Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

das Recht zu, einen besonderen Standpunkt zu haben, der abweicht von demjenigen eines gewöhnlichen Menschen.

Eine weitere Erörterung meiner Auffassung kann ich mir wohl ersparen und dem Nachdenken des Lesers überlassen. Daß nun die Scene mit Baumgarten kein ,,Situationsbild" mehr ist, dürfte jedem einleuchten.

Was dann noch im besonderen den Saz Bellermanns anbetrifft: ,,Ob Baumgarten gerettet wird oder nicht, ist für das ganze Stüd gleichgiltig; seine Person ist im folgenden durchaus bedeutungslos "1)

so meine ich, hierauf kommt es auch gar nicht an; vielmehr ist der Kern der Sache dieser, daß Tell es ist, der die That vollbringt, und dann ist allerdings „Zugehörigkeit“ vorhanden. Abgesehen von dem oben Angeführten ist hier dies zu bemerken: Baumgarten hat den Vogt Wolfenschießen erschlagen, er hat gemordet; wenn also Tell ihm gleichwohl beisteht, was heißt denn das? Das heißt, Tell billigt durchaus das Motiv, das den Mörder leitete; das heißt, er, Tell, hätte an Baumgartens Stelle genau ebenso an dem Vogte gehandelt. Und ferner, wenn in der Apfelschußscene Geßler höhnisch ausruft: „Das Steuerruder führst du wie den Bogen! Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt! Jezt Retter! Hilf dir selbst, du rettest alle!" so folgt daraus, 1. daß Tell als Retter des Mörders Baumgarten den Vögten bekannt war, und 2. daß Geßler im stillen dem kühnen Retter wegen dieser That grollte. Nimmt man dies alles zusammen, so kann man nicht leugnen, daß die Rettung des Alzellers mit dem Höhepunkte der Tellhandlung und auch mit ihrem Zielpunkte, der Ermordung Geßlers, im engsten Zusammenhange steht.

[ocr errors]

"...

3.

's ist heut Simons und Judă,

Da raft der See und will sein Opfer haben."

Es dürfte kaum einen Tellkommentar geben, der nicht zu der angeführten Stelle fein säuberlich bemerkte: Der 28. Oktober". Paul Marsops hübscher Aufsaß in der Gegenwart vom 21. April 1894 „Die Aufgabe der deutschen Hoftheater" enthält eine recht beherzigenswerte Stelle: Die Schulmeister dürfen als die ehrenwertesten und kenntnisreichsten Männer der kritischen Gilde gelten, haben nur leider nicht drei Tropfen des Bühnenblutes in sich, das in den Adern des theaterfreudigen Kunstrichters so gut pulsieren muß, wie in denen des Dichters und Schauspielers." Ja, und wie oft hört und liest man nicht die

"

1) Ähnlich bei Frick - Gaudig,, Wegweiser durch die klassischen Schuldramen“ G. 362.

