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3.

Ist es nach dem heutigen Stande der spezifischen Tuberkulosetherapie gerechtfertigt, eine allgemeine Anwendung derselben für die Prophylaxe und Behandlung der Schwindsucht ausserhalb geschlossener Anstalten zu fordern, und in welcher Weise hätte dieselbe in der Praxis stattzufinden?

Von

Kreisarzt Dr. Hillenberg, Springe.

Wer die umfangreiche Literatur der letzten Jahre bezüglich der Anwendung der spezifischen Tuberkulosetherapie verfolgt und das rastlose Vorwärtsdringen. der letzteren, das Erobern immer weiterer Kreise beobachtet hat, selbst solcher, die noch vor einer kurzen Spanne Zeit sich durchaus ablehnend gegen die therapeutische Verwendung des Tuberkulins verhielten, der wird sich, zumal wenn er selber bereits über eigene günstige Erfahrungen auf diesem Gebiete verfügt, des Eindrucks nicht erwehren können, dass trotz gegenteiliger Ansicht mancher Gegner oder Zweifler (Meissen, Schröder, Köhler, Unverricht, Ruhmann, Joel, de la Camp, Pel) die spezifische Therapie der Tuberkulose bezüglich Heilung bestehender und Verhütung neuer Fälle anscheinend mehr zu leisten imstande ist, als es mit den bisherigen Mitteln und Massnahmen der Fall gewesen.

Seit der denkwürdigen 2. Sitzung der Tuberkuloseärzte am 25. Mai 1907, auf welcher die hervorragendsten und berufensten Vertreter der spezifischen Therapie nach dem gründlichen, auf umfassender Arbeit beruhenden Referat von Bandelier sich auf Grund von vielen tausenden Injektionen und der durch sie erzielten und zahlenmässig festgelegten Erfolge zum Teil mit wahrer Begeisterung für das Tuberkulin ausgesprochen, sind die dort mitgeteilten guten Erfahrungen durch weitere günstige Beobachtungen bestätigt worden, wenn auch von der Gegenpartei immer noch behauptet wird, es fehlten sichere Beweise dafür, dass tatsächlich die spezifische Methode der bisher geübten Behandlung überlegen sei.

Ohne mich auf eine Erörterung dieser Differenz, die ja in der Literatur zur Genüge behandelt worden ist, einzulassen, scheint mir vor allem die Frage die grösste Wichtigkeit zu beanspruchen, ob die Zeit gekommen erscheint, dass die spezifische Behandlung der Tuberkulose, die ja in zahlreichen Heilstätten in Verbindung mit der hygienisch-diätetischen Behandlung als kombinierte Methode seit mehr oder weniger langer Zeit ausgeübt wird und die erfreulichsten Resultate zeitigt, in grösserem Umfang auch allen den Kranken zugänglich gemacht wird, die

aus bestimmten Gründen zeitlich oder dauernd in Heilstätten Aufnahme nicht finden können. Jedem praktischen Kollegen, namentlich solchen, die häufiger für die Versicherungsanstalten tätig zu sein Gelegenheit haben, wird es ergangen sein wie mir, dass ab und zu Tuberkulöse, deren Antrag auf Uebernahme des Heilverfahrens von seiten der Anstalt stattgegeben, zunächst nicht Aufnahme finden konnten, weil kein Platz vorhanden war. Wie schmerzlich ist es mir da gewesen, wenn die Armen zu mir kamen mit der Klage, es sei noch immer keine Nachricht eingetroffen, sie fühlten, es würde mit ihnen schlechter, ob daran nichts zu ändern wäre. Und ich habe auch manchen Kranken kennen gelernt, der, als der ersehnte Augenblick erschienen, nun nicht mehr körperlich imstande war, die Kur anzutreten. Selbstverständlich sind dies Ausnahmen, aber sie kommen vor. Ferner sind jedem beschäftigten Kollegen im Laufe der Jahre eine grosse Anzahl nicht versicherter Tuberkulöser vorgekommen, die nach dem Stande ihrer Krankheit an und für sich zu einer Behandlung in Anstalten, Kurorten usw. ausserordentlich geeignet gewesen wären, jedoch einer solchen nicht teilhaftig werden konnten, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse ungünstige waren. Während für den versicherungspflichtigen Arbeiter durch die Landes-Versicherungsanstalt gesorgt ist, sind Angehörige des sogenannten Mittelstandes, von denen nur ein relativ kleiner Teil der freiwilligen Selbstversicherung sich unterzieht, doch nur selten in der Lage, eine immerhin ziemlich kostspielige Kur sich leisten zu können.

