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Gestalt sagen konnte? Wenden wir diese Frage auf Woermanns Dichtungen an, so müssen wir zweifellos bekennen: Hier spüren wir deutlich die wirkliche schöpferische Gewalt des echten Dichters. Was ist nun das eigentlich Schöpferische? Das innere Erlebnis. Unzählige Menschen erleben äußerlich sehr viel, sie können das alles auch hübsch beschreiben in Briefen oder in Romanen und Versen; aber ihr Inneres bleibt verschlossen, sie spiegeln alles tot wieder wie eine Glaskugel im Garten die Bäume und Sträucher. Diesen Menschen fehlt das innere Erleben. Ihr Herz geht ohne Anteil an diesen Ereignissen, in denen sie doch mitten drin stehen, durch die Welt. Anders bei Woermann. Man empfindet hier deutlich, wie das goldreine Herz des Dichters die Ereignisse mit gewaltigem Anteil erfaßt, in sich in schweren Kämpfen durcharbeitet und dann umwandelt zu Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein, um sie dann in neuer, abgeklärter Gestalt aus seinem Eigenen wieder zu erschaffen. Er hat das große und gewaltige Mitleid mit den Menschen und Dingen, das allein den Dichter macht. Bewegung von innen heraus ist daher das eigentlich Charakteristische der Woermannschen Dichtungsweise. Wir verzeihen ihm daher gern manche Länge, die uns in seinen epischen Dichtungen, z. B. in seinem Johannes, Wolf Hansen, Hans Wild u. a., entgegentritt. Wissen wir doch, daß diese Längen gerade in den entscheidenden Gesprächen und Situationen nicht etwa auf dichterischem Unvermögen beruhen, sondern gerade auf dem Gegenteil: auf dem überströmenden Herzensanteil an dem Geschick seiner dichterischen Gestalten, der liebevoll bei den Geschöpfen seiner Phantasie und ihren tragischen Erlebnissen verweilt und so den raschen Verlauf in der Wirklichkeit vergißt, um dafür diese Gestalten und Situationen dichterisch unaufhaltsam zu erweitern und zu vertiefen. Woermann muß, um diesen epischen Dichtungen größere Prägnanz und engeren Anschluß an die Wirklichkeit zu geben, den überschäumenden schöpferischen Strom seines Innern an der rechten Stelle, d. h. an dem entscheidenden Punkte der Handlung, dämmen und durch den steten Hinblick auf den wirklichen Verlauf regulieren. Abgesehen von diesem Mangel, der in seinen epischen Dichtungen an vereinzelten Stellen hervortritt, hat er uns aber in diesen poetischen Erzählungen tief empfundene Werke mit einer von Anfang bis zu Ende kraftvoll verlaufenden Handlung gegeben, die sich im Wolf Hansen und Hans Wild an den Hauptstellen zu wahrhaft dramatischem Leben steigert. Von wunderbarer Wirkung ist auch hier seine scharfe Beobachtung des Thatsächlichen. Wie er uns im Wolf Hansen das See- und Schiffahrtsleben mit unglaublicher Treue darstellt, so schildert er uns im Hans Wild eine Feuersbrunst und die Thätigkeit der Feuerwehr, im Johannes die Herrlichkeit der Alpennatur, in der

alten Meister Segen" die Säle der Dresdner Bildergalerie u. f. w., und ebenso gelingt es ihm in seinen Meerliebesliedern, in seinen Liedern vom deutschen Walde und in seinen Gesängen,,Am heimischen Herde" herrliche Wirklichkeitsbilder von farbenkräftiger Ursprünglichkeit zu schaffen. Wenn er in seiner ergreifenden Erzählung „Das Begräbnis“ sagt:

Kalt war's. Der Schnee lag wimmernd in den Spuren
Der Trauerwagen, die mit leisem Klagen

In langer Reihe nach dem Kirchhof fuhren,

so bekunden diese der Wirklichkeit abgelauschten Züge, die hier verwendet werden, um tote Dinge als teilnehmend am Menschenschicksal darzustellen, deutlich den echten Dichter. Oder man höre folgende Stelle aus „Wolf Hansen":

Das ist ein Lärmen beim Löschen und Laden,
Am breitgepflasterten Hafenstaden,

Ein Rasseln von Rädern mit schweren Lasten,
Ein Knarren der Krähne unter den Masten,
Ein Heben und Schweben, ein Steigen und Fallen
Von mächtigen Kisten und Warenballen

Und nirgend ein Ruhn – und nirgend ein Raften!

