Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Die Wagen waren durch doppelte Fenster gegen die Kälte geschüßt und so gut geheizt, daß wir meist in einer Temperatur von zwanzig bis einundzwanzig Grad Réaumur schwißten, wie die vielfach angebrachten Thermometer besagten. Leider konnte man die Fenster nicht öffnen, und wenn man frische Luft haben wollte, mußte man durch die ganze Länge des Zuges sämtliche Verbindungstüren öffnen. Das wurde aber nur einmal versucht, denn es entstand dadurch bei der Geschwindigkeit der Fahrt ein so mächtiger Zug mit plößlicher, eiskalter Luft, daß es niemand aushalten konnte. Wir mußten also in der heißen, stickigen Luft bleiben.

Bald nachdem alles in den Extrazug hineinbefördert war, wurden wir zum Diner gerufen. Das russische Diner bei Hofe und in allen Kreisen der vornehmen Welt gibt dasselbe Menu wie in der übrigen gebildeten Welt. Nur wird vor dem Diner der alten russischen Sitte der Sakuska Rechnung getragen, jedoch mehr durch eine Andeutung als durch die Wirklichkeit. Diese alte Sitte bestand darin, daß den Gästen, wäh= rend sie sich zum Diner versammelten, die auf einem Tisch servierte kalte Küche und verschiedene Sorten von Schnäpsen, besonders Alasch und Korn, aufgenötigt wurden, so daß sie schon in einer gewissen Stimmung zu Tische gingen. Bei Hofe wird, während der Kaiser sich mit den versammelten Gästen unterhält, denen, mit denen er nicht gerade spricht, eine Schüssel kleiner Kaviar- oder Sardellenbrötchen und ein kleines Likörgläschen präsentiert, und es steht jedem frei, davon zu nehmen oder nicht. Während der Fahrt wurde die Sakuska in einem kleinen Vorgemach aufgestellt, durch das wir hindurchgehen mußten, um zum Dinersalon zu gelangen, und im Vorbeigehen nahm man ein Kaviarbrötchen, das gerade einen Bissen bildete.

Das Menu war ausgesucht, ohne überladen zu sein, die Küche unübertrefflich. Nur eins war daran zulezt zuwider. In der ganzen Zeit des Aufenthalts in Rußland waren wir täglich zu großen Diners zu Gaste, und es wurden als Braten täglich Haselhühner gegeben, die allerdings außerhalb Rußlands eine Delikatesse sind. Beim täglichen Genuß ekelten sie mich bald so an, daß ich nicht mehr davon essen konnte.

Die Art, wie gedeckt war, bewies, daß man in Rußland viel übung darin hat, unterwegs Diners zu servieren. Die Gläser und Flaschen hingen in einer Art von Plattmenagen, statt auf dem Tisch zu stehen, und alles, was Flüssigkeiten enthielt, wurde ähnlich serviert, um bei den Erschütterungen der Eisenbahn nicht den Inhalt umherzuspritzen oder umzufallen. Diese Gläser und Flaschen, die in metallenen Ringen hingen, gerieten aber immerhin, wenn der Zug in Gang kam, in eine

zitternde Bewegung und klirrten und flapperten so stark, daß man sich schwer verständigen konnte.

Nach Tische ging es in die Unterhaltungsjalons. Es wurde geplaudert, geraucht, Whist gespielt. Spät abends wurde die Station Wilna gemeldet. Eine zahlreiche Generalität stand da in Gala zur Begrüßung, wir wurden einander vorgestellt, ich habe aber keinen Namen behalten, denn es ging bald weiter.

Als Nacht gemacht werden sollte, fand ich auf meiner Chaiselongue alle Bedürfnisse für die Nacht aus meinen Sachen bereit gelegt. Ich wollte meinen Diener noch fragen, ob auch alle meine übrigen Effekten glücklich in den Zug verladen seien. Aber ich rief vergebens. Erst kamen einige nur Russisch sprechende Menschen und endlich einer der Offiziere, der mir lächelnd sagte, mein Diener werde morgen früh kommen, heute sei es unmöglich. Unsere gesamte Dienerschaft war nämlich ebenfalls mit größter Gastfreundschaft bewirtet worden, und die Russen hatten nicht eher geruht, sondern solange mit ihnen angestoßen, als bis sie alle sinnlos betrunken schnarchten.

