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Hierauf eilte der Mann der Gebärenden selbst zum Arzte und forderte ihn, wie es schien, in heftigem Tone auf, sofort mit ihm zu gehen, was denn auch geschah. Bei der Untersuchung fand Dr. N. die Nabelschnur vorliegend und den Kopf in sogenanntem „Einschneiden“. Das Kind war ein Knabe. Die angestellten Belebungsversuche mit Einblasen von Luft von Mund zu Mund blieben ohne Erfolg. Auf die Frage des betrübten Vaters (der 3 Mädchen und noch keinen Knaben hatte), woran das Kind gestorben sei, erwiederte Dr. N.: das Kind sei erstickt und habe, auch wenn er eher gekommen wäre, nicht gerettet werden können, weil die Nabelschnur vorgelegen habe. Nachdem Dr. N. sich entfernt hatte, holte der Ehegatte der Niedergekommenen einen zweiten Arzt zur Besorgung der letzteren herbei. Als diesem die Aussage des Collegen über die Todesursache des Kindes mitgetheilt worden war, sagte dieser: dann hat der College sich selbst hineingeritten." Der Gatte wurde klagbar, und erhielt ich am 8. Mai von Seiten des öffentlichen Mnisteriums unter Beifügung der vom Collegen N. selbst eingelieferten Krankheitsgeschichte den Auftrag, „die Kindesleiche zu besichtigen und mich darüber zu äussern, ob durch zeitigere Anwesenheit oder Verbleiben des Dr. N. bei der Gebärenden das Kind am Leben hätte erhalten werden können."

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Mein Gutachten nach der am 9. Mai von mir vorgenommenen Leichenbesichtigung war ein negatives und lautete:

„die Leichenbesichtigung hat kein Zeichen einer gewaltsamen Todesart ergeben; ebensowenig Thatsachen, welche die Annahme ausschliessen, dass das Kind in Folge eines Vorfalls der Nabelschnur an Erstickung gestorben sei." Die mir gestellte Frage:

,,ob durch zeitigere Anwesenheit oder Verbleiben des Dr. N. bei der Gebärenden das Kind am Leben hätte erhalten werden können“,

ist nicht zu beantworten. Jedenfalls aber durfte der betreffende Arzt die Gebärende, ohne einen Stellvertreter (Arzt oder Hebamme) zurückzulassen, nicht mehr verlassen, sobald nach seiner eigenen Angabe der Muttermund 2 Thaler gross und durch ihn die Blase in's Becken hineinreichend war".

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Hierauf wurde die Obduction der Kindesleiche von Seiten des öffentlichen Ministeriums verfügt, welche von mir und dem Kreiswundarzt am 10. Mai im Beisein der gesetzlichen Gerichtspersonen vorgenommen wurde. Unser Gutachten geben wir dahin ab:

1) das Kind ist lebensfähig zur Welt gekommen;

2) dasselbe hat geathmet und ist an Erstickung gestorben. ad 1. Dass das Kind lebensfähig zur Welt gekommen, folgt aus den von uns angegebenen Zeichen der Reife desselben u. s. w.

ad 2. Dass dasselbe geathmet habe, beweisen die Beschaffenheit der Lungen und die Resultate der Lungenprobe. Dass dasselbe an Erstickung gestorben sei, folgt aus der Blutfülle der Kranzgefässe des Herzens und des rechten Herzventrikels, dem Erguss im Herzbeutel, dem blutig-serösen Erguss in der Unterleibshöhle, dem Blutreichthum der grossen Gefässe des Unterleibes u. s. w.

