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höheren Klassen ohne eine Gesundheit der niederen bestehe." Die Idee der Identität aller Interessen der gesellschaftlichen Ordnungen und Zustände bricht sich auch hier Bahn, und gerade im Gesundheitswesen wird am ersten und klarsten in der Sorge für die niederen Klassen der Schutz der höheren erkannt.

Man giebt die Versuche der Codifikation auch auf dem Continent auf und widmet sich der Gesetzgebung über die einzelnen Gebiete. Bald indessen bethätigt es sich als wahr, dass namentlich in der Gesundheitspflege sich die besten Gesetze nicht selber vollziehen", sondern ihren Werth erst in der energischen Mitwirkung der Selbstverwaltung finden.

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Was nun Frankreich anbetrifft, so bemerkt Stein mit Recht, dass von einer allgemeinen ärztlichen Bildung dort nicht die Rede ist und dass seine ganze innere Entwickelung eine wahre Selbstverwaltung nicht hat aufkommen lassen. Allerdings besitzt Frankreich auch in gesundheitspolizeilicher Beziehung bedeutende Specialitäten und vermöge des Einflusses dieser Spitzen der Medicin wird das Gesundheitswesen als ein nothwendiger und organischer Theil der Staatsverwaltung anerkannt. Aber das öffentliche Gesundheitsrecht ist fast wesentlich Recht der Maires, denen berathende Commissions sanitaires zur Seite stehen. Die Theilnahme der Aerzte ist ausnahmsweise. Ebenso steht dem Präfekten das Conseil d'hygiène zur Seite, einberufen werden jene wie diese nach dem Ermessen der Behörden. Natürlich steht dem Ministerium ebenfalls eine Commission consultative d'hygiène de France zur Seite ohne Macht, von der man wenig hört, während die Commission des logements insalubres (Paris) facultativ für das ganze Land mehr geleistet hat. Die Symmetrie des Planes, sagt die englische Untersuchungs-Commission, ist gefasst, „aber er versagt in der Praxis, weil er einzig und allein auf der Centralgewalt beruht und gänzlich des Geistes entbehrt, welcher allein lokale Energie und nationales Leben schafft", und es fehlt den Räthen jedes Gefühl der Verantwortlichkeit. Der Charakter der das Gesundheitswesen betreffenden Gesetze ist daher durchgreifend der der Vorschriften für Beamtete, wie die Gesundheitspflege lediglich die Ausführung derselben. Dabei besteht eine durchgreifende Verschmelzung von médecine légale und hygiène publique in der Literatur. Die strenge Beziehung der forensischen Gesetzgebung auf die amtliche Function ist besonders hervorzuheben.

Indem ich Italien, das, allerdings mit vielen Verbesserungen, auf dem Boden des französischen Systems steht, die Schweiz, Holland, Belgien und die vereinigten Staaten, welche die Gesundheitspflege auf die Gemeindefreiheit zu basiren bestrebt sind, nur nenne, gehe ich sofort auf England über, mit dem Vorbehalt, wenn es die Zeit erlaubt, zum Schlusse noch die deutschen und speciell preussischen Verhältnisse zu berühren.

Es ist Ihnen Allen bekannt, einen wie grossen Einfluss auch auf diesem Gebiete die innere Entwickelung Englands auf Deutschland ausgeübt hat. Seit der ältere Vincke die Selbstverwaltung dort für uns gewissermassen entdeckte, hat man dahin geblickt als dem Paradiese innerer Freiheit und selbstständiger Entwickelung, doch war wenig Verständniss

vorhanden, bis Gneist auch auf diesem Gebiete eintrat. Er bleibt der Bahnbrecher, und so lobenswerth Sander und neuerlich Finckelnburg in viel vollständiger Weise schrieben, Gneist wird noch heute mit Nutzen gelesen werden, da ihm stets die Kenntniss des ganzen Gebäudes innerer Verwaltung mehr als einem Engländer selbst zu Gebote steht und er sofort in der Lage ist, manche direkte Partien durch andere zu erläutern, deren Verständniss leichter ist. Allgemein ist die Klage über die Unsicherheit und Dunkelheit des geltenden Rechts selbst bei Sander. Aber eine einzelne Partie lässt sich gar nicht willkürlich aus dem verwickelten Gebäude herausnehmen, bleibt unverständlich und ist nur im Zusammenhange des ganzen Selfgoverments zu verstehen. Darum lese man Gneist noch heute, bei all seiner Anhänglichkeit für die energische Selbstverwaltung der früheren Zeit ist er nicht blind gegen ihre Zerrüttung und daher kein Karrikaturen maler wie Bucher, den das Wort common law stets blendet, dessen Ideal der excentrische Toulmin Smith ist, der gar keine Centralgesetzgebung nur Lokalstatuten will, sondern ist sich der Schranken der Selbstregierung nnd Verwaltung in der modernen Erwerbsgesetzgebung wohl bewusst.

