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EINLEITUNG.

Alle Zweige der Geometrie haben die Untersuchung gesetzmäßig entstandener Raumgebilde (ebener und räumlicher Figuren) zum Gegenstande. Während aber die Geometrie der Lage und die analytische Geometrie das hierdurch bezeichnete Ziel auf rein theoretischem Wege zu erreichen suchen, beschäftigt sich die darstellende Geometrie, wie schon ihr Name besagt, mit der praktischen Durchführung des Prozesses der Darstellung oder Konstruktion der Figuren, welcher für die vorgenannten beiden Disziplinen an sich nebensächlich ist und mit steigender Entwickelung des Anschauungsvermögens mehr und mehr entbehrlich wird. Die darstellende Geometrie ist eine angewandte mathematische Disziplin: sie dient den Bedürfnissen der Praxis in verschiedenen Zweigen der technischen Wissenschaften und der Kunst. Zugleich aber bildet sie für den Mathematiker das wirksamste Mittel, um das Vermögen der räumlichen Anschauung, dessen er bei der Behandlung rein geometrischer Fragen allenthalben bedarf, bis zu möglichst hohem Grade zu entwickeln.

Der Zweck der darstellenden Geometrie ist die Bestimmung der Raumgebilde nach Gestalt, Größe und Lage durch die Konstruktion. Sie bedient sich dabei der Hauptsache nach ebener Bilder derselben, indem sie zeigt, wie man mittels geeigneter Methoden erstens von den die Raumgebilde bestimmenden Angaben (also von ihrer Definition) ausgehend zu diesen Bildern gelangen, zweitens wie man von letzteren auf die Eigenschaften der dargestellten Figuren zurückschließen kann.

Außer auf die Strenge und Einfachheit des mathematischen Gedankenganges hat die darstellende Geometrie bei der Ausbildung ihrer Methoden auf die Erreichung größtmöglicher Genauigkeit für die praktische Ausführung der Konstruktionen Bedacht zu nehmen. Unter den verschiedenen möglichen Methoden, die zur gesetzmäßigen Abbildung der Raumfiguren führen, wählt sie demgemäß

ROHN U. PAPPERITZ.

I.

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nur eine kleine Anzahl, als für ihre Zwecke geeignet, aus. Diese beziehen sich sämtlich auf die Konstruktion der ebenen Bilder durch Projektion.

Die Methode des Projizierens ist aus den Vorgängen beim Sehen der Gegenstände abstrahiert. Die Centralprojektion entsteht, wenn man aus einem gegebenen Projektionscentrum (Augenpunkt) durch die Punkte des Objektes projizierende Gerade (Sehstrahlen) zieht und diese mit der Bildebene schneidet. Statt des Projektionscentrums kann auch eine feste Richtung gegeben werden, welcher die projizierenden Strahlen parallel laufen sollen, so daß sie gegen die Bildebene gleiche Neigung erhalten, insbesondere rechtwinklig stehen können; hierbei ergiebt sich die schiefe oder speziell die orthogonale Parallelprojektion. Diese Methoden empfehlen sich vor anderen durch die Bildlichkeit der Darstellungen, d. h. dadurch, daß die Gesichtseindrücke, welche wir von letzteren haben, in allem wesentlichen mit denen, welche die dargestellten Objekte selbst hervorrufen würden, übereinstimmen. Sie sind vorteilhaft infolge des hiermit eng verknüpften Umstandes, daß sich die Entwickelung der geometrischen Beziehungen, welche an den Objekten selbst stattfinden, bei ihrer Zugrundelegung am durchsichtigsten gestaltet.

Mit Rücksicht auf die Anwendungen sucht man die Anschaulichkeit der Darstellungen räumlicher Objekte dadurch zu erhöhen, daß man ihnen die Wiedergabe der Beleuchtungsverhältnisse für eine geeignet angenommene Lichtquelle, namentlich die Konstruktion der Eigenschatten und der Schlagschatten (auf gegebene Ebenen sowie auf das Objekt selbst) hinzufügt. Die Lichtquelle wird entweder durch einen gegebenen Punkt im Endlichen vertreten, oder man denkt sie sich nach einer gegebenen Richtung unendlich fern gelegen, so daß die Lichtstrahlen parallel werden. Die Theorie der Schattenkonstruktionen ist in der Projektionslehre enthalten; die Theorie der Beleuchtung gesetzmäßig gestalteter Oberflächen schließt sich eng an die erstere an, bedarf aber besonderer Auseinandersetzungen.

