Wörtern aus fremden Sprachen, deren Aussprache dem Ungebildeten - und dieser ist hauptsächlich maßgebend für die Sprachentwickelung, nicht der Gelehrte - fremd sein mußte, treten infolge Mißverständnisses starke Veränderungen ein. So wurde aus palatium Pfalz, aus scribere schreiben, aus diabolus Teufel,

aus commandeur Komtur u. s. f. Auf dieser Thatsache beruht die komische Wirkung, die Shakespeare, Reuter und andere Schriftsteller durch falsch angewendete oder falsch ausgesprochene Fremdwörter erzielen.

Unfähigkeit, das Gesprochene richtig aufzufassen und genau wiederzugeben das scheint mir der wichtigste Grund aller Sprachveränderung.

Aber es kommen noch andere, sekundäre Gründe hinzu. Früher sagte man consuetudinem die Franzosen haben coutume daraus gemacht, also aus 5 Silben 2! So wurde aus lat. vivarium Weiher aus einem viersilbigen ein zweisilbiges Wort, aus dem mittellateinischen paraveredus, franz. palefroi, engl. palfrey, deutsch Pferd; von 5 Silben auf 2 bezw. 1! Und so in vielen anderen Fällen. Aus spëhôn wurde spähen, aus sumar Sommer, aus fridu Friede. Hier ist zwar keine Verkürzung, aber doch eine gewisse Erleichterung eingetreten, indem die vollen Endsilbenvokale in das bequeme tonlose e übergingen.

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Als zweiten Grund der Sprachveränderung hätten wir sonach die Bequemlichkeit. Das Verlangen danach steigert sich mit zunehmendem Verkehre, mit der Einsicht in den Wert der Zeit. Mit möglichst ge= ringem Aufwande an geistiger Anstrengung wollen wir den Zweck der Mitteilung und einen andern hat doch die Sprache nicht — erreichen, wir geben uns infolgedessen keine Mühe, brummen in den Bart, ver schlucken manches, suchen zu sparen, wo es sich mit der Deutlichkeit irgend verträgt. Hier ist aber zugleich die Grenze der Bequemlichkeit: die Deutlichkeit, Verständlichkeit darf nicht darunter leiden. Die Amerikaner leisten in dem Streben nach bequemer Ausdrucksweise Großes: aus gentleman wurde gent, aus Omnibus - bus, aus photography photo, aus chromolithography - chromo u. s. w., deutlich bleiben diese Wörter aber doch noch. Sind Wörter allzusehr abgeschliffen, sodaß, was früher verschieden klang, jest gleich klingt (z. B. Maul in Maultier, Maulbeere, Maulwurf, wo sie aus mulus, morus, molt Erde entstanden find), so schreitet man, eben der Deutlichkeit wegen, zu Zusammensehungen, Neubildungen, die, wie die angeführten Maultier und Maulbeere, sogar tautologisch sind, indes nicht als solche empfunden werden.

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Die bisher angeführten Veränderungen der Sprache können wir unabsichtliche, unwillkürliche nennen. Das Unabsichtliche, „Unbewußte" spielt, wie in der Natur so im Geistesleben, die Hauptrolle, die absichtlichen Zuthaten des Menschen erscheinen dagegen unbedeutend. Der zulezt angeführte Grund, die der Deutlichkeit wegen vorgenommene Neubildung durch Komposition oder Agglutination, gehört schon halb zu den lezteren. Als zweiter Grund dieser Art möchte zu nennen sein das

