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W. H. Riehl als Novellißt.

Von Theodor Matthias in Zittau.

Kaum minder bedeutsam als die Jahre 1773 und 1774 für die Entwicklung unseres Schrifttums im 18. Jahrhundert sind in gleicher Beziehung für das unsrige die Jahre um 1853 und 1854. Nachdem erst in ihrer zweiten Auflage 1850 Holteis Schlesische Gedichte die allgemeine Teilnahme gefunden hatten, erschienen nicht minder warm aufgenommen 1852 Klaus Groths Quickborn und Storms Immensee, 1853 desselben Gedichte, Geroks Palmblätter und Reuters Läuschen. und Rimels, 1854 G. Kellers schon zwei Jahre später durch die Leute von Seldwyla übertroffener Grüner Heinrich, W. Alexis' Meisterwerk Isegrim, Freytags Journalisten und Scheffels Trompeter und 1855 sein Ekkehard und Freytags Soll und haben. 1854 trat in den von Maximilian II. Anfang der fünfziger Jahre in München gesammelten Dichterkreis der Lingg, Geibel, P. Heyse und Schack auch derjenige, den ich vor andern als den deutschen Novellisten bezeichnen möchte: Wilhelm Heinrich Riehl, der Verfasser der zum 3. Teil schon in 10. Auflage vorliegenden Naturgeschichte des Volkes '), deren weit verbreitete erste drei Bände ebenfalls 1851-1853 erschienen.

Durch die gleiche Höchherzigkeit des Verfassers und des Verlegers ist es mir möglich geworden, deren Hauptteile in drei Bändchen Schulausgaben schon jezt der Schule zugänglich zu machen. Als ich dem hochverdienten Münchner Gelehrten das erste dieser Bändchen übersandte, wurde ich durch einen liebenswürdigen Brief desselben beglückt, worin er von seinen Novellen sagt, sie halte er für das Dauerhafteste, was er geschrieben habe. Wenn ich also jezt eine erste Würdigung Riehls als Novellisten versuche, so erfülle ich lediglich eine Pflicht der Dankbarkeit nicht etwa nur für meine Person, sondern für das gesamte gebildete Deutschland, das die immer mächtigere Erstarkung seines alten Familiensinnes nicht zum geringsten Teile dem Verfasser der Bürgerlichen Gesellschaft und der Familie verdankt.

1) 1. Band: Land und Leutc. 2. Band: Die bürgerliche Gesellschaft. 3. Band: Die Familie. 4. Band: Wanderbuch, Stuttgart, bei Cotta, jezt in 9., 8., 10. und 3. Auflage.

Beitschr. f. d. deutschen Unterricht. 10. Jahrg. 1. Heft.

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Indem ich für das Leben Riehls auf die Einleitung zu meiner Schulausgabe von Land und Leuten (Cotta 1895) und für eine übersichtliche Zusammenstellung sämtlicher Novellen nach der geschichtlichen Reihenfolge ihrer Stoffe und nach ihren Fundorten auf die Einleitung des 3. Bändchens (Die Familie) verweise, führe ich hier nur die Sammlungen auf, in denen die Novellen jezt zugänglich sind. Die ältesten sind: Die kulturgeschichtlichen Novellen vom Jahre 1856, jezt im 2. Bande der Gesammelten Geschichten und Novellen, S. 1–354. 1863 folgten 2 Bände Geschichten aus alter Zeit, die jezt den 1. Band der Gesammelten Geschichten und Novellen bilden. Das folgende Neue Novellenbuch vom Jahre 1868 steht jezt im 2. Bande der Gesammelten Geschichten und Novellen, S. 355-608. 1874 folgte die Sammlung Aus der Ecke, 1880 die vorlegte: Am Feierabend und 1888 die lezte: Lebensrätsel.

,,Ohne den Vater und das Biebericher Jugendleben würde ich nicht Novellist geworden sein," bekennt Riehl selbst1), und ebenso sieht er in dem milden Humor, der seine meisten Novellen durchweht, ein Erbe dieses geselligen und jovialen Mannes, den es bei eigenen Gewissensqualen immer drängte, andere durch Laune und Wig zu erheitern.2) Wie kraft dieses Erbes die Lust am Erzählen, deren Befriedigung nach seinem Bekenntnis3) von Anfang an der wichtigste Zweck seiner Novellendichtung gewesen und immer geblieben ist, sich schon in seinen Knabenjahren auf dem weiten Schulwege zwischen Bieberich und Wiesbaden geregt hat, das erzählt er in beglückender Erinnerung in der Novelle Abendfrieden, die er seinem Neuen Novellenbuche 1867 als Einleitung voranstellte. In diese Novelle ist auch die Gestalt des ersten britischen Erzählers, wie er von seiner italienischen Erholungsreise nach England zurückkehrte, verwoben, ein dankbar beredtes Zeugnis, daß die Vertrautheit mit dem großen Schilderer englischer Vergangenheit in dem jungen Riehl den Wunsch erregt hat, dem eigenen Volke einmal den gleichen Dienst leisten zu können.