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Am 1. Juni wurde Dr. N. in meinem Beisein vom Herrn Instructionsrichter mündlich verhört. Er widerrief die in seinem Krankheitsbericht geäusserte Meinung, dass das Kind bei seiner Ankunft schon eine Stunde todt gewesen sei, was er aus der gelb gefärbten Beschaffenheit der Nabelschnur geschlossen habe, weil eine spätere Beobachtung ihn belehrt habe, dass eine solche gelbe Färbung sofort nach Unterbindung der Nabelschnur auch bei einem lebenden Kinde eintrete." Er erklärte ferner: „Obgleich der Muttermund um 12 Uhr bis zu 2 Thalergrösse erweitert und die Blase durch denselben in das Becken hineinragend gewesen sei, so habe er doch eine so schnelle Entbindung nicht erwartet, weil die vorhergehende Entbindung eine schwere gewesen sei." Auf die Bemerkung des Untersuchungsrichters, dass er dem Vater des Kindes durch den Dr. Z. 50 Thaler habe anbieten lassen, wenn er die Sache auf sich wolle beruhen lassen", wiederte Dr. N.: dass er dies gethan habe, um dem Gerede der Leute ein Ende zu machen."

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Unter dem 15. Juni wurden wir durch den Untersuchungsrichter ersucht, uns mehr in positiver Weise, als dies nach Ansicht des öffentlichen Ministeriums bisher geschehen sei, darüber gutachtlich zu äussern: ob nach unserer Ansicht gerade durch die Fahrlässigkeit des Dr. N. der Tod des Kindes herbeigeführt worden sei." In Erwägung, dass nach Dr. Schürmayer's Erfahrungen*) zu Anklagen gegen Medicinalpersonen am meisten die unbesonnenen, wissenschaftlich anmassenden oder ausser dem Gebiete ihrer Competenz sich bewegenden Urtheile der gerichtlichen Sachverständigen beigetragen, lautete unser Gutachten hierauf:

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Diese Frage kann nicht beantwortet werden, bevor der Begriff „Fahrlässigkeit“ feststeht. Diese Begriffsbestimmung ist aber, da

*) cf. dessen Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Erlangen, Verlag von Ferd. Enke. 1874. S. 404.

Fahrlässigkeit kein medicinischer, sondern ein juristischer Begriff ist, nicht Sache des Gerichtsarztes, sondern des Juristen resp. des Richters. Aus diesem Grunde hat Casper sich auch auf keine Definition von „Fahrlässigkeit“ eingelassen. Dennoch wollen wir dem Wunsche des öffentlichen Ministeriums, soviel wir dies vermögen, willfahren und näher treten. Als der Muttermund, nach dem eigenen Berichte des Dr. N., bis zur Grösse eines 2 Thalerstücks erweitert war und die Blase in den so erweiterten Muttermund eintrat, hatte das Geburtsgeschäft nicht nur begonnen, sondern dasselbe war in voller Thätigkeit. Hiermit stimmen auch die Aussagen der Zeugen, dass alle fünf Minuten eine Wehe erfolgt sei, vollkommen überein. Unter diesen Umständen durfte Dr. N. die Kreissende ohne Stellvertretung nicht mehr verlassen. Geschah letzteres dennoch, so handelte er gegen Pflicht und Schuldigkeit, d. h. sein Verlassen der Kreissenden war nach unserer unmassgeblichen Ansicht unter den obwaltenden Umständen ein gesetzwidriges, d. h. eine Fahrlässigkeit. Alle üblen Ereignisse, d. h. gesetzwidrige Erfolge, welche nach seiner Entfernung die Mutter oder das Kind trafen und welche durch zeitige Hülfe (z. B. Zurückbringen der vorgefallenen Nabelschnur, Beschleunigung der Geburt durch die Zange oder die Wendung u. s. w.) hätten vermieden oder wenigstens vermindert werden können, sind, da sie ohne Absicht des Handelnden herbeigeführt, als durch Fahrlässigkeit entstandene zu betrachten.

Hiernach glauben wir dem Wunsche des öffentlichen Ministeriums möglichst thunlich nachgekommen und der Beantwortung der Frage, ob gerade durch die Fahrlässigkeit des Dr. N. der Tod des Kindes herbeigeführt ist", möglichst nahe getreten zu sein.

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Noch wurde mir die in den Akten geäusserte Ansicht der beiden Aerzte: „dass im vorliegenden Falle die Lungenprobe trügerisch sei, indem Dr. N. bei dem Wiederbelebungsversuche dem Kinde von Mund zu Mund Luft in die Lungen geblasen habe“, zur Aeusserung vorgelegt.