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Ausserdem ist Glen nothwendig und sind die verschiedenen Handbücher für Gesundheitsbeamte zu studiren.

Das Charakteristische liegt für England nun darin, dass das Gesundheitswesen bis 1848 überhaupt keine Angelegenheit der Regierung, sondern, und grundsätzlich auch später, Aufgabe der Gemeinde, der Selbstverwaltung ist. Das englische Recht hat sich daher auch mit dem gesammten Heilwesen, den Verhältnissen des ärztlichen Personals niemals abgegeben, sondern erst 1858 im Medical Act dieselben und sehr unzureichend berücksichtigt. Nur ganz einzelne Punkte, Quarantaine, Blattern, niedere Gesundheitspolizei etc. werden gesetzlich geordnet, bis die Cholera in sehr ernster Weise bewies, dass man keineswegs ohne die grösste Gefahr Alles der Selbstregierung überlassen durfte. Seit 1830 erscheinen demzufolge einzelne gesetzliche Massregeln, aber fast immer ad hoc, um in den grösseren Städten durch Beseitigung unmittelbar gefährlicher oder nachtheiliger Zustände die Ursachen der Seuchen und ihrer Verbreitung zu beseitigen.

Inzwischen hatte aber eine radikale Reform die Schranken des bisherigen Selfgoverments durchbrochen, sehr zum Schmerze der extremen Anhänger desselben, die Armenakte von 1834. Ihre Bestimmungen haben nicht allein durch die enge Verbindung des socialen Elends mit der Verschlechterung der Volksgesundheit, durch das zu Tage Fördern eines abgrundtiefen Klassen-Elends materiell der Gesetzgebung für öffentliche Gesundheitspflege vorgearbeitet, sondern, was weniger anerkannt ist, sie hat auch formell erst die Möglichkeit dazu gegeben, dass die öffentliche Gesundheitspflege sich nach und nach aus den Schlingpflanzen ähnlichen Auswüchsen der Selbstverwaltung herausarbeitete. Charakteristisch genug für diese ganze Entwicklung scheint es mir zu sein, dass das Gesundheitswesen schliesslich 1872 mit der Verwaltung und Gesetzgebung über das Armenwesen unter ein und dieselbe Behörde gestellt wird.

Die Reform durch das Armengesetz von 1834 betraf nach Gneist ein Gebiet, mit theilweiser Aufgabe des Charakters des Selfgoverments, auf dem das letztere am meisten verfallen war, und wo die Gesellschaft dem Princip des Selfgoverments an und für sich am meisten widerstrebte. Das Armenwesen bleibt nunmehr der Grundtypus einer modernen Verwaltungsweise, die sich den Verwaltungssystemen des Continents ziemlich nahe anschliesst, besonders auch dadurch, dass neben die gesetzlichen Normen ein gleich bedeutendes und gleich umfangreiches Gebiet von Amtsregulativen tritt.

Mit dem System, besoldete Armenverwaltungsbeamte anzustellen, bricht man ebenso mit der Vergangenheit. Die alten Kirchspielbeamten verlieren ihre Bedeutung. Die gewählten Kreisarmenräthe stehen bei Weitem nicht so selbstständig da wie ihre Vorgänger, und ihr besoldeter Sekretär wird die eigentliche Seele der ganzen Administration. Ihm zur Seite stehen der ebenfalls besoldete Rendant und Districts-Armenarzt, die Unterstützungsbeamten und Armenarbeits- Aufseher. Ja selbst das alte Ehrenamt der die Steuer erhebenden Aufseher wird durch die Anstellung besoldeter Steuerbeamten geschädigt. Die Arbeitshäuser haben ebenfalls eine beträchtliche Bureaukratie, so dass 1868 die Gehälter, Löhne und Pensionen ca. 800,000 Lstr. im Ganzen betrugen. In demselben Sinne einer Handhabung der Armengesetzgebung durch beweglichere Organe, als das alte jurisdictionelle Selfgoverment sie bieten konnte, tritt eine Königliche Centralbehörde ein als administrative Controle - Instanz, fortlaufende Oberaufsicht ausübend durch Inspektoren, in ergänzender Gesetzgebung durch Regulative, und endlich als Beschwerde - Instanz zur Deckung ihrer Beamten (Gneist). Die Selbstständigkeit der letzteren von den Lokalbehörden, ihre Abhängigkeit von dem Armen-Amt wird aber vor Allem dadurch gesichert, dass alle Distrikts- und Lokalbeamten ausser den dienenden nur von dem Armen-Amt im administrativem Wege entlassbar sind. Dies ist wirksam genug.

