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Aufklärung nicht brauche; die letzteren stellen die Probleme meistens in einer überaus schwierigen Form dar, welche den Laien vom Studium abschreckt, ganz abgesehen davon, dass ich auch nicht weiss, welchen Philosophen ich besonders oder in welcher Reihenfolge ich die Philosophen studieren soll."

Diesem Bedürfnis entgegenzukommen, müsste es ein Buch geben, welches die philosophischen Probleme in gedrängter Kürze, aber mit voller Klarheit sowohl in ihrer geschichtlichen Entwicklung darstellte, als auch die für unsere heutige Gedanken- und Kulturwelt daraus sich ergebenden sicheren Resultate verständlich für jeden, der Denkarbeit nicht scheut, vor Augen führte. Ein solches Buch könnte die Wirkung haben, dass auch für diejenigen, welche nicht Philosophen von Fach sein wollen und können, die Philosphie wieder zu einem allgemeinen Bildungsmittel würde, welches den wohlthätigsten Einfluss auf das theoretische Denken wie auf das praktische Wollen und Handeln aller Gebildeten ausübte. Im Augenblick ist dies in kaum nennenswertem Masse der Fall. Die grosse Menge der Gebildeten ist der Philosophie nicht bloss entfremdet, sondern sieht sie sogar, ebenso wie den, der sich mit ihr beschäftigt, mit einer gewissen, im besten Falle neugierigen Scheu an und hegt nicht immer nur in der Stille, sondern spricht vielfach ganz offen den Verdacht aus, dass die Philosophie und die Beschäftigung mit ihr eine herzlich überflüssige Sache sei; sie thut naiv verwundert, wenn sie zufällig mit einem „Philosophen" zusammentrifft, der sich gleichwohl als einen praktisch - verständigen und weltklugen Mann herausstellt.

An diesem üblen Zustande ist zu einem grossen Teil die Fachphilosophie selbst Schuld. Sie thut nicht Recht daran, wenn sie in vornehmer Abgesondertheit den berechtigten Forderungen der Laienwelt gegenüber die Ohren verschliesst; wenn sie vergisst, dass gerade sie ihrer Natur nach nicht ein Spezialfach, sondern eine allgemein

bildende Wissenschaft, und der Philosoph in erster Linie ein allgemein Gebildeter und allgemein Bildender im besten Sinne des Wortes und erst in zweiter Linie und als Mittel dazu ein Fachgelehrter sein soll, es allerdings auch sein muss. Die Philosophie handelt gegen ihr Interesse, wenn sie wie es heute unter den gelehrten Specialisten Mode ist zu glauben, das sei der grösste Forscher, der die kleinlichste Forschung betreibt — lediglich eben nach diesem selben Ruhme strebt und vor lauter geschichtlicher und philologischer Kleinigkeitskrämerei ihre grosse Hauptaufgabe vergisst, Erzieherin, Fortbildnerin und Aufklärerin der menschlichen Gesellschaft, besonders hinsichtlich der Fundamentalvorstellungen des menschlichen Geistes, von denen in letzter Instanz alle Theorie und Praxis abhängt, zu sein, und eben dadurch, dass sie sich selbst ihrer idealen Einwirkungen auf die Geister beraubt, dieselben dem Materialismus einerseits, dem Mystizismus andererseits preisgiebt. Detailuntersuchungen auch historischer und philologischer Art sind für die Gründlichkeit und Sicherheit der Lösung philosophischer Probleme ohne Frage notwendig und unentbehrlich, aber gerade in der Philosophie dürfen sie am wenigsten Selbstzweck, sondern immer nur Mittel sein, und ihr wirklicher Wert für die Menschheit, der nicht gleichbedeutend mit der bloss imaginären Wertschätzung ist, welche lediglich auf dem individuellen Lustgefühl eines zurückgezogenen Gelehrten oder Gelehrtenkreises beruht, bemisst sich allein daran, ob und welche Bedeutung sie für die Entwicklung der Gesamtkultur besitzen.

Die Gebildeten zeigen selten Interesse für die Philosophie, weil diese den Gebildeten selten etwas bietet, woran sie sich erquicken können. Wenn aber die Philosophie sich des Interesses der Gesamtheit beraubt, so zieht sie sich selbst den Boden unter den Füssen weg, in welchem die Wurzeln ihrer Kraft allein gedeihen können; sie erstarrt und verstockt zu einem kleinlichen Alexandrinismus und

darf sich dann nicht mehr beklagen, dass man das Bewusstsein ihres Wertes verliert. Der Philosoph sollte sich also am wenigsten von dem verständnisinnigen Verkehr mit den Bestrebungen der gesamten menschlichen Gesellschaft los trennen; er vor allen sollte stets darauf bedacht sein, die sicheren Errungenschaften des philosophischen Denkens den weitesten Kreisen belehrend und erhebend zu gute kommen zu lassen. Treffliche Bücher, wie Friedrich Albert Langes „Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart“ (3. Aufl. Iserlohn, 1876) und Otto Liebmanns „Zur Analysis der Wirklichkeit“ (2. Aufl. Strassburg, 1880) sind als solche zu rühmen, welche jenes Bestreben in sich tragen, und deren vollverdienter Erfolg das Bestehen jenes oben genannten Bedürfnisses beweist. Aber Liebmanns geistvolles Buch setzt die Bekanntschaft mit der Geschichte der Philosophie in hohem Grade voraus und giebt mehr die Resultate der Entwicklung, als die Entwicklungsgeschichte; Langes Werk exponiert, wenn auch in klassischer Weise, die Probleme zu einseitig im Verhältnis und Gegensatz zum Materialismus: das vorliegende Buch möchte sowohl die geschichtliche Entwicklung, als auch die daraus gewonnenen sicheren Resultate darstellen, um einerseits bei dem Leser

