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4.

Tödtung eines Säuglings durch die eigene Mutter. Ob zurechnungsfähig?

Gutachten

vom

Sanitätsrath Dr. Miquel,
Obergerichtsphysikus in Nienburg.

Nachstehender Fall scheint mir schon aus dem Grunde mittheilungswerth, weil die unter ihren Ortsgenossen und Bekannten als geistesgesund angesehene, auch alle Pflichten des Lebens unter schwierigen Verhältnissen treu erfüllende Frau einer grauenvollen That beschuldigt, selbst Motive für ihr Handeln angiebt, wie sie einer Geistesgesunden zukommen würden, die auch nach Lage der Sache glaublich und wahrscheinlich erscheinen mussten, während doch die gerichtsärztliche Untersuchung deutliche Spuren sich entwickelnder Geisteskrankheit nachweisen und zugleich klarlegen konnte, dass hierin die Ursache der That zu suchen sei. Ich bemerke in dieser Beziehung noch, dass auf Grund nachstehenden Gutachtens die Angeklagte ausser Verfolg gesetzt wurde, dass dieselbe darauf noch über ein Jahr lang in leidlichem Zustande bei ihren Verwandten gelebt hat, dass aber mehr und mehr die sich weiter entwickelnde Geisteskrankheit Erscheinungen hervorgebracht hat, welche die Ueberführung der Unglücklichen in eine Provinzial-Heilanstalt nothwendig machten.

Durch Schreiben des Herrn Untersuchungsrichters beim hiesigen Obergericht vom 24. October c. bin ich ersucht worden, ein Gutachten darüber abzugeben, „ob die wegen Mordes angeklagte Ehefrau S. aus N. die in Frage stehende That in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit begangen habe, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war."

Ich habe in Folge dessen die betreffenden, gefälligst mitübersandten und anbei zurückerfolgenden Acten durchgelesen, die Angeklagte bei mehrfachen Besuchen im hiesigen Gefängnisse auf ihren Geisteszustand untersucht und gebe demnach nun mein Gutachten in Folgendem ergebenst ab.

Thatsächliches.

Am Morgen des 28. September cr. wurde das 3 wöchentliche Kind der Angeschuldigten todt in einem Färberbottig des S.'schen Hauses gefunden, die Angeschuldigte selbst aber in ihrer Küche betroffen mit einem Messer in der Hand, im Begriff sich Schnitte in den Hals beizubringen. Es stellte sich alsbald heraus, dass die Angeschuldigte mit dem Kinde in den Färberbottig gesprungen sei, dass sie das Kind darin habe fallen lassen, dass sie selbst aber, weil der Bottig nicht tief genug gewesen, um sich darin zu ertrinken, wieder herausgestiegen sei. Sie hat nun versucht, sich auf andere Weise das Leben zu nehmen, ist aber daran theils durch ihre eigene Unentschlossenheit, ferner auch durch hinzukommende Nachbarn behindert. Von diesen in Bezug auf den stattgehabten Vorgang angeredet gab sie lediglich unzusammenhängende und unverständige Antworten.

Ueber die Persönlichkeit der Angeklagten geht aus den Acten und der Untersuchung ihrer selbst Folgendes hervor:

Dieselbe ist am 30. September 1837 zu E. geboren, zur Zeit 35 Jahr alt; ihre Eltern, dem kleineren Bürgerstande angehörig, haben ihr eine dem Stande entsprechende Erziehung gegeben.

Der Vater ist todt, die noch lebende Mutter leidet der Aussage der Angeklagten nach vielfach an Magenbeschwerden und Kopfschmerzen Die Angeklagte hat später mehrere Jahre als Dienstmädchen in H. zugebracht, dort ihren Mann kennen gelernt und sich vor 6 Jahren mit demselben verheirathet. Sie hat während dieser Zeit in N. mit ihm gelebt und stammen aus dieser Ehe 2 Kinder, ein Knabe von 4 Jahren und das am 28. September in dem Färberbottig gefundene Kind.

Die Angeklagte ist körperlich wohl gebildet und finden sich an ihr keine körperlichen Degenerationen, welche auf Geisteskrankheit oder besondere Anlage zu derselben schliessen lassen; in N. hat sie ein stilles arbeitsames Leben geführt und sich die Achtung ihrer Ortsgenossen erworben, wie sowohl aus den verschiedenen Zeugen-Aussagen, als auch aus den amtlichen Zeugnissen hervorgeht.

Ihr Mann war ein notorischer Säufer und hat sie im trunkenen Zustande mehrfach misshandelt; die Vermögensverhältnisse der Familie sind durch diesen Zustand heruntergekommen; die Trunksucht ihres Mannes scheint mehr und mehr zugenommen und in der letzten Zeit sich so gesteigert zu haben, dass er häufig schon des Morgens betrunken gefunden wurde; auch an dem Morgen, wo die in Rede stehende That geschah, wurde der Mann trunken gefunden.

