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ruhig geworden, dass ihm die Bande gelöst werden konnte. Ebenso ruhig liess er sich in den Untersuchungs-Arrest abführen.

6. Sämmtliche Leute nebst dem Feldwebel, welche den W. bereits früher zu wiederholten Malen betrunken gesehen haben, sagen einstimmig aus, dass derselbe während des geschilderten Vorfalles nicht im betrunkenen Zustande war.

Im Untersuchungs-Arrest betrug er sich ruhig und hielt sich vollständig fern von den übrigen Arrestanten, weigerte sich jedoch drei Tage später, trotz mehrfacher ausdrücklicher Aufforderung von Seiten des wachthabenden Unterofficiers, zum Verhör zu erscheinen, so dass von Seiten des Auditeurs die Vermuthung einer Geistesstörung ausgesprochen und die ärztliche Exploration beantragt wurde.

Als ich den etc. W. sechs Tage nach dem Insubordinationsfalle zum ersten Male auf dem Corridor des Arrestlokales untersuchte, fand ich ihn zwar noch etwas aufgeregt, mit verstörtem, unstätem Blicke, jedoch entschieden seiner Sinne mächtig und im Zustande geistiger Gesundheit. Dieselbe manifestirte sich durch schnelles Auffassungs- und Vorstellungsvermögen, mit anhaltender Aufmerksamkeit und geistiger Spannung nebst richtiger und durch keine Wahnvorstellungen beeinflusster Combinationsfähigkeit, sowie endlich durch ein treues Gedächtniss. Eine gewisse Erregung trat darin zu Tage, dass er plötzlich das Gespräch mit mir abbrach und in seine Zelle zurückkehrte. Als er drei Tage später zur weiteren Beobachtung in's Lazareth aufgenommen war, so ergab die genaue Untersuchung des etc. W. Folgendes:

Derselbe ist von mittlerer Grösse, kräftigem Körperbau und stark entwickelter Muskulatur. Die Schädelbildung ist normal, auf dem mit reichlichen blonden Haaren besetzten Kopfe befinden sich mehrere nicht verwachsene Narben. Beide Pupillen sind von gleicher Grösse und richtiger Zusammenziehungsfähigkeit. Die Gesichtszüge sind als plumpe, ja rohe, der ganze Gesichtsausdruck als ein durchaus unsympathischer zu bezeichnen. In den lebhaft fixirenden Augen liegt ein gewisser Trotz und etwas Tückisches. Auf der linken Gesichtshälfte bemerkt man häufig ein so stark hervortretendes Muskelzucken, dass es dem Stubenkameraden sofort auffiel. Die Lippen sind roth und ebenso wie die Zunge ohne Narben. Der Brustkorb ist kräftig gebaut, die Athmung, sowie die Herztöne und der Puls von normaler Beschaffenheit. Dasselbe gilt von der Haut, der Verdauung und dem Stuhlgang. Sämmtliche Sinnesorgane functioniren ebenso regelmässig wie die Geschlechtsorgane, deren Zustand als völlig gesund angegeben wird. Excesse in venere werden geleugnet. Der Schlaf ist ruhig und ohne schwere Träume. Beim Gespräch zeigt der Explorat, dass seine geistige Thätigkeit zur Zeit in jeder Hinsicht normal ist.

In Bezug auf die incriminirte Handlung (Beleidigung eines Vorgesetzten mit Worten und Drohung. thätlichen Angriffs gegen denselben mit ausdrücklicher Verweigerung des Gehorsams) behauptet der Genannte durchaus von Nichts zu wissen, ebensowenig von seinem Aufenthalt in der jener vorhergehenden Nacht. Er will erst wieder zum Bewusstsein gekommen sein, als er durch seine gebundenen Füsse belästigt wurde, doch blieb noch eine Art von geistiger Benommenheit zurück, so dass er sich der Aufforderung zum Verhör nicht erinnern könne. Wohl aber weiss er, dass er etwas später im Arrestlokale ärztlich untersucht worden ist, ohne jedoch die Persönlichkeit des Arztes angeben zu können. Diese Angaben erscheinen glaubhaft, weil sie, wie wir sehen werden, eine innere Wahrheit haben.

Nachdem nun die geistige und gemüthliche Entwickelung, sowie die körperlichen Verhältnisse des Exploraten nebst seinem Benehmen bei der incriminirten Handlung genau geschildert sind, erübrigt es festzustellen, ob sich derselbe, obwohl er jetzt geistig gesund ist, zur Zeit der letzteren That in einem Zustande von krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.

Es erscheint vorerst die Frage nothwendig: ob es überhaupt periodische Geistesstörungen von mehr oder minder langer Zeitdauer giebt, und ob dieselben Aehnlichkeit mit dem vorliegenden Falle haben.