Versicherung, der Dramatiker Schiller habe bei seinem Dichten fort und fort das Theater im Auge gehabt, und das solle man doch ja recht festhalten. Nun, machen wir denn also Ernst mit dieser Einsicht und bessern wir uns in dem von Marsop angedeuteten Sinne! Wenn ich dies, mit aller Bescheidenheit, zunächst bei mir selber versuche, so muß ich sagen: Weg mit jenem 28. Oktober, der in allen Kommentaren sein Wesen treibt! Oder meint man denn, Schiller habe für Philologen, Kalendermacher oder Katholiken') gedichtet? Seße dich ins Theater, überwiegende Masse des deutschen Volkes, und dann, Hand aufs Herz, sage mir, weißt du, wenn der Fischer Ruodi erklärt: „'s ist heut Simons und Judä, da raft der See und will sein Opfer haben", weißt du dann, daß das der 28. Oktober ist? Sicherlich, du weißt es nicht. Und Schiller, der für das Theater schrieb und gerade bei diesem Stücke es vielleicht mehr als bei irgend einem andern that, der sollte nicht daran gedacht haben? Aber das nimmt ja auch die Kritik nicht an; nach ihr hat er vielmehr durchaus daran gedacht, so zwar, daß er von allen seinen Zuhörern jene genaue Kenntnis des Kalenders verlangt hat! Nein, meine Herren Kritiker und Kommentatoren, er hat sie ganz gewiß nicht verlangt; hören wir endlich auf, unserm Schiller eine solche Abgeschmacktheit zuzutrauen, und entfernen wir aus den Kommentaren jene Notiz vom 28. Oktober. Simons und Judä“ ist nicht der 28. Oktober, sondern es ist der Tag, wo der rasende See sein Opfer haben will, und weiter nichts 2). Ja, der Dichter, der kurz vor Weihnachten Geßler einen Apfel vom Baume brechen läßt und dennoch durch seine machtvolle Poesie es erreicht, daß wir nicht darüber lachen, der hätte auch wohl sonst das Recht, von uns zu verlangen, daß wir jenes Datum nicht als ein kalendarisches auffaffen, sondern als ein poetisches.

"

Aber ich höre schon den Einwurf: Wo bleiben nun die Zuschauer, die jenes Datum wiffen? Allerdings, für diese fängt die dramatische Handlung am 28. Oktober an, und der Dichter muß dafür sorgen, daß dieser, wenn auch noch so geringe, Bruchteil seines Publikums durch den weiteren Verlauf der Ereignisse nicht an jenem Datum irre werde. Hier bleibt nichts andres übrig als die Annahme, daß die Vorbereitungen zur Versammlung auf dem Rütli sich bis tief in den Dezember hinein. ausdehnen, eine Annahme, die durchaus natürlich ist. Wenn Stauffacher

1) Bielleicht muß selbst auf diese verzichtet werden. Wenigstens haben mir sehr strenggläubige Katholiken ohne weiteres zugegeben, daß sie den Tag Simonis und Judä zu datieren nicht im stande seien.

2) Hoffentlich wird keiner mit dem Einwurf kommen, daß doch der Fischer Ruodi und die übrigen Personen der Scene selber den 28. Oktober darunter verftehen müßten.

zu Melchthal sagt:,,Großes habt ihr in kurzer Frist geleistet", so ist ja sehr die Frage, was hier unter kurzer Frist verstanden wird, und jedenfalls spricht dieser Sag ganz und gar nicht dagegen.

Für Bellermann1) beginnt nicht nur die Handlung am 28. Oktober, sondern für ihn fällt sogar der Rütlischwur auf den 8. November und der Apfelschuß auf den 19. November, weil diese beiden Daten überliefert seien! Aber ich meine, es bedarf wohl nur dieser Interjektion, um den in so vielfacher Hinsicht vortrefflichen Kritiker zu veranlassen, diese wunde Stelle an seinem Werke zu heilen. Freilich, die Konsequenzen!

Vornamen als Gattungsnamen.

Von Richard Needon in Baußen.

Sich während der Schulstunde mit der Entstehung und dem Gebrauche der Namen, Familien- und Vornamen zu beschäftigen, ist dem Lehrer des Deutschen nur selten und beiläufig vergönnt; um so dankbarer ist aber eine gelegentliche Abschweifung auf dieses Gebiet. Da ist kaum einer von den Jungen, der nicht gespannt lauschte, wenn die Worte des Lehrers zum erstenmale dem toten Dinge, das bisher sein Name oder der des Mitschülers für ihn gewesen, Leben einhauchen. Fällt doch durch die Deutung des Familiennamens ein blißartiges Licht auf die Geschichte seiner Familie in grauer Vorzeit nach Blizesart kurz freilich, aber es läßt doch diesen oder jenen Punkt einer sonst fernen, in undurchdringliches Dunkel gehüllten Gegend erkennen. weist den Knaben darauf hin, daß auch er einen wenn auch gar bescheidenen Platz in der Geschichte einnimmt; er spürt sich als kleines Glied in einer unendlich langen Kette. Auch der Vorname kann wohl einen historischen Glanz haben, wenn er auf Familientradition beruht, jedenfalls gewährt seine Deutung doch einen kulturgeschichtlichen Ausblic.