Ueber ihr Benehmen, sowie über ihren Gemüths- und geistigen Zustand liegen mehrere Zeugen-Aussagen vor, welche für die Beurtheilung von Wichtigkeit sind und daher hier angeführt werden.

Im Pastoral-Zeugniss wird gesagt, dass sie, vor ihrem trunkenen Manne

Zuflucht zu den Nachbarn nehmend, öfters von diesen nach ihrem Hause sich habe begleiten lassen, und dass constatirt werden könne, dass die Nachbarn bei diesen Gelegenheiten bisweilen eine gewisse und so leicht zu erklärende Geistesverwirrung, eine mächtige convulsivische Erregtheit an Körper und Geist und eine darauf rasch eintretende Erschlaffung bei ihr bemerkt haben; auch habe sie der L. gegenüber mal geäussert: „ich glaube, ich werde noch mal verrückt", und einer anderen Nachbarin gegenüber: „schon als Mädchen habe sie bisweilen an Geistesstörung gelitten."

Die Hebamme H. constatirt, dass die S. während ihres Wochenbettes an Schlaflosigkeit gelitten, namentlich noch an dem Tage vor der That ihr geklagt habe, dass sie überall nicht schlafen könnte "

Von den Zeuginnen L. und M. wird constatirt, dass sie längere Zeit hindurch missmuthig gewesen und sich sehr unglücklich gefühlt habe. Die S. B. sagt aus, dass sie von der S. in dem Verdacht gehalten, als habe sie mit ihrem Manne etwas zu thun gehabt. Die Wittwe T., welche zwei Tage vor der That bei ihr gewesen, sagt aus: sie sei von der S. angegangen, einige Tage bei ihr zu bleiben und ihr aufzuwarten; sie habe dieses verweigert mit der Bemerkung, sie habe jetzt keine Zeit. Da sei Frau S. in der Stube auf- und abgelaufen und habe gesagt, sie könne nun nicht mehr leben", habe angefangen am ganzen Leibe zu zittern und sich geberdet wie eine irrsinnige Person.

Besondere Beachtung für Beurtheilung ihres Zustandes verdient ein Bericht über ihr Benehmen während eines Aufenthalts in H. im vorigen Jahre. Es wird darüber vom Herrn OberMedicinal-Rath Brandes, der sie im städtischen Krankenhause behandelte, Folgendes berichtet:

Sie sei von einem Schutzmann nach dem Krankenhause gebracht, welcher berichtet habe, dass die Patientin sich an dem gedachten Tage Morgens 8 Uhr auf dem hiesigen Bahnhofe eingefunden und sich ohne Billet und gegen den Willen des Schaffners in den nach C. bestimmten Zug gesetzt habe, während sie angegeben, sie wolle nach E. fahren. Sie habe mit Gewalt aus dem Zuge entfernt werden müssen und auf alle an sie gerichteten Fragen geantwortet: „weiss ich nicht". Nachdem die Kranke sich dann in der Richtung nach der Stadt zụ entfernt habe, sei sie mittelst eines Dienstmannskarren nach einer halben Stunde nach dem Bahnhofe zurückgebracht, habe dann im Wartesaal „phantasirt“, Gläser entzwei geworfen u. s. w., weshalb sie arretirt sei und als anscheinend geisteskrank dem Krankenhause überliefert worden.

Der Herr Ober- Medicinal - Rath berichtet dann weiter:

Die Kranke kam in meine Behandlung. Es wurde ermittelt, dass sie die Schwägerin des Bäckers K. in H. sei, dass sie sich bei demselben besuchsweise aufgehalten, sich daselbst auffallend betragen und am 16. Morgens habe in die Heimath reisen wollen. Ihr Ehemann kam schon am 18. dess. Monats und holte seine Frau vom Krankenhause ab. Der Aufenthalt von 3 Tagen war zu kurz, um die Kranke gründlich zu beobachten. Sie war sehr still und einsilbig und konnte nur festgestellt werden, dass sie an „Melancholie" litt.

Ueber ihr Benehmen gleich nach der That ist von den vorliegenden Zeugnissen Folgendes für die Beurtheilung von Wichtigkeit:

Der Zeuge G., welcher sie gleich nach der That gesehen, sagte aus: sie habe, von der R. angeredet, nur unverständige und unzusammenhängende Antworten gegeben.

Die Wittwe L. will gleich nach geschehener That von Geistesstörung an Frau S. nichts wahrgenommen haben, doch habe sich dieselbe sehr eigensinnig gestellt und geweigert, trockene Kleidung anzuziehen.

Die Angeschuldigte selbst erzählt ihre That und die Art und Weise, wie sie dazu gekommen, nach Inhalt der Acten in folgender Weise: Am Morgen der That aufgestanden findet sie ihren Mann wieder betrunken, sie fühlt jetzt nicht länger die Kraft, das Leben zu ertragen, und beschliesst dasselbe zu enden; selbstverständlich sei ihr dabei gewesen, dass ihr Kind mit ihr sterben müsse.