Eingreifen der Gelehrten, der Wissenschaft in die Sprache. Zwar ist ihre Wirkung stets gering gewesen, aber doch hie und da bemerklich. Engl. island hat sein s doch wohl der weisen Überlegung zu verdanken, daß es mit franz. isle (lat. insula) zusammenhänge; die Volksaussprache hat sich freilich nicht daran gekehrt und betrachtet das s richtig als nicht vorhanden. Hierher gehört die Schaffung oder Übernahme neuer Wörter für neue Dinge oder Gegenstände. Bei Völkern, die keinen Löwen oder kein Pferd kennen, kann es auch kein Wort dafür geben; es wird, wenn beide Tiere bekannt werden, auf gelehrtem Wege neu geschaffen1) oder, was häufiger ist, von dem Volke herübergenommen, von dem das Objekt kommt. Es braucht nicht immer das Volk zu sein, von dem der Gegenstand wirklich stammt, sondern es kann ein vermittelndes Volk sein. Als nach der Entdeckung Amerikas Tabak, Kartoffeln, Kakao zu uns kamen, nahmen wir mit den fremden Gegenständen zugleich die indianischen Namen; „Kartoffel" aber entlehnten wir nicht direkt aus dem Indianischen, wie die Spanier (patata), Engländer (potato) und dial. deutsch (fränkisch Pataken), sondern durch Vermittelung des Italienischen (tartufulo). In ähnlicher Weise haben die Germanen in vorgeschichtlicher Zeit die Namen Hanf und Silber zugleich mit den Produkten bei nicht mehr nachzuweisenden Völkern kennen gelernt und entlehnt. So bedeutet Sprachentwickelung nicht selten Sprachbereicherung. Eine dritte Ursache absichtlicher Sprachveränderung beruht auf religiösen Anschauungen. Von jeher scheuten sich die Menschen den Namen Gottes auszusprechen oder gar zu mißbrauchen. Man sezt eine andere, ähnliche Bezeichnung an seine Stelle. Statt pardieu heißt es parbleu, was mit bleu blau nichts zu thun hat; ebenso morbleu, sacrebleu für mort de dieu und sacredieu. Im Deutschen wäre zu erwähnen Poztausend statt Gottstausend, Sadkerment für Sakrament (Leib Christi), Deiker (für Teufel), auch den Namen des bösen Wesens suchte man zu

vermeiden.

Fassen wir die Gründe für die Sprachänderung und Sprachentwickelung noch einmal zusammen, so zerfallen sie in zwei Gruppen: unabsichtlich und absichtlich wirkende. Jene sind weit wichtiger, und unter ihnen ist als vornehmster zu betrachten die Unfähigkeit jeder Generation, die von der vorhergehenden ihr überlieferte Sprache genau zu hören und wiederzugeben. Als untergeordnete Ursachen kommen hinzu die Schreibung, die mit der Aussprache nicht Schritt hält, und die Bequemlichkeit. Absichtlich gewollte Veränderungen bringt das Streben nach Deutlichkeit hervor, in zweiter Linie die Einwirkung der

1) z B. das Wort Gas durch den Entdecker desselben.

Wissenschaft, und bei einzelnen Wörtern religiöse Ansichten. Alle diese Ursachen zusammengenommen bedingen eine fortwährende, teils raschere, teils langsamere Veränderung der Sprache. Kommt dieselbe den Menschen zum Bewußtsein, so suchen sie sie durch Benennungen zu sondern (ahd., mhd., nhd); ist sie bis zu einem gewissen Grade fort= geschritten, so greift man zu verschiedenen Namen (lateinisch — italienisch, provenzalisch u. s. w.).

Bemerkungen über Leffings Laokoon und seine Einführung in die höheren Schulen als Lektüre.

Von Friedrich Blod in Münster in Westf.

Heinrich Dünger bezeichnet in seinem Werke über Lessings Leben alle Ausführungen im „Laokoon" als ein leuchtendes Muster von Feinheit der Beobachtung, er rühmt neben der philosophischen und ästhetischen Bedeutung dieses Werkes auch seine künstlerische Form und findet, daß demselben keine schönere Anerkennung hätte zu teil werden können, als dadurch, daß seine Lesung auf den höheren Schulen jezt fast allge= mein zur Einführung gelangt ist. Dünzer fügt aber hinzu: diese Einführung sei von einem unserer bedeutendsten Kunstarchäologen für eine der größten Verkehrtheiten erklärt worden. Einen Grund für dieses absprechende Urteil giebt er nicht an. Dasselbe ist aber wohl darauf zurückzuführen, daß jener Kunstarchäologe der Meinung ist: auf den Schulen werde ein falscher Kultus mit dem ,,Laokoon" getrieben und die Bedeutung der in demselben entwickelten Lehren werde vielfach überschäßt.

