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oder wenigstens mit solchen Umständen und Kosten verbunden, dass der zu erreichende Zweck der Verordnung damit ausser allem Verhältnisse stehen würde.

Was zunächst die Bedürfnissfälle einer solchen Verordnung mit Gesetzeskraft betrifft, so ist das Bedürfniss allerdings nicht bloss da anzunehmen, wo es sich um die Rettung des ganzen Staates handelt, aber auch eine gewöhnliche Nützlichkeitsrücksicht kann einen solchen aussergewöhnlichen Schritt nicht rechtfertigen. Es muss in der That die öffentliche Sicherheit nicht anders aufrecht erhalten oder ein ungewöhnlicher Nothstand nicht anders beseitigt werden können, als durch unverzüglichen Erlass einer solchen Verordnung. (Ausdruck der preuss. Verfassungsurkunde Art. 63. Die badische Verfassungsurkunde § 66, die sächsische § 88 sprechen von den durch das »Staatswohl dringend gebotenen Verordnungen, deren vorübergehender Zweck durch Verzögerung vereitelt werden würde.« Die württemb. Verfassungsurkunde Art. 89 spricht von der »Vorkehrung des Nöthigen zur Sicherheit des Staates in dringenden Fällen.« Darum werden solche Verordnungen auch als Nothverordnungen bezeichnet. Was den Inhalt einer solchen Verordnung betrifft, so ist es allgemein anerkannt, »dass sie nie der Verfassung zuwiderlaufen darf«. Aber auch solche Gegenstände, von denen es in der Verfassung heisst, dass sie nur auf dem Wege der Gesetzgebung geregelt werden sollen oder für deren zukünftige Feststellung »ein besonderes Gesetz« verheissen wird, sind vom Bereiche der Nothverordnung ausgeschlossen; denn gerade durch eine derartige Bestimmung wollte man den Staatsbürgern die Garantie geben, dass gewisse, sie meist persönlich nahe angehende Angelegenheiten niemals anders als unter Mitwirkung ihrer Vertreter geregelt werden können1. Abgesehen von diesen ausdrücklich der Gesetzgebung überwiesenen Gegenständen kann aber eine solche Verordnung mit Gesetzeskraft jedes Gesetz abändern. Auch eigentliche Rechts- oder Justizgesetze privatrechtlichen oder processualischen Inhalts machen hiervon keine Ausnahme.

Was die Form einer solchen Nothverordnung betrifft, so kann sie regelmässig nur unter Verantwortlichkeit des gesammten

1 Vergl. die nähere Ausführung in meinem preussischen Staatsrechte B. II. S. 235. v. Held a. a. O. B. II. S. 61. Nr. 1. Zwei Rechtsgutachten der Juristenfakultäten zu Kiel und Göttingen über die preussische Pressverordnung vom 1. Juni 1863.

Staatsministeriums erlassen werden; auch muss sich die Regierung beim Erlasse einer solchen auf den jene Ermächtigung enthaltenden Artikel des Grundgesetzes ausdrücklich berufen.

Nach allgemeinen Grundsätzen, wie nach dem klaren Wortlaute aller Verfassungen, ist es die Pflicht der Staatsregierung, den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt eine derartige Verordnung sofort zur Genehmigung vorzulegen, und zwar muss die Vorlage in den Staaten, wo das Zweikammersystem besteht, zugleich an beide Häuser erfolgen, da beide ein gleichmässiges Recht auf Genehmigung oder Verwerfung einer solchen Verordnung haben und der Widerspruch eines Hauses schon genügt, um die Staatsregierung zur Zurücknahme einer solchen Verordnung zu nöthigen. Es fragt sich, welche Folgen die versagte Genehmigung einer solchen Verordnung hat. Es giebt Verfassungen, welche sagen, dass, wenn diese Zustimmung nicht erfolgt, die Verordnung sofort ausser Kraft tritt (z. B. Sachsen-KoburgGotha 1852 § 130). Hier tritt natürlich dieser Erfolg ipso iure ein. Wo aber ein solches von selbst ausser Kraft treten derartiger Verordnungen nicht ausgesprochen ist, wird man nur die Pflicht der Regierung behaupten können, eine solche Verordnung sofort ausser Kraft zu setzen; besonders wo, wie in Preussen, der Grundsatz besteht, dass die Publikation durch die Staatsregierung für Unterthanen und Behörden, auch für den Richter, die einzig massgebende Autorität ist. Unterlässt die Regierung diese Pflicht, so ist die Volksvertretung befugt, alle gesetzlichen Massregeln zu ergreifen, um ihr verfassungsmässiges Recht zu wahren. (Vergl. das Nähere in meinem preussischen Staatsrecht B. II. S. 237.) Uebrigens hat die Beseitigung einer solchen Verordnung keine rückwirkende Kraft, dieselbe ist vielmehr bis zu dem Augenblicke, in welchem ihre Verbindlichkeit aufhört, als gültiges Gesetz zu behandeln; dagegen treten alle durch sie ausser Kraft gesetzten Gesetze mit ihrem Aufhören wieder in Geltung.