Aber es kommt wohl auch vor, daß der Lehrer im Unwillen über eine Unart des Schülers diesem einen Namen zuruft, den er gar nicht besigt, und den er dennoch ruhig, ohne sich zu verwundern, hinnimmt. Da ist ein Spielmaß, der seine Hände, ein Plaudermaß, der seinen Mund nicht stille halten kann, ein Traumpeter, der träumerisch vor sich hinstarrt, während einem vierten die liederliche Führung seines Hefts einen „Lüdrian!" einträgt. Da ist denn wohl Gelegenheit, auf die

1) A. a. D. S. 423; vergl. auch S. 426:,,Da wir uns Anfang November befinden."

merkwürdige, oft auch ergögliche Thatsache hinzuweisen, daß sich unter den Namen im weitern Sinne ein Kreislauf beobachten läßt, indem der Eigenname, der doch ursprünglich ein Gattungsname war, sich am Ende wieder in einen Gattungsnamen wandelt. Für den, der auf diese Erscheinung aufmerksam zu machen gesonnen ist, mag im folgenden einiger Stoff zusammengetragen und dargeboten werden.1)

Auszugehen ist von der Thatsache, daß auch in den Namen sich die Mode als mächtige Gebieterin erweist, daß demgemäß die Vornamen wechseln nach Zeit und Ort. Dabei sind die alte Zeit, etwa die des Althochdeutschen, und die neue Zeit, wenn wir uns auf das Deutsche beschränken, im Vorteil gegenüber dem späteren Mittelalter. Die alt= deutsche Zeit war reich an Vornamen aus dem Schage des eignen Volkstums und seiner Sprache heraus, die Neuzeit hat die Möglichkeit großer Auswahl und häufigen Wechsels infolge des Austausches mit andern Völkern und ihrer Kenntnis der Geschichte, das Mittelalter aber ist außergewöhnlich arm an Vornamen, da es als die Zeit der Massenvereinigungen, des Zurücktretens der Einzelpersönlichkeit, auch keinen individuellen Geschmack an den Namen kannte und sich mehr und mehr auf eine Anzahl Heiligennamen und einige wenige andre beschränkte. Es ist bekannt, daß man in den Urkunden und Chroniken der Städte vom zwölften, bezw. dreizehnten Jahrhundert bis ins fünfzehnte hinein faum mehr als ein Dußend gebräuchliche Namen der Bürger antrifft, in Obersachsen und Thüringen heißen etwa drei Viertel aller Bewohner Nikolaus (Nickel), Hans, Heinrich, Konrad, Peter — die übrigen meist Paul, Hermann, Matthias, Franz, später Kaspar und Georg. Erst die Zeit der Renaissance bringt wieder größere Mannigfaltigkeit.

1) Es kann hier nicht die Absicht sein, die unendlich mannigfaltigen Beziehungen und Zusammenseßungen, in denen sich die einschlägigen Rufnamen je nach Gegend und Mundart gebraucht finden, vollständig aufzuzählen; das wäre angesichts dieser Mannigfaltigkeit eben unmöglich. Nur die Rufnamen selbst, die hier in Betracht kommen, sind wenigstens annähernd vollständig zusammenzustellen versucht. Auch den Gebrauchsbereich jedes einzelnen Wortes räumlich und zeitlich abgrenzen zu wollen, würde zu weit führen; die eigenen Beobachtungen des Verfassers erstrecken sich auf verschiedene Gegenden des Königreichs Sachsen.