Schon mit 18 Jahren, als er noch auf der Universität erst in theologische, dann in kulturgeschichtliche Studien vertieft war, wurde dieser Wunsch zur That. Etwa zu gleicher Zeit, wo Scotts ursprünglicher Überseßer und buchstäblicher Nachahmer, Wilibald Alexis, die bürgerliche Tüchtigkeit der alten Märker zu schildern begann, unternahm also auch Riehl als Novellist seine ersten Streifzüge in die Vergangen

1) Religiöse Studie eines Weltkindes, S. 422.

2) Ebenda 405.

3) Lebensrätsel, S. VI.

heit des heimatlichen nassauischen Gebietes, dem und dessen näherer Umgebung er immer wieder mit Vorliebe seine Stoffe entnommen hat.

Diese allerältesten Erzählungen sind von ihm nicht gesammelt worden und darum verschollen, und für uns sind die ältesten Meister Martin Hildebrand und Der Stadtpfeifer aus dem Jahre 1847.1) An den ersten Kindern seiner Muse macht Riehl selbst die Ausstellung, daß sie im Schildern von Situationen und Ausmalen von Charakteren stecken geblieben seien und nicht genug Erzählung, d. h. Handlung enthielten.2) Indes ist es schließlich bloß dieser eigene Fingerzeig, der uns in den vorgenannten Erzählungen nun auch wirklich etwas Derartiges, einzelnes Lehrhafte oder ein Stück Reflexion aufspüren läßt. Bei dem kurzen Abschiede des Stadtpfeifers und seiner jungen Frau von deren Eltern 3. B. wird erklärt, daß dies Bauernart, aber auch unter Angabe der Gründe versichert, daß solch' Lebewohl troßdem tief empfunden sei. Oder die Teilnahme des Hofes an der Weilburger Kirmes giebt Gelegenheit, die Huld patriarchalischer Fürsten am Vorabende der französischen Revolution zu schildern. Ziemlich stark ist auch die Lehre aufgetragen und vom Stadtpfeifer selbst gelegentlich recht selbstgefällig hervorgehoben, welch' Glück es für den Frommen sei, durch Leid zur Freude geführt zu werden. Gar Meister Martin Hildebrand enthält nicht bloß gelegentliche Belehrungen über Wildhüterhäuschen, die Feuerspeise der Zigeuner", die Schicksale der Handwerksburschen in Hannover und Köln; sondern die ganze Einkleidung in eine Chronik, die ein als mustergiltig gerühmter Handwerksmeister im Alter niederschreibt, schafft fast geflissentlich Raum für einen Vergleich von heut und ehedem und für ein Lob der guten alten Zeit.

Doch mag man wirklich in solchen Einzelheiten dieser zwei,,kulturgeschichtlichen Novellen" die Berechtigung zu jenen eigenen Ausstellungen Riehls noch erkennen und aus ihnen den warmherzigen Laudator temporis acti aus der Zeit der aufkommenden Kulturgeschichtsstudien heraushören wollen. Der Genuß schon jener beiden ältesten Novellen wird dadurch kaum getrübt, und gelegentlich hat noch der fertige Meister einen solchen nachdrücklichen Hinweis auf einen Vergleich zwischen unserer und älteren Zeiten eingeschaltet oder angehängt, so auch äußerlich kenntlich in Damals wie heute vom Jahre 1881. Ja es staken geradezu

1) Die Jahrzahl 1846 für Die Werke der Gerechtigkeit auf dem Titelblatt gegenüber der Zahl 1856 im Vorwort zu den Gesammelten Geschichten und Novellen, S. IX, beruht nicht etwa auf Irrtum. Riehl hat diese Novelle wirklich schon 1846 in seinen ernsten und arbeitsvollen Flitterwochen — gedichtet, aber 1856 umgearbeitet und besonders um einige historische Einzelzüge bereichert.

2) Aus der Ede, S. XIV.

in jenen angeblichen Mängeln die Keime zu zwei Hauptvorzügen der Riehlschen Novellen. Aus der Liebe, mit welcher die Gestalten charakterisiert werden, wuchs die holzschnittartige Bestimmtheit heraus, die Riehl selbst mit vollem Recht der Vortragsweise seiner zweiten und dritten Novellensammlung1) zuschreibt, die man aber wenigstens mit gleichem Recht seinen Charakteren im besonderen nachrühmen kann. Und die Neigung, sich die handelnden Personen auf ihre Schicksale selber einen Vers machen zu lassen oder den Leser dazu anzuregen, verleiht gerade seinen Novellen vor den meisten anderen den reizvollen Gedankenreichtum, der uns zu eigenem nachdenklichem Verweilen einlädt; denn an der Sucht, durch die Überladung mit endlosen bunten Geschehnissen zu atemloser Jagd nach dem Ende zu verleiten, krankt er nicht. Andere Hauptvorzüge der Riehlschen Novellen sind: die geistvolle Durchführung eines oder mehrerer Grundgedanken, die durch Beleuchtung von verschiedenen Seiten erst in volles Licht gesezt werden, das Ebenmaß zwischen Stoff und Sprache, und ein goldiger Humor, der sich im einzelnen in der jovialen Benennung der Gebrechen und Verhältnisse seiner Helden verrät und am tiefsten und köstlichsten wiederklingt in der Richtung der ganzen Riehlschen Kunstauffassung, den Leser mit sich und mit Gott und der Welt zu versöhnen.