In letzter Linie kommen für die darstellende Geometrie Methoden in Betracht, welche auf die Konstruktion räumlicher Abbilder oder Modelle der Raumfiguren abzielen. Unter ihnen bedürfen die, welche die Konstruktion von Modellen bezwecken, die mit den gegebenen Objekten kongruent oder (bei verändertem Maßstabe) in allen Teilen ähnlich sind, ihrer unmittelbaren Faßlichkeit wegen, keiner näheren Erläuterung. Hiervon abgesehen kommt die sogen.

Reliefperspektive gelegentlich zur Anwendung. Ihre Theorie läßt sich als eine Verallgemeinerung der Projektionsmethode an die Darlegung dieser ohne Schwierigkeit anfügen.

Die darstellende Geometrie bedarf zu ihrer Entwickelung keiner anderen theoretischen Voraussetzungen als der Begriffe und Lehrsätze der elementaren Planimetrie und Stereometrie. Diese bezeichnen daher auch das Maß der mathematischen Vorkenntnisse, welche zum Verständnisse dieses Lehrbuches erforderlich sind und auf welche Bezug genommen wird, ohne Erklärungen oder Beweise hinzuzufügen. An die Elemente der Raumlehre anknüpfend bildet die darstellende Geometrie selbständig die Lehre von den Projektionen aus. Dasselbe Verfahren des Projizierens aber, welches in erster Linie benutzt wird, um die Darstellung gegebener Raumfiguren zu gewinnen, soll gleichzeitig dazu dienen, Eigenschaften derselben zu erkennen und zu beweisen. Auch sollen die Projektionsmethoden auf höhere stereometrische Fragen angewandt und diese durch Konstruktion gelöst werden. Dann erst wird dem Zwecke der mathematischen Schulung der Anschauung genügend Rechnung getragen; denn jede konstruktive Lösung besteht in einer methodisch geordneten Folge von Operationen, deren geometrische Bedeutungen, im Gegensatz zu denen der rechnenden Operationen, einzeln anschaulich erfaßt, in ihrer Gesamtheit aber bei der graphischen Ausführung überblickt werden können.

Durch ihre Methoden wird unsere Wissenschaft naturgemäß zur Untersuchung derjenigen Eigenschaften der Figuren geführt, welche mit denen der durch Projektion gewonnenen Bilder übereinstimmen. Diese „durch Projektion unzerstörbaren" oder „,projektiven" Eigenschaften der Raumgebilde sind es, welche in allgemeinster Weise aufgefaßt, die Grundlagen der Geometrie der Lage ausmachen. Bei letzterer fällt die Rücksicht auf Darstellbarkeit fort; sie operiert lediglich mit Begriffen. Die darstellende Geometrie aber bereitet die Bildung dieser Begriffe vor, indem sie alle geometrischen Gesetze untersucht, welche durch den wirklichen Vorgang der Projektion direkt begründet werden.

Steht also die darstellende Geometrie zur Geometrie der Lage in näherer Beziehung als zur analytischen Geometrie, welche die Gebilde und ihre Eigenschaften durch Gleichungen zwischen Maßzahlen bestimmt, so kann sie doch auf den Gebrauch der Maßrelationen nicht völlig verzichten, weil die Bestimmung der Größenverhältnisse, ebenso wie die der Lagebeziehungen in ihrer Aufgabe liegt. Aber sie verwendet nur die einfachsten Formen derselben,

bei denen an die Stelle der Rechnung mit analytischen Größen sogleich die Konstruktion treten kann.

Irgend eine Aufgabe der darstellenden Geometrie ist als gelöst zu betrachten, wenn sie zurückgeführt ist auf solche Elementaroperationen, welche ohne weiteres mit bekannten Hilfsmitteln durchgeführt werden können. Unter jenen Elementaroperationen aber sind lediglich die folgenden, welche sich sämtlich auf eine ebene Zeichnungsfläche beziehen, zu verstehen:

das Ziehen gerader Linien durch gegebene Punkte; insbesondere das Ziehen gerader Linien, die zu einer gegebenen Geraden parallel sind oder auf ihr rechtwinklig stehen;

das Schlagen von Kreisen um gegebenes Centrum und mit gegebenem Radius.