Welcher Arzt wird da nicht oft mit schmerzlichem Empfinden gedacht haben: Gäbe es doch auch für diese Leute einen Weg, ihrer Krankheit die geeignete Behandlung zuteil werden zu lassen. Man versucht dann daheim, das in den Heilstätten übliche Verfahren so gut es geht nachzuahmen, verwendet längere Ruhekur und sonstige hygienische Massnahmen und erzielt auch manchmal sehr hübsche Erfolge, wenn der Erkrankte Verständnis, Geduld und Zeit genug besitzt, den Ratschlägen des Arztes zu folgen, d. h. sich rechtzeitig für eine längere Frist seinem Berufe, seiner Arbeit fernzuhalten und das vorgeschriebene Leben zu führen.

Viele andere gibt es jedoch, die sich nicht zur rechten Zeit in Ruhe begeben können, die weiter verdienen müssen, soll ihre Familie nicht Not leiden. Die privaten Wohlfahrtseinrichtungen, Fürsorgestellen, Walderholungsstätten usw. sind ja noch immer so wenig zahlreich, dass diese sonst sehr geeigneten Organisationen nur unter besonders günstigen Verhältnissen in solchen Fällen helfend einzutreten vermögen. Jenen schreibt man, innerlich oft mit grösstem Widerstreben, irgend ein Mittel auf, erteilt einige Verhaltungsmassregeln und sieht betrübten Herzens den Kranken davongehen, wohl wissend, dass die ganze Verordnung nichts weiter ist als Täuschung, nichts als Täuschung, und dass der Kranke, unter günstigeren äusseren Verhältnissen lebend, zu retten wäre, so aber mehr oder weniger schnell seinem unverdienten, frühzeitigen Ende zueilt, ein Opfer der Ungunst seiner sozialen Stellung.

Wohl wusste der Arzt von einem Mittel, Tuberkulin genannt, das einst die medizinische und die Welt der Laien in unsagbaren Aufruhr versetzt, welchem jedoch nicht segenatmendes, frisches Leben, sondern leider entsetzliche Zerstörung und Oede folgten. Von den wenigen, die trotz aller Verdammnis das Mittel weiter brauchten, ward nicht viel bekannt, und mit Recht konnte der Kreisarzt Krause, einer von jenen wenigen, noch 1901 von demselben sagen, es sei „leider noch in vieler Augen ein abscheulicher Wechselbalg, dem man am besten gleich in der

Wiege das Genick umgedreht hätte". Jeder stand eben noch derart unter dem Bann der Ereignisse der Jahre 1890/92, dass er gar nicht daran dachte, sich für das Mittel und seine Verwendbarkeit in der Praxis zu interessieren, geschweige es seinen Patienten direkt zu empfehlen. Hatte er doch ich habe hier vornehmlich diejenigen Aerzte im Auge, die, wie ich, jene Jahre noch als Kliniker miterlebt haben als klinischer Student nie ein empfehlendes Wort mehr für das Tuberkulin, nie von seiner näheren Anwendungsweise etwas gehört.

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So lagen die Verhältnisse für den praktischen Arzt bisher, und wie stehen sie heute? Ich glaube nicht zuviel zu sagen, wenn ich behaupte: wesentliches hat sich daran nicht geändert. Das Gros der praktischen Kollegen dürfte auch heutigen Tages von der ausgedehnten Anwendungsmöglichkeit des Tuberkulins in der Praxis nicht allzu grosse Kenntnis besitzen. Es ist dieses nichts Auffälliges, da dem in seiner Berufsarbeit sich abhetzenden Kollegen - von besonders günstigen Verhältnissen abgesehen kaum Gelegenheit geboten sein dürfte, sich eingehender über die enormen Fortschritte grade auf diesem Gebiete zu orientieren. Als Geheimrat Wassermann uns Teilnehmern am letzten bakteriologischen Kursus im Institut für Infektionskrankheiten zu Berlin die Tuberkulintherapie eingehend erläutert und ihre Anwendung auch in der Praxis uns ans Herz gelegt hatte, „die ja viel mehr leiste als alles andere", fragten wir uns gegenseitig, ob einer von uns sie praktisch ausführe. Ein „Nein" ertönte allenhalben als Antwort, mit dem bezeichnenden Zusatz: „Woher sollten wir denn das alles wissen". Man wird ja hier allerdings mit Recht betonen, dass es ein Glück in der neu erwachenden zweiten Tuberkulinperiode gewesen, dass die Allgemeinheit der Aerzte an der Vorbereitung des Bodens nicht beteiligt gewesen, dass vielmehr einige wenige überzeugungstreue Aerzte, die sich, erfüllt von der Richtigkeit der Lehre ihres Altmeisters Koch, nicht fortreissen liessen von der abtrünnigen Menge, diese Mühe vollbracht und durch plan- und zielbewusstes Arbeiten das Anwendungsgebiet genau erforscht und umgrenzt haben. Nachdem jedoch eine gut gegründete Basis für das neu erstehende Bauwerk geschaffen, ein hinreichender Fonds von Erfahrungen über Methodik und Grenzen der Leistungsfähigkeit gesammelt, ein Besitzstand, der zur Hauptsache in den Volksheilstätten und Sanatorien zusammengebracht und hier vornehmlich bisher weiter verwertet worden, drängt sich dem Arzt und Hygieniker die Frage auf: Lässt sich jetzt die spezifische Behandlung im Interesse einer fruchtbringenden Tuberkulosebekämpfung in ausgedehnterem Massse als bisher aus den geschlossenen Anstalten heraus in die Praxis überführen, und auf welche Weise kann dies geschehen?