Sie schreibt den bei den Acten vorhandenen Zettel, in welchem sie diese Absicht ausspricht, zugleich in ungeordneter Weise durcheinander einige Bestimmungen in Bezug auf ihr überlebendes Kind und ihre Sachen macht. Sie springt nun mit ihrem Säugling auf dem Arm in den Färberbottig, lässt das Kind darin fallen, und da sie gewahr wird, dass sie selbst ihren Tod darin nicht finden kann, steigt sie wieder heraus und macht einen Versuch, sich auf andere Art das Leben zu nehmen, wird jedoch durch hinzukommende Nachbarn dabei betroffen und daran gehindert.

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Während sie einmal sich dahin ausspricht, dass diese That aus einem, wenn auch kurz vorher gefassten Entschluss hervorgegangen mit dem Motiv, sich und das hülflose Kind von dem Elend ihres Lebens zu befreien, so sagte sie bei einer anderen Vernehmung, weshalb sie das Alles gethan: darüber habe sie weiter nicht nachgedacht." In ähnlicher Weise liess sie sich mir gegenüber in mehrfachen Unterredungen aus; während sie als Motiv ihres Handelns die Ueberlegung angiebt, sich und ihr Kind einem elenden Leben entziehen zu wollen, sagt sie andererseits auch: „sie sei so eigenthümlich im Kopfe gewesen, ähnlich wie bei dem Vorfall in H., dass sie nicht klar habe nachdenken können." Von mir darauf aufmerksam gemacht, dass sie doch hätte wissen müssen, dass sie in dem Färberbottig ihren Tod durch Ertrinken nicht habe finden können, sagte sie: „,sie wisse nicht, wie es zugegangen, dass sie daran nicht gedacht habe."

Ihr Betragen im hiesigen Gefängniss ist ein geordnetes und ruhiges; einigermassen auffallend ist nur eine gewisse Abgespanntheit und eine Gleichgültigkeit gegen ihre Lage, die sich bei Unterredungen über die That ebenfalls zeigte; nur selten drückt sie ein Bedauern über dieselbe und Anklage ihrer selbst aus. Sie giebt auf alle Fragen sachgemässe und verständige Antworten. Von mir in Bezug auf ihre Idee wegen der Untreue ihres Mannes befragt, giebt sie nicht wie in ihren Vernehmungen an, die S. B. in Verdacht zu haben, sondern erzählt, ihr Mann habe sich in

Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXII. 2.

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ihrem Hause mit einer unverehelichten N. zu thun gemacht, und machte darüber unwahrscheinliche und unzusammenhängende Angaben.

Von mir befragt, ob es wahr sei, dass sie glaube, sie werde nochmal verrückt, auch in ihrer Jugend sei ihr oft so wunderlich im Kopfe gewesen, antwortete sie: davon wüsste sie nichts, die Leute redeten manchmal Allerlei."

"

Gutachten.

Eine so grauenvolle widerrnatürliche That, begangen von einer Frau, die bis dahin, obwohl in unglückseligen häuslichen Verhältnissen lebend, als unbescholtene und rechtschaffene Frau bekannt war, würde uns von vornherein auf die Idee bringen müssen, dass diese That in einem Zustande begangen sei, welcher die Zurechnungsfähigkeit ausschliesst; in diesem Falle aber treten Momente auf, die uns zu einer anderen Erklärung der That führen könnten.

Die Thäterin selbst giebt uns Motive an, die eine solche That auch als aus vernünftiger Ueberlegung entsprungen erscheinen Jassen könnte. Die Einsicht, dass in ihren Familienverliältnissen das Loos ihres Kindes, wie ihr eigenes Leben nur Elend sein könne, dass es nur einen Weg gebe, das Kind und sich aus diesem Elend zu retten, nämlich den Tod, hat sie in verzweifelter unglückseliger Stimmung zu der That getrieben, wovon allerdings nur ein Theil ausgeführt ist. Wäre der Sachverhalt so, so würden wir der Unglücklichen unser Mitleid nicht versagen können, vielleicht auch würde das Gesetz Milderungsgründe für sie finden, nicht aber würde die Zurechnungsfähigkeit der That aufgehoben sein. Und diese Ansicht von den Motiven der That ist vorhanden, sie ist die allgemeine in ihrem Wohnorte, sie ist theilweise die Ansicht der Angeklagten selbst, sobald sie versucht, Motive für das ihr sonst unerklärliche Handeln zu finden. Wir haben zu prüfen, ob die wissenschaftliche Betrachtung der Thatsachen zu demselben Urtheil führt. Die Angeklagte tritt uns in ihrem früheren Leben entgegen als eine Frau, welche die Pflichten, die das Leben ihr auferlegt, im Allgemeinen zu erfüllen vermag und auch unter schwierigen Verhältnissen erfüllt. Dass ihre Stimmung seit langer Zeit eine gedrückte missmuthige gewesen, ist aus ihren Verhältnissen erklärlich, und wird ihr Wesen und Benehmen von ihren Bekannten einfach darauf geschoben.

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