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ie Philosophie der Naturwissenschaft soll vermittelst einer Geschichte und Kritik der Hauptprobleme der Philosophie eine philosophische Einleitung in die mathematisch-empirischen Wissenschaften bilden. Aber ihr Zweck ist nicht blos ein theoretischer, sondern vor allem ein praktischer. Wir wollen die Vergangenheit nicht durchforschen um des blos historischen Wissens willen, wir wollen die philosophischen Probleme nicht durchdenken blos aus Freude an der Theorie, sondern um des praktischen Endzwecks willen, einer Orientierung über die Gegenwart und der möglichst idealen Gestaltung unserer Lebensführung in derselben. Diese überlegende Orientierung und diese überlegte Neugestaltung unserer Lebensführung ist um so notwendiger, als unser Zeitalter offenbar alle Merkmale einer grossen ringenden Übergangsperiode an sich trägt, in der die schroffsten Gegensätze hinsichtlich der Auffassung von Welt und Leben sichtbar sind. Alle diese Gegensätze erweisen sich aber bei näherer Betrachtung als die Auslebung eines und desselben Grundprinzipes auf allen scheinbar noch so entgegengesetzten Gebieten: des Materialismus. Der theoretische Materialismus hat in dem Gebiet der gesamten Naturwissenschaften eine einseitige und unkritische Herrschaft erlangt, woher es kommt, dass viele Probleme der Natur von Seiten vieler Naturforscher keine wissenschaftliche Behandlung mehr oder geradezu eine unwissenschaftliche erhalten. Der ethische Materialismus hat die aller geistigen Ziele längst beraubte Lebenspraxis der meisten Individuen zu einem fast verzweiflungsvoll angestrengten Ringen nach Geld gemacht, welcher genusslosen, also entkräftenden und

darum unechten Arbeit dann ein Sichstürzen in den schalsten, nur künstlich angestachelten und deshalb entnervenden und also erholungslosen Sinnengenuss folgt, sodass die meisten Individuen in Wahrheit nie zur harmonischen Beruhigung ihres Daseins gelangen. Der soziale Materialismus, ein Erzeugnis des ethischen, der den Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft nicht mehr unter irgend einem idealen Gesichtspunkte, sondern nur unter dem des erbarmungslosesten Solls und Habens betrachtet, hat auf der einen Seite die rücksichtsloseste Ausbeutung der Geldschwachen durch die Geldstarken, auf der anderen Seite die furchtbarste Erbitterung der Ausgebeuteten gegen ihre Plünderer und somit den Anfang des grimmigsten Krieges aller gegen alle hervorgerufen. Man wendet sich gegenüber diesem Chaos gern an die Religion, dass sie die Schäden heile. Und es ist wahr, echte, tiefe Religiosität würde die Schäden heilen, denn sie gleicht dem edelsten und höchsten Idealismus. Aber die Religion von heute ist im höchsten Grade vom Materialismus durchdrungen. Dieser religiöse Materialismus zeigt sich noch am unschädlichsten in den Naivetäten roher Idolatrie; er zeigt sich viel verderblicher im Orthodoxismus, der an Stelle des lebendig machenden, in steter Entwicklung begriffenen Geistes den tötenden Buchstaben und das erstarrte Dogma setzt; der statt eines nur im tiefsten Gemütsgrund des Menschen sich völlig individuell gestaltenden religiösen Gefühlsinhaltes die äusserliche Formel des mechanischen Gedächtnisses zur Hauptsache macht; der die tote, äussere Masse eines nicht mehr im Gemüte der heutigen Menschheit wurzelnden, sondern nur noch durch geschichtliche Überlieferung auf dem Papier, also rein materiell existierenden konfessionellen Systemes dem Geiste statt eines Gegenstandes innerlicher Anbetung aufdrängen will. Dieser religiöse Materialismus zeigt sich in jeder Form des Hierarchismus, der eine politische Weltherrschaft statt einer innerlichen Herzenserfüllung anstrebt; dem die Religion nicht Mittel seelischer Erlösung, sondern Mittel diplomatischer Fesselung geworden ist, auf den das von Hobbes entworfene Zerrbild der Religion wirklich passt. Dieser religiöse Materialismus zeigt sich endlich noch in der jeder wahrhaft geistigen Erfassung des Reli

giösen totfeindlichen Materialisierung des Immateriellen, im Spiritismus. Wenn ein grosser Teil der Gesellschaft sich diesem Rückfall in den rohesten Schamanismus und Animismus der Naturvölker mit Freuden hingiebt, so ist das nicht blos ein Beweis dafür, dass jede wahrhaft geistige Einwirkung des echt Religiösen auf das menschliche Fühlen verloren gegangen ist, sondern, wenn wir uns erinnern, mit welchen Zuständen geistigen Verfalls ähnliche spiritistische Erscheinungen in der Untergangszeit des klassischen Altertums auftraten, so deutet es auch auf eine rasch zunehmende Denkschwäche in der Masse hin, deren Folgen für unsere Zeit dieselben sein müssen, wie sie es damals waren. Sehen wir aber gar, dass Männer der Wissenschaft um spiritistischer Gaukeleien willen das Fundament alles wissenschaftlichen Denkens verkaufen, so haben wir hier ein solches Abwenden von jeder kritisch - idealen Weltanschauung, ein solches Versinken in den rohesten Materialismus und seine Einwirkung auf das Individuum vor uns, dass der Kenner der geistigen Entwicklungsgeschichte der Individuen wie der Menschheit sich des Grauens vor der nächsten Zukunft nicht erwehren kann, die an Stelle des wissenschaftlichen Erkennens den Aberglauben setzen wird.