§ 189.

V. Schranken der Gesetzgebung 1.

Die Schranken der Gesetzgebung überhaupt sind durch die Grenzen der Staatsgewalt gezogen. Zu diesen sittlich-naturrecht

1 Vergl. meine Einleitung in das deutsche Staatsrecht § 51. S. 163 ff.

lichen Schranken (S. 27) kommen aber noch positiv-rechtliche, welche entweder durch die Verfassung des eigenen Staates gezogen oder durch die Unterordnung unter ein höheres Gemeinwesen mit einer übergeordneten Staatsgewalt gegeben sind. Die ersteren haben aber nur eine relative Bedeutung, indem auch jeder Artikel der Verfassungsurkunde durch ein neues Gesetz abgeändert werden kann, wenn dabei nur die für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Formen eingehalten werden. Dagegen werden durch die Verfassung eines Oberstaates, welchem ein Staat als Gliederstaat organisch eingefügt ist, der partikularen gesetzgebenden Gewalt absolute Schranken gezogen, welche sie zu durchbrechen verhindert ist. Solche Schranken sind heutzutage durch die Verfassung des deutschen Reiches für alle deutschen Einzelstaaten gezogen. Wichtige Gebiete sind der Gesetzgebung der Einzelstaaten ganz enthoben und lediglich Sache der Reichsgesetzgebung geworden; dahin gehören Gesetze und Verordnungen über das Militär- und Marinewesen, Zollwesen, gewisse Verbrauchssteuern, Regelung des Handelsverkehrs, Post- und Telegraphenwesen u. s. w. In Betreff einer grossen Anzahl von anderen Gegenständen hat das Reich zwar nicht das ausschliessliche, wohl aber ein mit dem Gesetzgebungsrecht der Einzelstaaten konkurrirendes und der Landesgesetzgebung vorgehendes Recht der Gesetzgebung. Sobald das Reich von dieser Befugniss der Gesetzgebung über eine solche Angelegenheit Gebrauch gemacht hat, ist hierdurch das Gesetzgebungsrecht der Einzelstaaten beseitigt, indem alsdann nicht nur die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, sondern auch durch die Landesgesetzgebung nicht mehr abgeändert werden können. So erscheint die Gesetzgebung der deutschen Einzelstaaten als eine reichsverfassungsmässig eng begrenzte. Das Nähere über das staatsrechtliche Verhältniss der Reichsgesetzgebung zur Landesgesetzgebung kann erst im zweiten Buche, dem Reichsstaatsrechte, entwickelt werden1.

Stahl a. a. O. II. § 41. S. 154 ff. v. Mohl, Staatsrecht, Verfassungsrecht und Politik B. I. S. 67-95.

1 Vergl. Laband a. a. O. B. II. §61 Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung; besonders aber auch R. Heinze, das Verhältniss des Reichsstrafrechtes zu dem Landesstrafrechte. Leipzig. 1871.

§ 190.

VI. Aufhebung der Gesetze. Dispensation von denselben. Zeitund distriktsweise Suspension einzelner Gesetze1.

1) Aufhebung.

Gesetze bleiben so lange in Kraft, bis sie durch eine neue Rechtsnorm aufgehoben oder abgeändert werden. Wo dem Gewohnheitsrechte nicht ausdrücklich seine derogatorische Kraft entzogen ist, können, auch auf dem Gebiete des Staatsrechtes, Gesetze aller Art durch ein neu sich bildendes Gewohnheitsrecht beseitigt werden. Die Aufhebung eines älteren Gesetzes durch ein neues Gesetz kann eine ausdrückliche sein, indem das bisherige Gesetz geradezu für aufgehoben erklärt wird, oder eine stillschweigende, wenn das spätere Gesetz über denselben Gegenstand eine neue Bestimmung enthält, welche der im älteren Gesetze enthaltenen widerspricht. Jedes Gesetz kann durch ein späteres Gesetz wieder aufgehoben werden. Die Gegenwart ist weder berechtigt, noch im Stande, die Zukunft unbedingt durch ihre Gesetze zu binden. Eine sogenannte lex in perpetuum valitura ist ebenso sinnlos, wie die »clausula ut non possit abrogari.«<

2) Dispensation.