Um neun Uhr wurden wir zum ersten Frühstück, um zwölf Uhr zum zweiten gerufen. Die Zwischenzeit verging mit Konversation und Whistspiel. Wo wir waren, erfuhren wir nie. Stationen wurden nicht angesagt, und die festzugefrorenen Fenster gestatteten keinen Ausblick auf die Umgegend. Zuweilen, wenn der Zug einmal hielt, gewann ich einen Anblick von der Umgegend. Ich sah aber nichts als endlose Schneeebenen, aus denen hier und da dürres Gestrüpp herausragte, oder Nadelholzwaldungen. In Zarskoje-Selo stieg unser Botschafter in Petersburg, Prinz Reuß, in den Zug ein und benachrichtigte uns, daß der Kaiser in Gatschina ebenfalls den Zug besteigen werde. Wir machten Toilette, und zwar vollen Paradeanzug mit russischen Ordensbändern. In Gatschina begrüßte uns der Kaiser in preußischer Paradeuniform mit dem Großfürsten-Thronfolger und dem Großfürsten Wladimir, und in der Begleitung des Kaisers befanden sich General v. Werder, der in Petersburg kommandiert war, Fürst Barjatinski, der Feldmarschall und Bezwinger des Kaukasus, Graf Adlerberg und General Baranzoff. Es ist sonst nicht einmal üblich, daß ein Monarch dem andern auf der Eisenbahn entgegenfährt. Wenn der Empfang sehr herzlich sein soll, empfängt er den besuchenden Monarchen auf dem Bahnhofe, Prinzen Königlicher Häuser aber wartet er in seiner Wohnung ab. Daß der russische Kaiser uns einige Meilen in Begleitung seiner Söhne und mehrerer hoher Würdenträger entgegenfuhr, war eine der ganzen preußischen Armee dargebrachte Huldigung. Er fuhr mit uns nach Petersburg.

Ankunft. In Petersburg waren sämtliche Generale zum Empfange auf dem Bahnhofe. Tarunter befanden sich nicht weniger als 120 Generaladjutanten des Kaisers. Der Kaiser soll im ganzen 138 Generaladjutanten und über 250 Flügeladjutanten haben.

Zu Mittag aß ich beim deutschen Botschafter, denn wir existierten offiziell in Petersburg nicht eher, als bis wir unsere Meldungen und Visiten gemacht hatten, obgleich uns der Kaiser empfangen. Nach dem Essen ging es in die italienische Oper.

Die Oper hatte eine höchst interessante Zeit. Es gastierten Pauline Lucca und Adeline Patti zu gleicher Zeit, jedoch abwechselnd, einen um den anderen Abend. Die Russen ergreifen alles mit großer Leidenschaft. Die beiden Sterne am Himmel des Gesanges erfaßten die russische Welt, spalteten sie aber auch in zwei Teile. über den Streit zwischen den Luccisten und Pattisten vergaß man den Streit zwischen den Feinden und Freunden Deutschlands. Man fragte mich, ob ich Luccist oder Pattist sei, und begriff nicht, wie man beide große Sängerinnen gern hören könne, man müsse Partei ergreifen, hieß es.

Nach der Oper wurde uns schon um elf Uhr erlaubt, uns zurückzuziehen, ausnahmsweise, weil wir zwei Nächte im Eisenbahnwagen zugebracht hatten. Wir waren alle im Winterpalais einlogiert, und es erhielt ein jeder einen Lohnlakaien. Der meine sprach Deutsch und Russisch.

6. Dezember. Meldungen und Visiten. Den 6. Dezember früh begannen wir unsere Meldungsreise. Die beiden Königlichen Prinzen hatten natürlich eine andere Art von Visitenreise zu machen, aber wir anderen fuhren in mehreren Wagen hintereinander. Ich fuhr mit Graf Lynar zusammen. Als Führer diente uns Oberst Sedler. Zuerst ging es zum alten Marschall Barjatinski, der im Winterpalais wohnte und uns annahm, dann zu den Großfürsten. Die Zeit der Parade in der großen Manege unterbrach die Meldungs- und Visitenreise, die wir nachher nach einer von Sedler entworfenen Liste fortsetten. Als wir uns, ebenso wie es in Berlin Sitte ist, bei den Mitgliedern der regierenden Familie aufschrieben, wollte ich auch für die Adjutanten, Kammerherren und Hofdamen Karten abgeben, aber der Oberst Sedler widersezte sich dem auf das entschiedenste. Das sei in Berlin Sitte, meinte er, aber nicht in Petersburg. Ich weiß aber zu gut, daß die Kaiserlichen Herrschaften ihre Adjutanten nach Namen und Stand der Besuchenden fragen und dieses nur aus den Karten wissen können. Als daher gegen Einbruch der Dunkelheit unsere Meldereise beendet war, eilte ich zum General v. Werder, der beim Kaiser Alexander kommandiert war, und sagte

ihm, was vorgefallen. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Nirgends werde mehr auf Visitenkarten gegeben als in Petersburg, sagte er, wo man gewissermaßen davon lebe. Wenn wir an die Gefolge der Herrschaften nicht Karten abgäben, werde die ganze preußische Generalität als die größten Grobiane der Welt verschrieen. Ich sandte sofort meinen Wagen mit dem Lakaien die ganze Rundreise bei der Kaiserlichen Familie noch einmal herum und ließ von uns allen Karten abgeben, so viel, als es da Menschen im Gefolge gab.