Die Durchbildung seiner Novellendichtung zur bewußten Kunst verlegt Riehl selbst in den Salon der Staatsrätin v. Ledebour in München und in die Jahre 1854 und folgende. Da traf er dort alle vierzehn Tage mit E. Geibel, Ad. v. Schack und einem anderen Meister der Novelle, P. Heyse, zusammen, und die geistreichen Freunde lasen sich und ihren Damen die neusten Gaben ihrer Muse vor. Zwanzig Jahre später, im Vorworte zu seiner Novellensammlung Aus der Ecke Το nannte er jenen Kreis, weil Heyse und er, wie Frau v. Ledebour ganz am Nordwest-Ende Münchens wohnten faßt er dann das Ergebnis der hier mit Heyse gepflogenen Erörterungen und der Selbstbeachtung seines eigenen fortgesetten Dichtens in die folgende Bestimmung des Wesens der wahren Novelle zusammen: Die Novelle kann nichts anderes darstellen, als die Konflikte eines psychologischen Problems, durch eine Geschichte gelöst, in der sparsamen knappen Kunstform des erzählenden Vortrags. Breiter hat er denselben Gedanken schon in seinem Vortrage Novelle und Sonate aus dem Ende der sechziger Jahre) ausgeführt. Er weist dort Seite 444 auf den Vater

1) Es sind dies die Geschichten aus alter Zeit, jeßt der Gesammelten Geschichten und Novellen, I. Teil; vgl. Lebensrätsel, S. IX.

2) Jezt in den Gesammelten Vorträgen, 2. Sammlung 1885, S. 441 flg.

der Novelle, Boccacio, und einige in dessen Dekamerone von der Königin gestellte Themen hin, z. B.: Es soll gezeigt werden, wie man durch ein geschicktes Wort Neckereien auf das Haupt ihres Urhebers zurückwirft, oder: wie ein rascher Entschluß Gefahr und Kränkungen abwendet, wie standhafte Liebe troß aller Hindernisse doch endlich siegt, oder auch: welche Trauer und Not die Liebe den Liebenden schafft. Daraus zieht er dann den Schluß: „es ist also eine geläufige Wahrheit, die auf eine neue Weise erhärtet, ein psychologisches Problem, 1) welches gelöst, ein Paradoxon, das seines scheinbaren Widerspruchs entkleidet werden soll, aber nicht durch eine lehrhafte Beweisführung in Worten, sondern durch die poetische Dialektik der Thatsachen, durch die artig verflochtene Handlung einer Geschichte, die unvermerkt zum überraschenden und dennoch überzeugenden Schlusse führt.“2)

Woher er diese Probleme vor allem nahm, verrät er wieder Aus der Ecke, Seite XXIV: aus „alle den Neigungen, Leidenschaften, Launen und Thorheiten, welche wir Menschen uns fortwährend zu novellistischen Problemen wechselsweise entgegenbringen." Fragen also müssen es sein, die jeden einzelnen, die noch uns heutige bewegen; und weil ihn die eigene Beobachtung des immer frischen Lebens zur Beantwortung dieser Fragen angeregt hat, packt seine Behandlung derselben jeden im Innersten, wenn anders er zu nachdenklichem Sinnen über die zahllosen uns vom Leben aufgegebenen Fragen angelegt und durch das Äußere der Ereignisse bis auf ihre seelischen Triebkräfte hindurchzudringen fähig ist. Ganz richtig wird man denn auch die immer tiefere Wirkung seiner späteren vollendeten Novellen davon ableiten, daß er nach eigenem Bekenntnis immermehr nur innerlich selbst Erlebtes erzählte.3) Niemals auch sind troß dieses Hervorwachsens aus der Beobachtung des Alltagslebens die von ihm behandelten Fragen alltägliche Gemeinpläße, noch ist es wahr, was aus kaum eingehender Kenntnis geurteilt worden ist,1) daß seine Novellen niemals einen weiteren Blick über die nächste Um

1) Ohne das Fremdwort kommt er 1863 im Vorwort zu den Geschichten aus alter Zeit aus, wo er das Wesen der Novelle darein seßt, ein Seelengeheimnis in der Verknüpfung und Lösung erdichteter Thatsachen zu enthüllen.

2) Diese lezten Gedanken erläutert er Novelle und Sonate S. 458 durch einen Vergleich zwischen Novelle und Rondo, indem er auf die für die Novelle notwendige Zuspißung auf ein leitendes, durchgreifendes Problem hinweist, die darin besteht, daß alle Fäden der Einzelscenen von vornherein so angesponnen und verschlungen werden, daß sie zulezt notwendig in dem bestimmten Knoten zusammen kommen müssen.

3) Aus der Ede XXII.

4) Von Ludw. Salomon, Gesch. der deutsch. Nat. - Litt. des 19. Jahrh. 1885,2 Seite 453.

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