Zur Beantwortung des ersten Teils der Frage erscheint es zunächst angebracht, hier kurz wenigstens einen Teil der diesbezüglichen Veröffentlichungen und Ansichten einzelner Autoren und erfahrener Tuberkulintherapeuten anzuführen. Die Zahl derer, die sich für Einbürgerung in die Praxis aussprechen, ist recht erheblich, doch fehlt es auch nicht an Stimmen, die sich in dieser Beziehung ablehnend verhalten. Um mit einigen Urteilen zu beginnen, die sich gegen die Einführung in die Praxis des Arztes aussprechen, so sagt Ranke- München in seinem Referat über das Lehrbuch von Bandelier und Röpke: „Es ist gewiss berechtigt, die Aufmerksamkeit wieder auf das Tuberkulin zu lenken. Ein Mittel für die allgemeine Praxis, wie die Verfasser des Lehrbuchs wollen, ist es aber doch nicht." Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XXXVII. 1.

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Guignard, der sich auf dem letzten französischen Kongress für innere Medizin im übrigen sehr für Behandlung der Tuberkulose mit Tuberkulin ausspricht, ist gleichfalls der Ansicht, dass die Tuberkulinbehandlung wegen ihrer Gefahren. in unerfahrenen Händen in die tägliche Praxis keinen Eingang finden könne. Auch der unermüdliche Vorkämpfer für die spezifische Therapie, Petruschky, betont frei, dass er nach wie vor ein Gegner der allgemeinen Einbürgerung sei. Er tritt zwar sehr warm für Tuberkulinbehandlung, auch ausserhalb der Heilstätte ein, wünscht dieselbe jedoch zentralisiert zu sehen, wie weiter unten noch ausgeführt wird.

Auf der anderen Seite plädieren jedoch eine grosse Anzahl sehr kundiger Tuberkuloseärzte für ausgedehnte Anwendung der spezifischen Therapie auch seitens der praktischen Kollegen.

So hat der Kreisarzt Krause im 33. Band der Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten (S. 89-108) nach eingehender Prüfung der Bedenken, die gewohnheitsmässig gegen das Mittel geltend gemacht werden und auf Grund ausgedehnter eigener praktischer Erfahrung sein Urteil über die Verwendbarkeit des Tuberkulins folgendermassen abgegeben:

,,Die Misserfolge der ersten Tuberkulinepoche sind ausschliesslich Folgen der damaligen fehlerhaften Anwendung des Mittels. Es ist daher niemand berechtigt, auf Grund der Erfahrungen des Jahres 1891 über dasselbe ein absprechendes Urteil zu fällen. Dringend ist dagegen zu wünschen, dass das Mittel von neuem nach den jetzt giltigen Indikationen und zwar in ausgedehntem Masse geprüft werde. Dann wird man zu wesentlich anderen Resultaten kommen und der Aerztestand wird dann um ein wertvolles Mittel reicher sein". Er selbst hat als praktischer Arzt das Mittel seit Anfang der neunziger Jahre, unter Erzielung ausgezeichneter Erfolge in ausgedehntem Masse verwandt.