Unter unseren Freunden war nächst dem Kaiser die einflußreichste Persönlichkeit die verwitwete Großfürstin Helene, eine Schwester des Prinzen August von Württemberg. Da sie eine sehr verständige Dame war, alles Reelle befürwortete, den Schein und haltlose Zeremonien bekämpfte, Kunst und Künstler, Wissenschaft und Gelehrte begünstigte, auch deren bedeutendste Größen ohne Rücksicht auf Adel in ihrem Salon empfing, verschrieen sie die Gegner als das Haupt der Demokraten, obgleich sie von revolutionären oder auch nur seicht liberalen Doktrinen ganz frei war. Wenn sie aber eine Äußerung tat, wie: Hier in Rußland ist alles nur auf den Schein basiert, nichts auf das Wesen", dann wurde diese Kritik schon als eine revolutionäre Äußerung ausgebeutet. Neben ihr war der Großfürst Nicolaus, Bruder des Kaisers, unser wärmster Freund und Verehrer. Er war das Ebenbild seines Vaters, passionierter Soldat, aber ohne tiefe Kenntnis der militärischen Dinge. Wie sein Vater, glaubte er, den Feind lediglich durch die eisernste Disziplin zu schlagen, und sah in schnurgerader Richtung und in einer gelungenen Parade das höchste zu erstrebende Endziel militärischer Tätigkeit. Aber die Leistungen der preußischen Armee im Kriege erfüllten ihn doch mit Zuneigung für dieselbe. Ich kam zuweilen in den Fall beim Diner neben ihm zu sizen und mußte ihm aus dem Kriege erzählen. Dann konnte er mich wiederholt umarmen und mir die Hand drücken und hatte Tränen der Freude im Auge.

Baranzoff, der russische Generalinspekteur der Artillerie, gehörte zu den eifrigsten Freunden der preußischen Armee. Die Waffe, in der wir beide dienten, führte mich mehr mit ihm und dem Fürsten Massalsky, dem Kommandeur der Gardeartillerie, der dieselbe politische Ansicht hatte, zusammen, als mit anderen Generalen. Da hatte ich längere Gespräche unter vier Augen, bei denen diese Herren unverhohlen sprachen. Sie erzählten mir, wie groß die Zahl unserer Gegner in Rußland im vorigen Jahre gewesen sei, und wie viele Schwierigkeiten der Kaiser im Festhalten an einer uns wohlwollenden Politik gefunden habe. Auf die Nachricht von der Schlacht bei Sedan sei ein Schreck durch ganz Rußland

gefahren. Alle Welt habe gefürchtet, wenn wir die ganze französische Armee gefangen nehmen könnten, dann sei es uns ein leichtes, ganz. Rußland zu vernichten, dessen Armee sich als nicht so mächtig erwiesen. wie die französische, und alle Welt habe den Kaiser gedrängt, durch energisches Einschreiten gegen uns unseren Fortschritten Halt zu gebieten, damit wir nicht zu übermächtig würden. So hatte uns die Schlacht von Sedan die russische Armee entfremdet, während sie uns mit der österreichischen aussöhnte. Troßdem fand Thiers, als er auf seiner Herbstrundreise an den Höfen Europas auch nach Petersburg im Jahre 1870 gekommen, unter den einflußreichen Menschen daselbst wohl Sympathien, aber niemanden, der dafür gestimmt hätte, daß Rußland auch nur einen Mann marschieren lassen möge. Die Kündigung des Pariser Friedens und die Vorteile, die der Kaiser in dem neuen Vertrage mit der Pforte erreichte, überzeugten dann die Russen davon, daß sie von ihrer Freundschaft mit uns Vorteil hätten, und brachten den Wunsch eines tätlichen Einschreitens gegen uns ganz zum Schweigen, und unsere Gegner verhielten sich seitdem in Rußland still grollend.

Desto lauter und unverhohlener äußerten sich unsere Freunde. General Baranzoff erzählte mir, daß Thiers bei seiner Anwesenheit in Petersburg bei allen möglichen Menschen angeklopft habe, um auf eine Hilfe für Frankreich seitens Rußlands hinzuwirken. Da sei er auch zu ihm gekommen und habe ihm ein Langes und Breites auseinandergesett, wie Preußen ein gar zu gefährlicher Feind Rußlands sei. Aber er habe ihm geantwortet, seit mehr als einem ganzen Jahrhundert sei Preußen der aufrichtigste und ehrlichste Freund Rußlands. Nur ein einziges Mal sei es feindlich gegen Rußland aufgetreten, und zwar 1812, wider den eigenen Willen, nur durch Frankreich gezwungen. Frankreich hingegen sei allemal den russischen Interessen feindlich gegenüber getreten, sowohl 1812 wie 1854. Rußland habe keine Veranlassung, einen durch Jahrhunderte bewährten Freund von sich zu stoßen, um einen bewährten und natürlichen Gegner vorübergehend zum zweifelhaften Freunde zu machen.

Raswod. Die Parade in der großen Manege, welche unsere Meldungs- und Visitenreise am ersten Tage unterbrach, war die tägliche Wachtparade. Wenn er irgend Zeit hatte, hielt der Kaiser diese Wachtparade, Raswod genannt, persönlich ab. Das war dann einer der feierlichsten Momente am ganzen Tage. Die Reitbahn ist von einer bei uns ganz ungekannten Ausdehnung und erlaubt die Aufstellung aller auf Wache ziehenden Truppen in Linie und ihren Vorbeimarsch vor dem Kaiser. Hinter dem Kaiser, den Truppen gegenüber, stehen dann die

« ZurückWeiter »