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keit. Jedes Volk hat seine eigenen Lebensanschauungen, seine eigene Kulturaufgabe, sein besonderes Volks ethos. Das Volk in diesem Sinne ist nicht nur die Summe der Lebenden, sondern das durch alle Zeiten hindurch sich bewegende, sich umgestaltende und doch ewig sich gleich bleibende Wesen, welches die Gegenwart an die Vergangenheit anknüpft und aus der Gegenwart die Zukunft entwickelt. Dieser von der deutschen Wissenschaft zuerst tiefer erfasste Begriff des Volkes und der Volksthümlichkeit ist allerdings kein juristischer, sondern lediglich ein ethischpolitischer. In das Rechtsgebiet tritt derselbe erst dadurch, dass das Staatsrecht ein Organ erschafft, welches die Aufgabe hat, diesem Volksethos, diesem lebendig wirkenden Volksgeiste einen juristisch fassbaren Ausdruck zu geben. Durch dieses Organ wird etwas thatsächlich Bedeutsames, aber juristisch nicht Vorhandenes zu einer juristischen Existenz erhoben. Die Volksvertretung repräsentirt nicht das atomistische Aggregat der zeitweilig lebenden Individuen, sondern die volksthümliche Gesammtexistenz. Das Wählen von Abgeordneten ist überhaupt nicht etwas, was dem individuellen Willen irgendwie Geltung verschaffen soll, sondern nur einer der Wege, um der Nation, als einem geistigen Ganzen, Ausdruck geben zu helfen. Aus dieser geläuterten Auffassung der Volksvertretung folgt:

erstens für dieselbe in ihrer Gesammtheit, dass sie nicht einen sog. Volkswillen auszuführen hat, sondern dass ihr Wille von Rechtswegen Volkswille ist. Ausserhalb derselben giebt es überhaupt keinen Volkswillen. Was die Volksvertretung innerhalb des Kreises ihrer Befugnisse in verfassungsmässiger Form beschliesst, gilt als Willensausdruck der Nation;

zweitens ergiebt sich daraus die allein richtige Beurtheilung der staatsrechtlichen Stellung der einzelnen Mitglieder der Volksvertretung. Das Wahlrecht der Wähler bedeutet nirgends im neuern Staatsrechte, dass dieselben sich einen Bevollmächtigten ernennen, welcher die Interessen und Wünsche ihres Standes oder Bezirkes zu vertreten habe oder an ihre Aufträge und Instruktionen gebunden sei, sondern lediglich dass die Wähler berechtigt und verpflichtet sind, durch ihre Wahl zur Bildung eines staatlichen Organes beizutragen, in welchem das nationale Ethos, sowie die Gesammtintelligenz des Volkes ihren möglichst adäquaten Ausdruck finden soll. Das Recht und die Pflicht des erwählten Abgeordneten ist daher in

keiner Weise als Mandat seiner Wähler zu betrachten. Sobald diese den Wahlakt vollzogen haben, hört juristisch jedes besondere Band zwischen ihnen und ihrem Erwählten auf; er steht zu seinem Wahlkreise in keinem andern Verhältnisse, als zu jedem andern Theile des Volkes oder Staates.

Wie er an keine Instruktionen und Aufträge seiner Wähler gebunden ist, so ist er ihnen auch in keiner Weise verantwortlich. An die Stelle der völlig verwerflichen Mandatstheorie ist die allein staatsrechtlich korrekte Auffassung zu stellen, nach welcher der Beruf der Volksvertreter als ein öffentliches Amt, munus publicum, zu betrachten ist. Allerdings ist die Wahl die regelmässige Form der Ernennung der Volksvertreter, ja eine wahrhaft bedeutsame Volksvertretung lässt sich nicht denken, wo nicht ein Theil und zwar der grösste Theil der Volksvertreter durch den Vertrauensakt der Volkswahl ernannt wird; aber keineswegs braucht diese Berufungsart die einzige zu sein; die Verfassung kann auch einzelne Glieder des Landtages erblich berufen oder dem Staatsoberhaupte die Berufung auf Lebenszeit einräumen. Trotz dieser möglichen Verschiedenheit der Berufungsart sind alle Berufenen gleichmässig Volksvertreter, welche ein öffentliches Amt ausüben. Der Inhalt dieses Amtes besteht lediglich darin, dass der Volksvertreter nach seinem besten Wissen und Gewissen mitwirken soll, durch seine Betheiligung an der Berathung und Beschlussnahme der volksvertretenden Versammlung, der richtig verstandenen volksthümlichen Ueberzeugung über das Beste des Staates und das Wohl der Gesammtheit Ausdruck zu geben und bei Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, der Regierung gegenüber, möglichst praktische Geltung zu verschaffen.