Unser Zeitalter ist ein hervorragend realistisches und empiristisches: das ist sein Vorzug gegenüber anderen Zeiten. Sein Fehler ist, dass es dazu ein materialistisches geworden ist. Es wäre aber ganz falsch, wollte man für diesen Fehler ausschliesslich seinen Realismus und Empirismus verantwortlich machen. Der Materialismus entwickelt sich im Gefolge des Realismus und Empirismus immer nur dann, wenn die geistigen, sittlichen und religiösen Ideale der Menschheit aus anderen Gründen bereits verloren gegangen sind. Diese können verloren gehen, wenn Reichtum und Macht die Menschheit zu Ueppigkeit und Uebermut, zu Genusssucht und Sinnlichkeit und damit zum ethischen Materialismus verführen, dem dann der theoretische Materialismus erst nachträglich gewissermassen als erklärende Theorie auf dem Fusse folgt. Der Materialismus kann sich aber auch aus einem ganz anderen Grunde entwickeln, wenn nämlich die geistigen, sittlichen und religiösen Ideale, die bisher den Menschen erfüllt und begeistert haben,

im Verlauf grosser, gewaltiger geistiger Errungenschaften für den Menschen zu klein und zu kindlich geworden sind, wenn er also in Wahrheit über die bisherigen Ideale hinausgewachsen ist, er sich neue aber noch nicht hat bilden können. Dann wirft er im kritischen Vernichtungsdrang wie Faust mit den bisherigen Idealen eine Zeit lang wohl allen Idealismus weg und ergiebt sich einem rohen Materialismus des Denkens und Lebens. Immer aber entwickelt sich der Materialismus nie blos aus dem Realismus und Empirismus als solchem, sondern stets muss noch die Inadaequatheit der alten Ideale, zumal der religiösen, im Verhältnis zu der allmählich geschaffenen neuen Vorstellungs- und Gefühlswelt des Menschen hinzutreten. Realismus und Empirismus wirken höchstens insofern mit, als sie es gewöhnlich sind, welche jene neue Vorstellungswelt herausgearbeitet haben. Die Forderung darf also nicht dahin gehen, den Realismus und Empirismus zu verbannen, sondern dahin, dass wieder religiöse wie sittliche Ideale gefunden werden, die dem neuen Vorstellungsinhalt des menschlichen Geistes adaequat sind. Es muss mit dem neuen Realismus wieder ein neuer Idealismus verbunden werden, nicht aber darf der oft gemachte, aber stets misslingende Versuch erneuert werden, den neuen Wein eines neuen Realismus in die alten Schläuche eines veralteten Idealismus zu füllen.

Im weitesten Sinne des Wortes gilt es also, eine Verbindung zwischen Realismus und Idealismus herzustellen, das heisst, wenn denn doch die hauptsächlichste Vertreterin des Realismus die Naturwissenschaft und die des Idealismus die Philosophie ist: Naturwissenschaft und Philosophie müssen ihren alten Bund wieder erneuern, eine Philosophie der Naturwissenschaft muss geschaffen werden, einer philosophischen Naturwissenschaft muss eine naturwissenschaftliche Philosophie die Hand reichen. Wenn die Vertreter des Realismus und Empirismus sich wirklich philosophisch-idealistisch durchdringen, so wird die Welt alle Segnungen des Realismus weiter geniessen, die materialistische Irrung und Wirrung aber wird untergehen.

Leider besteht heute ein nicht geringes Misstrauen zwischen

der Philosophie und den empirischen Wissenschaften.*) Eine Anzahl Philosophen, selbst unkundig der Forschungen der Naturwissenschaften, stossen jede Art des Empirismus als ,,unphilosophisch" von sich; und die Empiriker fast sämtlich haben von der Philosophie eine Vorstellung, als handle es sich in ihr um höchst nutzlose und unfruchtbare, weder exakte noch überhaupt wissenschaftliche Hirngespinste. Beide Parteien haben im höchsten Grade Unrecht, aber die Hauptschuld an diesen Missverständnissen trägt leider die Philosophie, insofern ihre Entwicklung in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, zumal in Schelling und Hegel, das höchste Misstrauen der Naturwissenschaften gegen sich erweckte, da sie all den Nebel zurückführte, den gerade vorher Immanuel Kant mit gewaltiger Hand zerstreut hatte. So datiert diese feindliche Scheidung der Philosophie und Naturwissenschaft erst aus der neuesten Zeit; im klassischen Altertum bestand sie nicht, und den innigsten Zusammenhang beider in der Zeit nach dem Wiedererwachen der Wissenschaften beweisen die zugleich philosophischen wie naturwissenschaftlichen Bestrebungen und Werke der Descartes, Baco, Kepler, Newton, Leibniz, Kant. Erst in der nachkantischen Periode führte einerseits die erwähnte Missentwicklung der Philosophie, andrerseits der Umstand, dass die Naturwissenschaften sich immer mehr specialisierten und differenzierten, wodurch sie, den Blick auf das Einzelne gerichtet, den Sinn für die notwendigen allgemeinen Forschungen verloren, die üble Trennung herbei, die wir jetzt zu beklagen haben. Unleugbar sind durch diese Hinwendung der Naturwissenschaften auf die bis in's kleinste gehenden Einzeluntersuchungen Vorteile erwachsen, die nicht blos den besonderen Specialwissenschaften, sondern der Entwicklung des menschlichen Geistes überhaupt, also der Philosophie, im höchsten Masse zu gute kommen. Die mühsamen und vielfach trockenen Detailstudien haben den Rausch vertrieben, in welchem der philosophische Schwarmgeist meinte, das Bild der

*) Das Folgende habe ich in ausführlicherer Weise bereits erörtert in einem Vortrage: „Über Bedeutung und Aufgabe einer Philosophie der Naturwissenschaft." Jena 1877, worauf ich verweise.

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