Oder die folgende Stelle aus,,Johannes":

Hinaus, hinaus! Die Welt ist so groß,
Der Himmel so hoch, so leuchtend die Luft!
Hinaus, hinaus ins Dachauer Moos!
Hinaus in den Wald- und den Heideduft!
Hinaus, in der Luft und im Licht zu baden,
Hinaus zu des Würmsees Prachtgestaden,
In dessen hellem, smaragdenem Glanz
Sich spiegelt der fernen Alpen Kranz.
Feldafing und Tuzing! waldige Wege
Und leuchtende Fernen und Blütengehege!
Seeseiten und Bernried! Riesenbäume!
Und blumige Wiesen als Ufersäume!

Und drüben die Rottmannshöhe! Wie weit
Dehnt rings sich die lachende Herrlichkeit!

Unter den lyrischen Gedichten dieses Bandes heben wir als wahrhaft köstliche Lieder hervor: In meiner Bücherei. Rätselfragen. Wellengeborne Liebe. Das Meer die Liebe (mit dem schönen Refrain: Blaues Meer, du bist die Liebe). Meerleuchten. Leuchtende Ferne. Fata Morgana. Im Fährboot. Erwachen des Waldes. Am Waldquell. Elfentanz. Waldesrauschen. Aldeutschlands Liebeslied (zu Bismarcks Geburtstag am 1. April 1891). Vierzig Jahre alt. Ein Heidestrauß. — Unter der Überschrift Aus stiller Werkstatt" und Neue Zwiegespräche" giebt der Verfasser zum Schluß eine Reihe Sprüche, die in knapper

"

Form kräftige und gesunde Gedanken bieten. Nur eine Probe sei hier mitgeteilt:

Folgt lieber doch als zahme Herden
Der Klassiker geweihtem Stern,
Anstatt so wild euch zu geberden,

So unverfroren und modern!"

Ei, Freund, der Klassizisten Orden

Und Klassiker sind zweierlei.

Wer jemals klassisch ist geworden,

War einmal eigen, neu und frei.

So seien denn diese neuen Schöpfungen Woermanns, die zu dem Besten und Bedeutendsten gehören, was die Dichtung der Gegenwart hervorgebracht hat, allen aufs wärmste empfohlen.

Otto Lyon.

Erwiderung.')

Herr Sahr sei unterrichtet, daß ich nach den äußerlichen Bedingungen meines Verlegers nicht alles, was ich weiß und sagen wollte, in meiner Broschüre sagen konnte. Daß der Standpunkt des Herrn S., von dem aus er Geschichte betrachtet, nicht der meine ist, ändert nichts daran, daß seiner, der landläufige, ebenso subjektiv gefärbt und nach meiner Auffassung falsch ist. Mit einigem Glück hat Herr S. den Dolus eventualis in die litterarische Kritik übertragen. Bewiesen hat mir Herr S. nichts, gelehrt auch nichts.

Leipzig, im Dezember 1895.

Manfred Wittich.

1) Wir schließen hiermit die Erörterung über diesen Gegenstand. D. L. d. Bl.

Für die Leitung verantwortlich: Dr. Otto Lyon. Alle Beiträge, Bücher 2c. bittet man zu senden an: Dr. Otto Lyon, Dresden- A., Ludwig Richterstr. 2 II.

Typus und Individuum in der Litteratur.

Von Ed. Edhardt in Dresden.

Fassen wir Geschichte in der Bedeutung von Entwickelung, so läßt sich jede historische Wissenschaft in diesem weiteren Sinne in zwei Teile zerlegen: 1) in einen rein geschichtlichen Teil, der den Gang der einzelgeschichtlichen Entwickelung schildert, und 2) in einen allgemeinen Teil, der die allgemeinen Erscheinungen zusammenfassend behandelt, die Gefeße sucht und aufstellt, die in der betreffenden einzelgeschichtlichen Entwickelung bemerkbar sind. Man könnte einen solchen allgemeinen Teil die Philosophie der dazu gehörigen Geschichtswissenschaft nennen, wie ja auch die Bezeichnung,,Philosophie der Geschichte“ seit Herder häufig gebraucht wird. Ebenso könnte man auch von einer Philosophie der Kulturgeschichte, der Kunstgeschichte, der Sprachgeschichte u. s. w. reden. Aber ein Ausdruck wie „Philosophie“ in obigem Zusammenhange ist zu verschwommen, zu vieldeutig und zu leicht mißzuverstehen, als daß man ihn ohne genauere Begriffsbestimmung schlechthin gebrauchen könnte. Denn z. B. unter Philosophie der Geschichte" werden gewöhnlich nicht die in der Geschichte enthaltenen Entwickelungsgeseze verstanden, sondern vielmehr die allgemeinen Lehren, die Nuzanwendung und Moral, die sich aus dem Gange der geschichtlichen Entwickelung erschließen lassen. Ein Ausdruck wie,,Philosophie der Sprachgeschichte“ könnte leicht mit,,Sprachphilosophie" verwechselt werden, während beides doch ganz verschiedene, streng auseinanderzuhaltende Begriffe find. Erstere befaßt sich mit den sich in der Sprachgeschichte zeigenden Entwickelungsgesetzen, leztere behandelt die allgemeinen Erscheinungen, die allen Sprachen, ganz abgesehen von ihrer geschichtlichen Entwickelung, gemeinsam sind. Mit andern Worten, die Sprachphilosophie ist weniger die Wissenschaft von den Gesezen des Werdens, der Entwickelung in der Sprache, sondern eher die Wissen= schaft von den allgemeinen Erscheinungen des sprachlichen Seins, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Jene Wissenschaft von den Gesezen des Werdens in der Sprache könnte man zum Unterschiede von der Sprachphilosophie, und um überhaupt den vieldeutigen Ausdruck „Philosophie“ zu ver meiden, im Anschluß an den Germanisten Prof. Hermann Paul in München, besser die „Prinzipienwissenschaft der Sprachgeschichte“ nennen. Paul hat in seinem Werke,,Prinzipien der Sprachgeschichte" für diesen Beitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 8. Heft.