Die Erfahrung, sowie das Studium der Seelenkrankheiten lehren, dass solche periodische krankhafte Geistesstörungen nicht selten vorkommen und zwar ganz besonders häufig bei einem Nervenleiden, welches, wie kein anderes, eine entschiedene Prädisposition zu Seelenkrankheiten bedingt, der Epilepsie. Ein grosser Theil derselben beruht auf dieser Krankheit, mag sie nun als völlig ausgebildetes Krampfleiden (haut mal der Franzosen), oder, für den Laien unerkennbar, nur als sogen. epileptischer Schwindel oder in Form von vereinzelten Muskelzuckungen (petit mal) auftreten. Bei dem etc. W. liegt diese Krankheit unzweifelhaft vor und zwar in verschiedenen Formen, indem sie sich bald in wohl constatirten heftigen Anfällen, bald in den oben geschilderten auffallenden Zuckungen der Gesichtsmuskeln manifestirt. Die Epilepsie findet sich auch erfahrungsmässig häufig in innigster Beziehung zu solchen Gemüthszuständen, die sich durch moralische Verkehrtheit, abnorme Erregbarkeit und Anfälle von Aufregung charakterisiren, so dass diese Kranken mehr bedauernsals tadelnswerth sind. Ferner lehrt aber auch die Erfahrung, dass

bei Weitem nicht alle Epileptiker an geistiger Störung leiden, sowie die Geschichte, dass im Gegentheil hervorragende Geister wie Napoleon I., Newton, Peter der Grosse, Petrarka an Epilepsie gelitten haben, dass also diese Krankheit niemals ein Freibrief für unerlaubte Handlungen sein darf. Stets ist es als ein Fehlschluss anzusehen, wenn man behaupten wollte, dass Geisteskrankheit vorliegt, weil der Explorat an Epilepsie leidet, einem nur bisweilen solche bewirkenden Nervenleiden. Nicht selten berufen sich epileptische Verbrecher behufs Exculpation auf ihre Krankheit und geben an, zur Zeit der That in bewusstlosem Zustande gewesen zu sein. Somit wäre wohlberechneter Simulation Thür und Thor geöffnet und der Arm der Gerechtigkeit gelähmt. Auch im vorliegenden Falle müssen wir vorerst entschieden an etwaige Simulation denken und mit Vorsicht zu eruiren suchen, ob dieselbe auszuschliessen ist. Wir müssen dies um so mehr, als wir den etc. W. als einen durchtriebenen charakterlosen Menschen kennen gelernt haben, und als derselbe die Aeusserung mehrfach gemacht, dass er Alles versuchen werde, um aus dem ihm verhassten Stande entlassen zu werden.

Zu diesem Zweck ist es nothwendig festzustellen, ob die charakteristischen Merkmale der sogen. Mania epileptica auch im vorliegenden Anfalle vorhanden sind oder nicht.

Die Anfälle von Geistesstörung treten bei Epileptikern entweder kurz vor einem wirklichen Anfalle auf, oder nach einem solchen, oder drittens sie substituiren den Krampfanfall. Als bekannte Symptome der epileptischen Geistesstörung finden sich erstens Periodicität, dann unstätes Wesen (Wandertrieb) als Einleitung, ferner starke Aufregung, Delirien und impulsive Tobsucht von verschieden langer Dauer, endlich exquisite Sinnestäuschungen und nachher die sogen. Gedächtnisslücke, indem der Kranke sich später des ganzen Vorfalls entweder gar nicht oder nur ganz dunkel zu erinnern weiss. Die Gedächtnisslücke kann sich erfahrungsgemäss auf mehrere Tage erstrecken.

Sämmtliche Erscheinungen passen auf den vorliegenden Fall. Wir wissen, dass der Angeklagte sich die Nacht hindurch, sowie am Morgen nachher unstät herumgetrieben hat, dass er sich dann zuerst im Zustande starker Gereiztheit befand, der allmählich in wirkliche Tobsucht ausartete. Ferner haben wir als das wichtigste