Unter Dispensation verstehen wir die Befugniss der Staatsgewalt, für einen einzelnen Fall, welcher seinem Thatbestande nach unter die Regel des Gesetzes fallen würde, die Anwendung dieses Gesetzes zu hemmen. Es wird damit eine an sich strafbare oder nichtige Handlung zu einer erlaubten oder gültigen gemacht. Die Dispensation unterscheidet sich dadurch vom Privilegium im eigentlichen Sinne, dass durch dieses ein subjektives Recht für eine physische oder juristische Person durch einen Akt der Staatsgewalt unmittelbar begründet wird, während durch die Dispensation

1 H. A. Zachariä, Th. II. § 163. S. 183 ff. Fr. Förster a. a. O. § 9. J. Unger, Oesterr. Privatr. § 15 u. 16. Ueber das Dispensationsrecht in geistlichen Sachen besonders J. H. Böhmer, diss. de sublimi principum ac statuum evangelicorum dispensandi jure in caussis tum sacris quam profanis. Halae 1722. Das Neueste und Beste über Dispensationsrecht giebt C. F. v. Gerber, Ueber Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate, in seinen juristischen Abhandlungen (1872) Nr. XIII. S. 470. Ueber die englischen Verhältnisse vergl. Gneist, Englisches Verwaltungsrecht S. 609. 611. 614. 733. (dispensing power«). Die englische declaration of rights von 1689 sagt ausdrücklich: »That the pretended power of dispensing with laws or the execution of laws by regal authority, as it hath been assumed and exercised of late, is illegal.<<

die Nichtanwendung eines objektiven Rechtssatzes für einen einzelnen Fall bewirkt wird.

Im absoluten Staate, wo der Monarch allein das Gesetz giebt, ändert und aufhebt, steht ihm natürlich auch ein unbeschränktes Dispensationsrecht zu. Wie er das Gesetz im Ganzen durch einen einseitigen Willensakt jeder Zeit beliebig aufheben kann, so kann er das Geringere, seine Nichtanwendung für den einzelnen Fall, befehlen. Sobald aber als höchster Satz des konstitutionellen Staatsrechts festgestellt ist, dass das Gesetz nur durch organisches Zusammenwirken von Krone und Volksvertretung zu Stande kommen kann, so ist die nothwendige Konsequenz, dass die Krone dasselbe auch nicht einseitig aufheben kann. Von der Anwendung eines Gesetzes dispensiren, heisst aber soviel als das Gesetz theilweise aufheben, wie ja durch fortwährendes Dispensiren jedes Gesetz in seiner Wirkung illusorisch gemacht werden könnte. Die wenigen Verfassungen kleinerer Staaten, welche das Dispensationsrecht überhaupt erwähnen, thun es in sehr unbestimmter Weise. Die braunschweigische Landschaftsordnung von 1832 I. § 6 lässt es in einzelnen Fällen zu, »jedoch insofern dritte Personen dabei betheiligt sind, nur mit deren Zustimmung«; die schwarzburg - sondershausensche Verf. § 65, »soweit als es nach den Gesetzen noch zulässig ist«, die koburg-gothaische § 128, »soweit es nicht durch besondere gesetzliche Bestimmungen beschränkt ist.« Wo die Verfassungen, wie in den meisten und besonders allen grösseren Staaten, darüber schweigen und dem Monarchen nicht ausdrücklich weitergehende Befugnisse einräumen, muss unzweifelhaft angenommen werden, dass »nach der staatsrechtlichen Natur des Gesetzes im modernen Verfassungsstaate« nur noch in denjenigen Fällen dispensirt werden darf, wo das Gesetz oder überhaupt das geltende Recht dies ausdrücklich gestattet. Solche Fälle sind auch in der bestehenden Gesetzgebung der meisten Staaten anerkannt, z. B. auf dem Gebiete des Eherechtes, in Steuersachen. Auch die Gesetzgebung der Zukunft wird das Dispensationsrecht nicht ganz entbehren können. Ueberall aber werden die Voraussetzungen und Grenzen desselben in den Gesetzen ausdrücklich ausgesprochen werden müssen, wenn ein Gesetz eine solche »Selbstkorrektur seiner Anwendung im Leben» aus Billigkeitsrücksichten für nothwendig oder wünschenswerth hält. Nur innerhalb dieser gesetzlich gezogenen Schranken ist das Dispensationsrecht im Verfassungsstaate der Gegenwart zu rechtfertigen.

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