vollkommenes Verständnis der Hauptprobleme der theoretischen Philosophie herbeizuführen, andererseits denselben auch zu einer positiv abschliessenden Weltanschauung (was nicht etwa besagen will: zu einem positiv abgeschlossenen dogmatischen System) kommen zu lassen. An einer solchen gerade fehlt es heute den meisten Menschen; ihre konfessionelle Religion haben viele über Bord geworfen, aber dafür nichts Neues gewonnen, welches sie hielte und leitete. So schwanken sie umher in ihrem Denken und Handeln, und die daraus erwachsende Charakterlosigkeit droht Signatur der Zeit zu werden. Das geschichtliche Vorführen der Probleme allein, wobei jedes folgende

System das vorhergehende kritisch zersetzt, darf nur als Propädeutik und Einleitung betrachtet werden, denn in Wahrheit bringt es dem Leser, welcher in der Philosophie mehr als Gelehrsamkeit, nämlich sichere und dauernde Fundamente für sein ganzes Denken und Wollen zu finden hofft, nur eine Reihe von Enttäuschungen, insofern immer wieder der Archimedische Ruhepunkt, den er eben in einem neuen System entdeckt zu haben meinte, sich ihm als trügerisch enthüllt. Man muss denn doch zuletzt zu einem Resultate kommen; wo bleibt sonst der feste Ansatzpunkt für den Hebel sowohl unseres theoretischen Urteilens wie unseres sittlichen Handelns? Dieses Buch will daher den Versuch wagen, in sich vereinigt Geschichte, Kritik und Resultate darzubieten.

Geschichte will es geben, denn auch dies steht fest, dass ohne Kenntnis der Geschichte nicht, ja dass nur auf entwicklungsgeschichtlichem Wege die grossen Probleme des Geistes wie der Natur verstanden werden können. Und wir Deutschen gerade haben das Glück, einige wahrhaft grosse und philosophische Geschichtsschreiber der Philosophie zu besitzen. Ich will nur das eine Dreigestirn nennen: Eduard Zeller, Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer. Ich nenne sie philosophische Geschichtsschreiber der Philosophie, denn sie sind keineswegs bloss „geistreiche Analytiker der Philosophie“, sie sind selbst originelle Philosophen, nur mit dem Unterschiede, dass sie nicht unmittelbar über die Welt und den Menschen, sondern über den Entwicklungsgang der Philosophie philosophieren. Damit lösen sie aber gerade die philosophische Aufgabe, welche nach Ablauf der Systemepoche sich als die notwendigste herausstellte. In der Flut der rasch auf einander folgenden Systeme verlor man leicht den Überblick über die organische Entwicklung des Gesamtganges der Philosophie. Jedes System hatte die Tendenz, sich womöglich als das allein gültige zu isolieren, als ob nicht alle nur die

Teile der grossen Einheit bildeten. Der einzelne Systemschöpfer selbst war sich auch gar nicht immer des kulturhistorischen Zusammenhanges, in welchem er stand, voll bewusst. Aus solcher Isolierung erwächst aber die Gefahr des trägen Beharrens bei einem und demselben systematischen Gedankenkreise, in dem man glaubt das Ende der Philosophie überhaupt erreicht zu haben, also die Gefahr des Rückfalls in eine dogmatische und unphilosophische Geistesart, des Rückschritts, des Absterbens und der Versteinerung. So ist es denn nach Ablauf einer grösseren Systemepoche durchaus notwendig, dass Philosophen kommen, welche wieder das Ganze überblicken, überall die organischen Zusammenhänge und die Kontinuität des Gedankenstromes nachweisen und dadurch klar machen, welche Probleme gelöst und welche noch zu lösen sind, welche Fortschritte nunmehr zu machen und wohin sie zu machen sind, Jetzt müssen also die Philosophen über die Philosophie philosophieren, jetzt müssen sie als Geschichtsschreiber der Philosophie die Philosophie betreiben. Sie sind deshalb nicht minder Philosophen als die Systemschöpfer; sie sind es, denen nun die einzelnen Systeme als Bausteine dienen, aus denen sie das neue und ihr neues System aufbauen: das System des ganzen Zusammenhanges der philosophischen Entwicklung überhaupt. Sie wiederholen nicht etwa bloss den Inhalt der Systeme, sondern geben dazu als das Neue die Kritik der Systeme, sie formulieren auch die neuen Aufgaben und stellen sie ins richtige Licht, ja reichen vielfach sogar schon den Schlüssel zur Lösung. So kommt es, dass man aus den Werken der grossen Geschichtsschreiber der Philosophie extensiv und intensiv mehr Philosophie lernen kann als aus den Originalsystemen selbst, und wer diese Werke nicht bloss durchlesen, sondern durchlebt hat, wird die Wahrheit dieser Behauptung bestätigen können, denn er hat nicht bloss ein philosophisches System, er hat die Philosophie erlebt.

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