Hager hat das Tuberkulin in mehr als 400 Fällen in seiner Privatpraxis benutzt, ohne einen einzigen Misserfolg zu erzielen, und kommt zu der Erkenntnis, dass die Tuberkulose nur dann sichtlich abnehmen könne, wenn die praktischen Aerzte imstande sein werden, richtig eine systematische Behandlung derselben durchzuführen.

In einem Vortrag in der Sitzung der medizinischen Gesellschaft zu Magdeburg über die Wrightsche Opsoninlehre und die spezifische Behandlung der Tuberkulose weist er ferner, meines Erachtens mit vollem Recht, ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Mitwirkung und Hilfe des praktischen Arztes, und zwar der aktiven immunisierenden, hin, wenn der Tuberkulose energisch zu Leibe gegangen werden solle. Auch Sobotta - Reiboldsgrün hält die Ausführbarkeit der Tuberkulinbehandlung für den praktischen Arzt für unbestreitbar; nur wäre auf dem Lande, auf weite Entfernungen hin, von derselben abzuraten. Mitulescu schreibt über die Tuberkulineinspritzungen in der Praxis. Wenn nun die spezifische Behandlung sich tatsächlich bei der Behandlung von Patienten in Heilstätten bewährt hat, so sind wir auf Grund dieser Erfahrungen berechtigt zu sagen, dass in der privaten Praxis diese Behandlungsweise alle anderen überragt. Man muss diese Tuberkulineinspritzungen verwenden, um bessere und dauerndere Resultate zu erzielen als mit Medikamenten und hygienischen Ratschlägen.“ Er fährt an anderer Stelle fort:,,Fehlt dem Patienten die Möglichkeit, ein Sanatorium

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aufzusuchen, so müsste ihn der Arzt vor allem ins Ernährungsgleichgewicht bringen, um alsdann mit der spezifischen Behandlung vermittelst Tuberkulineinspritzungen zu beginnen."

Krüger hat bei 26 Tuberkulösen eine spezifische Kur mit gutem Erfolg angewandt und glaubt, dass in vielen Fällen durch die Tuberkulinbehandlung eine Heilstättenkur ersetzt werden könne. Sahli-Bern will gleichfalls die spezifische Behandlung den Hausärzten überlassen wissen, und Löwenstein - Belzig kann einen Grund nicht finden, warum dies nicht geschehen solle.

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v. Ruck erwähnt in seiner Arbeit Erfahrungen mit Tuberkulin und mit anderen Produkten des Tuberkelbazillus in der Behandlung der Lungenschwindsucht", mit besonderem Nachdruck eine Serie von 423 Fällen, die in der Privatpraxis behandelt wurden, in der die Vorteile von klimatischer oder von Anstaltsbehandlung nicht zur Geltung kamen. Die spezifische Behandlung wurde hier von 68 Aerzten angewandt, welche in der Regel eine besondere Erfahrung nicht be

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Elsässer erklärt gerade die spezifische Behandlung als die eigentliche Domäne der praktischen Aerzte: Was sollten wir mit den Patienten anfangen", ruft er aus, „welche von uns Hilfe erwarten in allen Stadien, wenn wir nicht die spezifische Behandlung hätten."

Er wünscht Entlastung der Volksheilstätten durch ausgedehntere ambulatorische Tuberkulinbehandlung, insbesondere Vor- und Nachbehandlung der Leichtkranken zu Hause bezw. im Krankenhause.

Hammer plädiert in gleicher Weise für spezifische Behandlung der leichten. Fälle ausserhalb der Heilstätten, welch letztere dann für die schwerer Erkrankten Platz behalten; ja, er will dem praktischen Arzt das Tuberkulin sogar in schweren Fällen in die Hand geben, die immer wieder neue Mittel zur Linderung der Klagen und Beschwerden erheischen. „Es ist aber gar keine Frage, dass sich durch die Tuberkulinbehandlung auch bei den schwerer kranken Patienten eine grosse Reihe von Symptomen wirksam bekämpfen lässt und wirksamer als mit allen bisherigen Mitteln und es ist ohne weiteres einleuchtend, dass das von ausserordentlich grosser Bedeutung ist gerade für den praktischen Arzt."

Chefarzt Scherer - Bromberg bedauert, dass das Tuberkulin nicht noch mehr Beachtung findet, als ihm bisher geschenkt wird, und zwar nicht allein in den zu seiner Verwendung, zu seinem Studium besonders berufenen geschlossenen Heilstätten, sondern auch in der allgemeinen Praxis." Er empfiehlt demgemäss die ambulatorische Tuberkulinbehandlung besonders in jenen Fällen, für

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