Moment, welches dem Falle gewissermassen sein Gepräge giebt, die unzweifelhaftesten Sinnestäuschungen. Dieselben treten hier in Form der sogen. Illusionen auf. So benennt man krankhafte Erregungen des Gehirns, in Folge deren die Sinne dem Bewusstsein zwar wirklich vorhandene Objecte darstellen, aber ganz anders, als dieselben wirklich beschaffen sind, oder wenigstens anders, als wir sie im gesunden Zustande bei gehöriger Aufmerksamkeit aufzufassen vermögen. In solcher Sinnestäuschung sehen wir den etc. W. befangen in dem Benehmen gegen den Feldwebel. Er hält denselben nicht für das, was er ist; er wird immer ausfallender, je mehr sein Geist sich umdüstert: da fängt er an zu schimpfen, redet ihn mit „Du" an, und vor Allem: er sieht in ihm einen früheren Bekannten, mit dem er schon einmal ein vielleicht blutiges Rencontre gehabt. Dies geht aus seiner Drohung: „Du kennst mich doch noch von damals!" zur Evidenz hervor. Ob auf diese Weise nicht auch jener vorher angeführte mysteriöse Fall, wo der Angeklagte sich des Angriffs auf einen Unterofficier fälschlicher Weise anschuldigte, eine Erklärung finden dürfte, lasse ich dahingestellt sein. Endlich ist auch hier die Gedächtnisslücke vorhanden: der etc. W. hat mindestens vier Tage lang eine Art von geistigem Dämmerleben geführt, erst ganz allmählich erholte sich das Organ der geistigen Thätigkeit von dem erschütternden Anfalle und nur langsam kehrte diese zur Norm zurück. Leise Spuren davon habe ich noch bei der ersten Untersuchung gefunden.

Somit dürfte der Beweis geführt sein, dass der vorliegende Fall ohne Schwierigkeit als ein solcher von epileptischer Manie angesprochen werden darf. Der Verdacht auf Simulation beginnt mehr in den Hintergrund zu treten. Bei der Wichtigkeit des Falles jedoch müssen wir noch andere Anhaltspunkte zu gewinnen suchen, um festzustellen, ob die Simulation nicht vollständig auszuschliessen ist, und ob nicht der Angeklagte zur Zeit der That im wahren Sinne des Wortes geistig unfrei war.

Hierzu muss die incriminirte That einer genauen psychologischen Analyse, besonders in Bezug auf die Causa facinoris, unterworfen werden.

Die That ist ihrer ganzen Natur nach eine solche, dass sie den Verdacht einer Geistesstörung erregen muss. Was konnte der

Angeklagte als Simulant mit einer solchen Komödie bezwecken? Gesetzt dass es ihm gelang, als Irrsinniger zu gelten nnd als dienstuntauglich entlassen zu werden, erhielt er denn dann die ersehnte Freiheit? musste er sich nicht sagen, dass er dann höchstens gegen das gebundene Leben der Kaserne das noch viel unfreiere des Irrenhauses eintauschen würde? Oder wollte er nur absichtlich Etwas begehen, um zur Strafe aus dem Militairstande entfernt zu werden? Dann hätte er doch wohl einen anderen sichereren Weg eingeschlagen, als diesen, von dem er wissen musste, dass er ihn nicht zum Ziele verhelfen konnte. Ausserdem gerirt sich Jemand, der Geisteskrankheit simuliren will, ganz anders. Um eine solche Rolle mit Erfolg zu spielen, dazu gehört so viel Geschick, dass es selten auch der vortrefflichste Schauspieler, viel weniger ein ungebildeter Mensch zu Stande bringt. Die Simulanten tragen stets mit zu starken Farben auf, ergehen sich in ganz unnatürlichen Extravaganzen und streiten kluger Weise nicht dagegen, wenn man sie als verrückt bezeichnet. In unserem Falle das diametral Entgegengesetzte: allmählich sich steigernde Erregung, die den Höhepunkt erst beim thätlichen Angriff erreicht, ferner die charakterische Replik: „Wenn Sie mich für verrückt halten, so sind Sie selbst verrückt!"

Vergleichen wir nun weiter die That mit der Individualität des Thäters und fragen wir uns dabei erstens: ob jene in dem Leben desselben isolirt dasteht, und zweitens: ob sie etwas Befremdendes, Ueberraschendes darbietet.

Nach der Aussage des Feldwebels war der W. trotz seiner Rohheit und Rücksichtslosigkeit, selbst in trunkenem Zustande, stets gegen ihn „manierlich“, ja er hatte ein gewisses, aus der allgemeinen Beliebtheit dieses Vorgesetzten entspringendes Vertrauen zu ihm, denn er bat ihn zu verschiedenen Malen um Verzeihung, wenn er sich von seiner Leidenschaft zum Trunke hatte hinreissen lassen. Zweitens weiss Jeder, der einen Blick in das innere Leben einer Compagnie zu thun Gelegenheit hat, welch eine Respectsperson für den gemeinen Mann gerade der meistens viel ältere Feldwebel ist.. Man nennt ihn nicht mit Unrecht die Mutter der Compagnie: er giebt dem Soldaten seine Löhnung, er hört seine Klagen und Beschwerden an, er sorgt für ihn, wenn

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