Bezüglich des Entwickelungsganges mag Folgendes im voraus bemerkt werden. Mit dem Einfachsten wird begonnen. Zuerst werden ebene Gebilde der Projektion im Raume unterworfen. Vereinigt man dann Bild- und Originalebene in geeigneter Weise, so ergeben sich mittelbar geometrische Abhängigkeiten, die zwischen Figuren einer und derselben Ebene stattfinden; sie werden Kollinearverwandtschaften oder Kollineationen genannt, weil geraden Linien stets wieder gerade Linien entsprechen. Die einfachste Art der Centralprojektion, bei welcher die Bildebene der Ebene der Originalfigur parallel angenommen wird, liefert die Ähnlichkeit bei ähnlicher Lage. Aus der schiefen Parallelprojektion aber entsteht eine Verwandtschaft ebener Figuren, welche als Affinität bei affiner Lage bezeichnet wird; aus der Kombination beider endlich erhält man die allgemeinste Art der Affinität. Auf der anderen Seite ergiebt die allgemeine Centralprojektion die centrische Kollineation ebener Systeme oder die Perspektivität.

Gerade deshalb, weil die genannten Verwandtschaften ebener Gebilde aus Projektionen im Raume entstanden gedacht werden können, haben sie für die darstellende Geometrie eine prinzipielle Wichtigkeit; die bei der Darstellung räumlicher Objekte auftretenden Probleme führen immer wieder auf sie zurück. Es erschien daher zweckmäßig, sie an geeigneter Stelle ausführlich zu behandeln. Wir beginnen also die Darlegung der Methoden der Parallelprojektion mit einem Kapitel über Ähnlichkeit und Affinität bei ebenen Figuren. Dementsprechend würde ein Kapitel über Perspektivität in der Ebene vor der Behandlung der Perspektive räumlicher Figuren seinen natürlichen Platz finden; wir ziehen es aber vor, ein solches bereits an einer früheren Stelle einzuschalten und später darauf

zurück zu verweisen, weil für gewisse Gebilde schon bei ihrer Darstellung in Parallelprojektion die Gesetze der Perspektivität in Betracht kommen, namentlich für Pyramiden, Kegel und ihre ebenen Schnitte. Bei der Entwickelung der Projektionsmethoden für beliebige (nicht ebene) Objekte wird jedesmal mit der Darstellung der einfachen Grundgebilde: Punkt, Gerade, Ebene und der Lösung der aus ihren möglichen Beziehungen sich ergebenden Fundamentalaufgaben begonnen, um daran die Darstellung und Untersuchung der komplizierteren Gebilde in angemessener Ordnung anzuschließen.

Schließlich mögen noch einige Bemerkungen über die hauptsächlichsten, zum Teil am gehörigen Orte noch näher zu erläuternden, Bezeichnungen und Abkürzungen Platz greifen. werden durchgängig

B,

b,

B,

...

...

...

...

P,

Wir

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E,

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Punkte mit großen lateinischen Buchstaben: A, Gerade mit kleinen lateinischen Buchstaben: a, Ebenen mit großen griechischen Buchstaben: A, Winkel mit kleinen griechischen Buchstaben: a, ß, bezeichnen, und zwar verwenden wir in der Regel die ersten Buchstaben des betreffenden Alphabets für gegebene oder bekannte Elemente, für variabele oder unbekannte aber die später folgenden Buchstaben. Als Zeichen der Verbindung mehrerer Elemente durch ein neues Grundgebilde, welches sie zusammengenommen bestimmen, dient die bloße Nebeneinanderstellung der sie bezeichnenden Buchstaben. Es bedeutet also:

A

=

a = AB die gerade Verbindungslinie der Punkte A und B,
ABC die Verbindungsebene der drei Punkte A, B, C,
B = Aa die Verbindungsebene des Punktes A und der Geraden a,
rab die Verbindungsebene der sich schneidenden Geraden a

=

und b.

Zur Bezeichnung der Schnittelemente wählen wir das zwischen die betreffenden Buchstaben einzufügende Symbol x. Hiernach bedeutet:

P: =gh den Schnittpunkt der in einer Ebene liegenden
Geraden g und h,

QgXE den Schnittpunkt der Geraden g und der Ebene E,
g= EX Z die Schnittlinie der Ebenen E und Z.

Wie gebräuchlich, legen wir parallelen Geraden einen unendlich fernen Schnittpunkt (Richtungspunkt, Richtung), parallelen Ebenen eine unendlich ferne Schnittlinie (Stellungsgerade, Stellung) bei.

Diese Bezeichnungen werden miteinander nach Bedürfnis kom

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