Ausgebeutet sind neben eigener Beobachtung und Sammlung natürlich in erster Linie die verschiedenen deutschen Wörterbücher, namentlich das Grimmsche, ferner Göingers Reallexikon der deutschen Altertümer, dessen Artikel ,,Namen von Personen in appellativer Anwendung" z. T. auf W. Wackernagels Arbeiten in Pfeiffers Germania IV. V. und den Kleineren Schriften III. beruht. Einiges Brauchbare bietet das sonst allerdings nur mit Vorsicht zu verwendende Buch von Kleinpaul, Menschen- und Völkernamen Benußt sind ferner einige verstreute Bemerkungen in dieser Zeitschrift, sowie Jacob Grimms und Eimrods deutsche Mythologien.

Es ist nicht zu verwundern, wenn zuerst damals bei einer solchen Einförmigkeit der mittelalterlichen Vornamen sich der Charakter des Eigennamens bei diesen von Hunderten in jeder Stadt getragenen Namen allmählich fast ganz verwischte; denn zum Merkmal des Eigennamens gehört es doch eben, daß in einem größeren Kreise er immer nur einer Person (wenigstens durchschnittlich) eigen ist. Auf die Idee der Doppelvornamen ist man erst in späteren Jahrhunderten (im 17.) gekommen; im Mittelalter half man sich, da die Vornamen nicht mehr zur genauen Bezeichnung und Unterscheidung der Personen ausreichten, zumal die Familiennamen noch nicht feststanden, vielfach mit Spiznamen, an denen jene Zeit deshalb einen später nicht mehr vorhandenen Reichtum aufzuweisen hat. Es war nicht anders möglich, als daß sich mit der Zeit, besonders als man wieder neue und wegen ihrer Neuheit feiner klingende Vornamen kennen lernte, ein gewisser Überdruß an jenen bisher so viel gebrauchten Namen einstellte. Die Vornehmen zuerst griffen begierig nach Abraham, Jakob, David, Daniel, Melchior, Zacharias u.ä. Geringschäßig blickten sie nun auf Heinz und Kunz, Hans und Peter, Nickel und Mathias, an denen das schwerfälligere niedere Volk noch längere Zeit festhielt. So wurden Hinz und Kunz geradezu zur Bezeichnung für den beschränkten Kleinbürger. Einen Menschen, dem man nichts Besonderes zutraute, einen de plebe, dessen wirklichen Namen man nicht kannte oder nur vornehm nicht kennen wollte, nannte man Hans oder Maß, wie eben alle Welt in den niederen Kreisen hieß. Nur daß man seine besondere Untugend oder das besondere Kennzeichen seiner plebejischen Art noch durch einen Zusaß ausdrückte. Die auf den Straßen oder an den Fenstern Maulaffen feilhielten, hießen Gaffhansen, der dürftig lebende Knapphans, der Säufer Saufhans (anderswo später Saufjochen), ein andrer Schnarchhans, Schlumphans und so fort. Der wohlgenährte Patrizier erfand wohl für den hungerleidenden Proletarier den Schmalhans, der Küchenmeister war, während sich dieser durch die Titel Prahlhansen oder große Hansen für die Gegner schadlos hielt. Dem Hans entsprach im Niederdeutschen Jahn als Abkürzung von Johannes, mit seinem wenig anmutigen Gefolge, dem Dummerjahn, Schlendrian, Grobian, Lüdrian und Stolprian, bei denen freilich die lateinische Endung anus nicht ohne Einfluß blieb. Wenn Große Hansen geradezu zum Schimpfwort oder wenigstens zur mißfälligen Bezeichnung der stolzen Patrizier geworden ist, so bezeugt auch dies, daß Hans der allerhäufigste Rufname des Mittelalters war, somit auch am allermeisten appellativ geworden. Denn sonst haften alle diese entarteten Eigennamen am Niedrigen, Schlechten. So heißt es bei Luther: unangesehen, ob

[ocr errors]
« ZurückWeiter »