Urteile von der Art, wie sie Dünger in seinem Werke ausspricht, und wie sie sich in manchen anderen Werken finden, gehen denn auch in ihrer Wertschäzung viel zu weit. Lessing selbst erklärt den,,Laokoon" nur für eine Reihe von Auffäßen, die „zufälligerweise entstanden und mehr noch der Folge seiner Lektüre, als durch methodische Entwickelung allgemeiner Grundsäße angewachsen seien: mehr unordentliche Kollektaneen zu einem Buche, als ein Buch." Er kann auch selbst nicht ohne Bedenken gegen die Richtigkeit seiner Lehren gewesen sein, da er nach dem Erscheinen von Winkelmanns Geschichte der Kunst des Altertums sagt: ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz zu seiner Beschämung in den Werken der Kunst widerlegt findet."

Auf solche „Grillen" ist denn Lessing auch bei Aufstellung seiner Theorien mehrfach verfallen, und dies konnte um so leichter geschehen, als er durch bloße Schlüsse zu richtigen Kunstanschauungen glaubte ge=

langen zu können (Disp. zum 2. Teil des Laokoon XXXI), und als ihm eine umfassende Anschauung antiker Kunstwerke fehlte. Es ist bekannt, daß die damaligen Sammlungen nur sehr dürftig mit Werken der Plastik ausgestattet waren; Stahr hält es sogar für zweifelhaft, ob Lessing selbst von dem Werke, nach welchem sein Buch den Namen führt, einen vollständigen Gipsabguß in der Größe des Originals gesehen habe, da sogar in der Akademie zu Leipzig nur ein Abguß des Laokoonkopfes vorhanden gewesen sei. So ist auch bekannt, daß Lessing die Statue des borghesischen Fechters nur aus Abbildungen gekannt hat, die noch dazu sehr mangelhaft waren, wie die Zeichnung Tischbeins beweist, die den antiquarischen Briefen beigefügt ist und von der Lessing rühmt, daß sie unter allen, die ihm vorgelegen haben, die beste gewesen sei.

Daß sich unter den Theorien Lessings manche recht anfechtbare Säße befinden, hat schon Herder in den Kritischen Wäldern" nachge= wiesen. Auf unseren höheren Schulen steht aber der ,,Laokoon" in unbestrittenem Ansehen und seine Lehren werden dort fortgesezt als unan: fechtbare Wahrheiten verkündet. Es wird hierdurch ein Autoritätsglaube großgezogen, der ein selbständiges Urteil bei den Schülern schwer aufkommen läßt und schließlich dazu führt, daß sich gewisse irrige Schulmeinungen dauernd festseßen, die dann einer dem andern kritiklos nachspricht. Auf den höheren Schulen sollte der „Laokoon", wenn er gelesen wird, nur im Sinne Herders gelesen, und es sollte das beherzigt werden, was Herder am Schluß des 23. Wäldchens sagt, wo es heißt: ,,Wenn meine Zweifel und Widersprüche die Leser des ,,Laokoon" dahin vermögen, ihn nochmals, ihn so sorgfältig als ich zu lesen, und ihn aus meinen Zweifeln, oder meinen Zweifel aus ihm zu verbessern, so habe ich der Sache des „Laokoon" weit mehr gevorteilt, als durch ein faltes Lob..."

Würde in diesem Sinne die Lektüre des „Laokoon" auf den Schulen betrieben, so würde sich jener Kunstarchäologe wohl nicht so ablehnend dagegen verhalten haben.

Wie anfechtbar manche der von Lessing aufgestellten Behauptungen sind, zeigt sich schon, wenn man sie an der Statue des Laokoon prüft, also ein Verfahren anwendet, zu dem Leffing selbst auffordert, indem er in Abschnitt XXVI sagt: „Was die alten Künstler gethan, wird mich lehren, was die Künstler überhaupt thun sollen.“

Zunächst muß hier die Behauptung genannt werden: daß es in der Kunst vor allem auf die Schönheit der Form ankomme und daß der Ausdruck" hinter der Schönheit zurückstehen müsse.

Dieser Ausspruch paßt jedenfalls auf die Werke aus der Blütezeit der Kunst und somit auf die Laokoongruppe, die nach Lessings Ansicht

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