Neben der Verwaltungsjurisdiction geht freilich die Rechtsprechung des obrigkeitlichen Selfgoverments in allen Fragen, in welchen das Recht des Einzelnen und die Rechtsordnung durch parteimässige Verwaltung gefährdet werden würde, und es besteht noch die Möglichkeit der Privatklage. Jeder Interessent, der eine Caution von 50 Lstr. stellt, kann die Legalität der rules, orders, regulations des Staatsarmenamts vor das Reichsgericht bringen, Kings Bench, welches der höchsten Instanz der Verwaltung als höchster Competenzgerichtshof gegenübersteht. Diese Fälle sind nach

Gneist selten, weil die Gesetze sehr weit gefasst sind, aber auch Gneist giebt zu, dass darin eine Schranke gegen willkürliche Ausdehnung der Verwaltungsmacht gegeben sei. Noch bestehen die Garantien des Rechtsstaats.

Wem entginge die Bedeutung dieser neuen Organisation für die öffentliche Gesundheitspflege und wer sähe nicht, dass auf ihrem Gebiete ganz dieselben Mittel, dieselben Aemter gewählt werden, derselbe Rechtsschutz gewährt wird? Nur Eines ist ganz Anders. Das Armenwesen

Das neue

konnte seiner ganzen Natur nach sofort einheitlich organisirt werden und besiegte den Widerstand der Gegner mit einem Male gründlich und für immer. Die verwickelte Natur des öffentlichen Gesundheitswesens liess einen solchen Weg nicht zu. Mit Vor- und Rückschritten, auf viel verschlungenen Bahnen mussten seine Förderer ihr Ziel zu erreichen suchen. Immer auf's Neue klammerte sich der Widerstand an Details, die stets alsdann einer besonderen gesetzlichen Ordnung bedurften, wodurch die ganze Regulirung so überaus erschwert und verzögert wurde. Centralarmenamt wendet sofort den sanitätlichen Zuständen der ärmeren Klassen seine Aufmerksamkeit zu. Die daraus hervorgehenden Berichte führen zu der Einsetzung einer Kgl. Untersuchungskommission, deren Berichte 1842 und 1845 das ganze sanitäre Elend constatiren. Die öffentliche Meinung wurde tief erregt und drang auf eine radikale Gesetzgebung. Diese geht sehr scheu und vorsichtig zu Werke. Nur nach und nach sehr stückweise wird reformirt. Keine allgemeine Bauordnung, nur eine solche für London, allerdings mit weitgehenden sanitären Bestimmungen, besonderen Beamten, und wie im Armenwesen als obere Instanz in streitigen Fällen nicht der Polizeirichter, sondern eine vom Ministerium eingesetzte Oberbaukommission. Es folgt die Anlegung der öffentlichen Wasch- und Badehäuser, man consolidirt Lokalakte durch überall aufzunehmende Normativbedingungen. Wasserversorgung der Gemeinden und Begräbnisswesen werden so geordnet. Durch solche Normativakte wird auch die Communalverwaltung zum Theil reformirt, und in der Town's improvment Act erscheinen schon bestimmte Beamte, der Aufseher, der Inspector of nuisances und im Bedürfnissfalle der Medical officer of health. Endlich führt das Jahr 1848 zum Erlasse der Public health act, die das Frühere einheitlich zusammenfasst und die Grundzüge einer neuen Administration zu geben sucht und zwar auf einem neuen System beruhend durchaus ähnlich dem des Armenamtes. Das Gesetz regelt die Einführung der Akte in die einzelnen Ortschaften, die Errichtung von Ortsgesundheitsämtern der Distrikte, die Beamte anzustellen haben: Oberaufseher, Inspector of nuisances, Secretair und Rendant, der Steuern ausschreibt und erhebt. Materiell bringt sie nicht viel Neues, präcisirt aber ihre Forderungen bestimmter. Man darf aber nicht übersehen, dass damit parallel eine andere Richtung der Gesundheitsgesetzgebung geht und zwar für das ganze Land. Unter gewöhnlichen Verhältnissen glaubte man mit dem alten verfassungsmässigen System der Friedensbewahrung auszukommen. Man knüpfte an dem Grundsatz des gemeinen Rechtes an, nach welchem die Beschwerung des Nachbars durch übelriechende, gesundheitsschädliche Anlagen als Public nuisance ein anklagbares Vergehen bildet. Unter bestimmten gesetzlichen Formen kann dadurch die Abhülfe zwangsweise erzielt werden.