2) Nach deutschem Staatsrechte ist die gesammte Staatsgewalt im Staatsoberhaupte vereinigt, sein Wille ist der Staatswille (S. 190). Derselbe soll aber kein willkürlicher, subjektiver, sondern ein objektiv bestimmter sein, d. h. bei den wichtigsten Funktionen der Staatsgewalt soll er gebunden sein an die Mitwirkung selbständiger Organe, von denen die Volksvertretung bei weitem das wichtigste ist. Nach deutschem Staatsrechte haben die Kammern keinen Antheil an der Souveränetät; sie üben keine Mitregierung, kein coimperium, wie die Reichsstände im weiland deutschen Reiche. Ihre einzelnen Glieder, wie ihre Gesammtheit, sind Unterthanen des Staatsoberhauptes. Aber innerhalb ihrer verfassungsmässigen Sphäre sind sie völlig unabhängig von seinen Befehlen und haben nur nach

ihrer Ueberzeugung für das Wohl des Staates und Volkes zu wirken. Vielmehr ist das Staatsoberhaupt selbst bei der Ausübung der wichtigsten staatlichen Funktionen an ihre Zustimmung gebunden. Sein Wille gilt, in diesen verfassungsmässig bestimmten Fällen, erst dann als der volle Staatswille, wenn er die Zustimmung der Volksvertretung vorher in sich aufgenommen hat. Aber unmittelbare Regierungsakte können nur von ihm, nicht von der Volksvertretung ausgehen. Kein Gesetz kann zu Stande kommen ohne Zustimmung der Volksvertretung, aber die zum Gehorsam verbindende Kraft liegt doch nur in der Sanktion des Staatsoberhauptes. Trotz ihrer wichtigen massgebenden Befugnisse kann die Volksvertretung in der Regel keinem Beamten, keinem Unterthanen etwas befehlen, keine bindende Vorschrift ertheilen, keinen Rechtsfall entscheiden, keine Gesandte an auswärtige Mächte schicken. Kurz, die rechtliche Bedeutung der heutigen Volksvertretung im deutschmonarchischen Staate ist nicht die einer mitregierenden obrigkeitlichen Macht; sie übt vielmehr eine die Regierung volksthümlich beeinflussende, positiv anregende, negativ abhaltende, Volksrechte beschützende, kontrollirende Thätigkeit und wirkt, so mitbestimmend bei den wichtigsten Funktionen der Staatsgewalt.

3) In dem konstitutionellen Staate der Gegenwart giebt es somit zwei unmittelbare Organe, durch deren Zusammenwirken der Staatswille in seiner objektiven Bestimmtheit zn Stande gebracht wird; aber sie sind nicht mehr, wie im Dualismus des Ständestaates Landesherr und Landschaft, zwei sich gegenüberstehende, mit einander verhandelnde, vertragschliessende Rechtssubjekte, sondern Organe derselben einheitlichen Gesammtpersönlichkeit, verschiedenartige Glieder im Organismus des Staates. Während die Landstände des Mittelalters ein dem Landesherrn gegenüberstehendes Rechtssubjekt, die Korporation der Landschaft bildeten, welche alle Rechte einer moralischen Person, ein gesondertes Eigenthum, besondere Beamte, eine private Rechtssphäre besass, muss die moderne Volksvertretung lediglich als ein integrirendes Glied im Verfassungsbau des Staates betrachtet werden. Es handelt sich hier nicht mehr um Sonderrechte einer Korporation, welche ohne Mitwirkung des Fürsten ausgeübt werden können, sondern um ein geordnetes Ineinandergreifen beider staatlicher Organe, um eine harmonische Mitwirkung derselben bei allen wichtigen Funktionen der Staatsthätigkeit, um eine Mitbestimmung der gesammten

öffentlichen Zustände, durch Landes herrn und Land

tag.