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allgemeinen Teil der Sprachwissenschaft eine neue vortreffliche Grundlage geschaffen. In entsprechender Weise wäre auch zwischen der „Prinzipienwissenschaft der Rechtsgeschichte" und der Rechtsphilosophie, oder der Prinzipienwissenschaft der Kunstgeschichte“ und der Kunstphilosophie zu unterscheiden, und auch die Litteraturgeschichte ließe sich so in einen besonderen Teil, die eigentliche Litteraturgeschichte, und einen allgemeinen, die Prinzipienwissenschaft der Litteraturgeschichte“, zerlegen, welche leztere sich zur Poetik ebenso verhält, wie die „Prinzipienwissenschaft der Sprachgeschichte" zur Sprachphilosophie u. s. w.

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Bisher ist man bei der Betrachtung der allgemeinen in der Litteratur hervortretenden Erscheinungen und Gesichtspunkte viel zu sehr ausschließlich von der Ästhetik ausgegangen, und hat dabei außer acht ge= lassen, daß dadurch ein - ich möchte sagen - fremdartiges Element, ein Element, das in der Litteraturgeschichte als solcher nicht enthalten ist, von außen in diese hineingetragen wird. Denn die Ästhetik als die Lehre von den Gesezen des Schönen hat nichts mit den realen Erscheinungen der Litteratur zu schaffen, sondern stellt ideale Forderungen an diese. Die auf die Litteraturgeschichte angewandte Ästhetik untersucht die Werke der Litteratur nicht daraufhin, wie sie sind, sondern daraufhin, wie sie sein sollen; sie mißt deren Wert an dem Maßstab des sich aus den Gesezen des Schönen ergebenden Jdeals. Neben und unabhängig von dieser ästhetischen Betrachtung der Litteratur ist eine andere Art ihrer Behandlung durchaus berechtigt, ja notwendig, die nichts von außen her in sie hineinträgt, sondern gerade umgekehrt, von innen heraus, aus den Einzelheiten der litteraturgeschichtlichen Entwickelung, die darin enthaltenen allgemeinen Geschichtspunkte und Geseze hervorsucht und sammelt. Auf diesem Wege kommen wir zu der schon oben erwähnten „, Prinzipienwissenschaft der Litteraturgeschichte". Sie ist eine noch zu begründende Wissenschaft; wir befinden uns hier auf einem noch sehr wenig angebauten, fast jungfräulichen Boden. Die folgenden Ausführungen sollen ein kleiner Beitrag zu dieser neuen Betrachtungsweise sein.

Ehe wir nun zu dem eigentlichen Thema übergehen, ist es vor allem nötig, fich darüber klar zu werden, was überhaupt unter einem Typus zu verstehen sei. Vor einigen Jahren las man in den Zeitungen von einem interessanten Versuch, der in Amerika gemacht worden ist, je dreißig oder mehr Personen von gleicher Berufsart auf dieselbe Platte, immer ein Bild auf das andere, photographisch aufzunehmen, und auf diese Weise ein Durchschnittsbild aller jener Vertreter des betreffenden Berufes zu gewinnen. Das so hergestellte Bild enthielt, in rohen und groben Umrissen, nur die Züge, die allen photographierten Personen gemeinsam waren, während alle andern nur für den einzelnen eigen

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