Meine Erwiederung lautete: Abgesehen davon, dass ein solches Einblasen von Mund zu Mund bei einem todten Kinde in den seltensten Fällen gelingt, unterscheidet sich auch eine aufgeblasene Lunge von einer solchen, die geathmet, dadurch, dass eine auf diese Weise eingeblasene Luft zwar die Lungen schwimm

fähig machen, keineswegs aber dieselben rosenroth färben kann; dass ferner die so eingeblasene Luft wohl beim Einschneiden der Lungen ein knisterndes Geräusch hören lassen, keineswegs aber bewirken kann, dass ein schaumiges Blut, untermischt mit Luftbläschen, beim Einschneiden und Drücken hervordringt.

Am 28. September wurde ich im hiesigen allgemeinen ärztlichen Verein von verschiedenen Seiten um Mittheilung des bereits in der Kölnischen Zeitung veröffentlichten Falles ersucht. Mit Verwahrung gegen Discretion und Nennung von Namen theilte ich den Fall in Kürze mit. Gegen Erwarten fand eine Discussion statt, in welcher von gewichtiger und deshalb auch leicht für competent angenommener Stelle folgende Behauptungen aufgestellt wurden:

1) Durch die vorschriftsmässig angestellte Lungenprobe könne nicht bewiesen werden, dass das Kind gelebt resp. geathmet habe.

2) Eine aufgeblasene Lunge könne nicht von einer Lunge, welche geathmet habe, unterschieden werden.

3) Casper sei in gerichtlich-medicinischer Beziehung durchaus - keine Autorität.

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Wir suchten eine nach unserer Ansicht unfruchtbare, leicht zu Persönlichkeiten führende Fortsetzung der Discussion zu vermeiden, um so mehr, als die Beweisführung in einem Fachblatt in Aussicht gestellt wurde, uns erinnernd des Homer'schen:

Ἰατρὸς γὰρ ἀνὴρ πολλῶν ἀντάξιος ἄλλων.

II. Oeffentliches Sanitätswesen.

1.

Beobachtung einer Epidemie von Typhus exanthematicus mit Berücksichtigung ihrer Entstehungs- und Verbreitungsweise.

Vom

Kreisarzt Dr. Nordt zu Gedern (Hessen).

Der exanthematische Typhus war in Deutschland und namentlich in unserer Gegend lange Zeit eine seltene Krankheit. Ich bin elf Jahre lang recht beschäftigter Arzt gewesen, ohne je eine derartige Erkrankung gesehen zu haben, und die Rücksprache mit viel älteren Collegen bestätigte mir auch ihrerseits das Gesagte. Aber seit mehreren Jahren wird diese Affection, sowie der allem Anschein nach mit ihr in näherer Beziehung stehende recurrirende Typhus, abgesehen von den grösseren Epidemien, wieder häufiger beobachtet. So hatte auch ich Gelegenheit, im Winter 1872-73 eine kleine Epidemie in meinem Wohnorte Gedern zu sehen, die in ihren Erscheinungen, ihrer Entstehungs- und Verbreitungsweise manches klinische und hygieinische Interesse bietet und deren Veröffentlichung deshalb um so eher gerechtfertigt erscheint, als gerade der Flecktyphus in neuester Zeit Veranlassung zur Aufstellung eines Gesetzes über die Entstehungs- und Verbreitungsweise der contagiösen Krankheiten gegeben hat, als durch die in dieser Zeitschrift erschienenen Aufsätze von Zülzer und Robinski an jeden, namentlich die Practiker auf dem Lande, die indirecte Aufforderung ergeht, einschlägige Beobachtungen mitzutheilen, und dann auch, weil bei unseren heutigen socialen Verhältnissen und ganz ungemein raschen Verkehrsvermittelungen das Erscheinen dieser Infectionskrankheit überall so leicht ermöglicht wird.

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