Die heutige Volksvertretung ist daher keine Korporation (wo ihr die Rechte einer solchen etwa beigelegt sein sollten, ist dies nur eine nebensächliche Eigenschaft), sondern lediglich ein Staatsorgan in Gestalt eines Kollegiums, welchem sogar die Permanenz abgeht, da es nach Auflösung oder Schluss der Kammern an jedem erkennbaren Organe der Volksvertretung fehlt. Die politischen Befugnisse der Volksvertretung haben sich aus gesonderten Rechten des Landtages in ein geordnetes Mitwirkungsrecht derselben an den Staatsangelegenheiten umgesetzt. So ist aus ihrem einseitigen und willkürlichen Steuerverwilligungs- bez. Verweigerungsrecht eine gesetzliche Theilnahme an der Feststellung des gesammten Staatshaushaltes, aus ihren einzelnen Verwaltungsbefugnissen eine geordnete Kontrolle der gesammten Staatsverwaltung, aus ihrem Beirathe und ihrer Zustimmung zu gewissen Gesetzen eine allgemeine Mitwirkung bei allen Akten der gesetzgebenden Gewalt geworden; aber alle diese Befugnisse werden in engster Verbindung mit dem Staatsoberhaupte ausgeübt und zwar nicht etwa so, als ob zwei verschiedene, fremd sich gegenüberstehende Rechtssubjekte sich vertragsmässig zu einigen hätten, um ein Gesetz zu Stande zu bringen, sondern so, dass zwei staatliche Organe berufen sind, durch ihr Zusammenwirken den Staatswillen zu erzeugen. Das Gesetz im konstitutionellen Staate, wenn auch im Stadium seiner Entstehung durch Vereinbarung zu Stande gebracht, ist doch in keiner Beziehung als Vertrag, sondern als der Ausdruck des einheitlichen Staats willens aufzufassen. (S. 9.) Der Staat ist die alles umfassende und beherrschende Gesammtpersönlichkeit, die im Grundgesetze desselben festgestellte Verfassung bestimmt die Ordnung, in welcher Krone und Volksvertretung in ihren Rechten gegeneinander abgegrenzt, aber auch auf ihren untrennbaren Zusammenhang hingewiesen sind. So ist an die Stelle des Dualismus die Einheit, an die Stelle patrimonialer Fürstenrechte und gesonderter ständischer Privilegien die einheitliche Staatspersönlichkeit getreten, in welcher Staatsoberhaupt und Volksvertretung, als staatliche Organe, ihre verschiedenartige, aber zugleich einheitliche und harmonische Stellung finden.

III. Zusammensetzung der Volksvertretung.

$174.

Das Zweikammersystem 1.

In den ältern landständischen Körperschaften bestanden meistens mehrere für sich berathende und beschliessende Kurien nebeneinander, welche in ihrer Einheit den Landtag ausmachten. Die Zahl der Kurien war verschieden, gewöhnlich waren es ihrer drei: Prälaten, Ritter, Städte. In den grössern Territorien kam noch eine Herrenkurie hinzu, hie und da war auch der Bauernstand vertreten. In der altwürttembergischen Verfassung, wo es an einer Ritterkurie fehlte, sassen Prälaten und Abgeordnete der Aemter auf verschiedenen Bänken, bildeten aber einen einzigen Abstimmungskörper, welcher nach Majorität beschloss.

Durch eine besondere geschichtliche Entwickelung hatte sich sehr früh in England die Eintheilung des Parlaments in zwei Häuser herausgebildet, indem zum concilium magnum der Lords seit König Eduard I. das Haus der Gemeinen hinzutrat, in welchem sich die Ritter der Grafschaft mit den Vertretern der Städte vereinigten. Seitdem die englische Verfassung das Vorbild aller gesitteten Völker der alten und neuen Welt geworden ist, hat diese Eintheilung der Volksvertretung in zwei Häuser überall Eingang gefunden. Gegenwärtig besitzen sie nicht nur alle grössern konstitutionellen Monarchieen, sondern dieselbe ist auch in das republikanische Staatsrecht übergegangen. In Deutschland fand diese Form der Volksvertretung leicht Eingang, weil sie sich an das Kuriensystem der alten Landtage anknüpfen liess und durch das massgebende Vorbild Englands, sowie der französischen charte constitutionelle vom 4. Juni 1814 empfohlen wurde. Sämmtliche grössern und mittlern Staaten haben das Zweikammersystem angenommen, so Preussen, Bayern, Sach

1 Epochemachend für das Zweikammersystem auf dem Kontinente wurde Montesquieu, L'esprit des lois, Kap. VI. B. XI. Für das Zweikammersystem sprechen sich fast alle bedeutenden politischen Denker aus: de Lolme, Const. of England. B. I. ch. 3. Benjamin Constant, Cours de politique const. T. I. ch. 4. Dahlmann, Politik S. 131 ff. Frhr. v. Stein, (Pertz, Leben B. V. S. 35. Franz Lieber, Ueber bürgerliche Freiheit S. 163-169. (Vom republikanisch-amerikanischen Standpunkte.) Staatsrechtlich zu vergleichen: Stahl, a. a. O. B. II. Abth. 2. S. 119 ff. Bluntschli, Allg. Staatsr. B. V. Kap. 6. Zöpfl, Grundsätze B. II. § 360. S. 290. v. Held, B. II. S. 464-472. H. A. Zachariä, D. St. u. BR. B. I. § 113. S. 629.

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