Die Instanzen sind geordnet, für wichtige Rechts- und Gesetzauslegungen die Entscheidung der Kings Bench vorbehalten. Hier also dem mehr centralistischen und bureaukratischen Geiste der P. H. A. entgegengesetzt besteht der Geist der kommunalen Selbsthülfe mit der alten Friedensrichter - Jurisdiction. Mehrere Gesetze consolidirten die früheren,

am wichtigsten ist die Nuisance Remaval Act von 1855, die die Nuisances besser definirt und ihnen viele neue aus dem Gebiete der Gewerbe, Fabrikationszweige etc. anreiht. Daran schliesst sich das Gesetz zur besseren Verhütung von Krankheit und ergänzend treten ein die Orders in council, Staatsministerialbeschlüsse. Endlich ist auch auf dem administrativen Gebiete, welches die Public health act beherrscht, parallel mit dem administrativen Verfahren, doch der Grundsatz festgehalten, dass für alle Zumuthungen der Staatsgewalt von Person und Vermögen die jurisdietionelle Behandlung streitiger Fragen eintritt.

Das System der Public health act ist vielfach umgewandelt worden. Das General board sollte gleich stehen dem Armenamt; dieses aber ersparte, während die Ausgaben des letzteren sich mehrten und es unpopulär machten. Es fiel und wurde eine Abtheilung des Privy council. Dem ungeachtet werden diese Grundlagen in der Local goverment act 1858 fest gehalten und den neugeschaffenen Behörden wird so viel Gewalt übertragen, dass Mangel an Competenz nicht vorhanden. Dabei besteht noch immer optionelle Tragweite; Vieles bleibt dem Belieben der Gemeinde überlassen, die Gesetze tragen immer noch einen subsidiarischen Charakter, selbst die Nuisans removal act, die stets neu amendirt worden.

Gneist's abfälliges Urtheil ist bemerkenswerth. Inzwischen kommt ein wahrer Wasserfall von sanitären Gesetzen, unter denen die hauptstädtische Gesundheits- und Strassenbau - Polizei obenan steht, mit dem Medical officer of health als nothwendigem Mitglied des Beamten-Personals in jedem Gemeinde- resp. Gesammtdistrikt. Wir nennen die Fürsorge für die Herbergen, die Bäckerei-Akte, die Beaufsichtigung der chemischen Fabriken, die sanitäre Fabrikgesetzgebung, das Impfwesen, die Anlage von Schwemmkanälen und die Verwerthung ihres Inhalts, die Sanitary act von 1866, mit ihrer Sorge für Drainirung, ihren Massregeln gegen Ueberfüllung von Wohnhäusern und Werkstätten, Unreinlichkeit, Mangel an Ventilation, Belästigung von Rauch, lauter Nuisances, Desinfection, bis zu zwangsweiser Unterbringung von contagiös Kranken in Hospitäler, Stallreinigung etc. Ergänzend tritt die zweite Gesundheitsacte 1868 hinzu. Die Wohnungen der Handwerker und Arbeiter führen zu einem besonderen Gesetz 1868, ebenso wird der Giftverkauf geregelt, die Erwerbung freier Plätze zur Erholung und zu Spiel erleichtert, selbst Gas und Petroleum werden nicht vergessen und schliesslich auch auf die Belehrung durch populäre Schriften Rücksicht genommen.

Nicht ohne Bewunderung blickt man auf die unermüdliche Sorgfalt, die in England auf so viele Bedürfnisse in sanitärer Beziehung sich richtet. Dem ungeachtet trat immer mehr die Nothwendigkeit einer Reform, besonders bezüglich der Organisation hervor. Die Centralautorität vertheilte sich, indem das Ministerium des Innern über öffentliche Gesundheitspflege, die administrativen Fragen, die Ausführung der Public health act, der Acte von 1858 und der Baugesetze, der Staatsrath über die Massregeln der Krankheitsverhütung incl. des Impfwesens, das Handelsministerium über die sanitäre Ueberwachung der Fabriken, Gas- und Wasseranlagen entschied.

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