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uns überrascht, und in der ersten Zeit litten die Truppen etwas von der Kälte, bis warme Unterkleidungen beschafft waren. Jedoch sind ernste Erkrankungen an Frost nicht vorgekommen. Im Gegenteil befanden sich die Truppen beim Frost, sobald die warmen Sachen angekommen waren, wohler als in der feuchten weichen Witterung, die die Wege und Laufgräben aufweichten, worin die Mannschaften tagelang mit nassen Füßen hatten aushalten müssen. Daraus waren dann Typhoide verschiedener Grade entstanden. Indessen nahm der Typhus selten einen bösartigen Charakter an, und es kamen wenig Todesfälle vor. Häufig zeigte sich bei Kranken, die von den Ärzten ganz aufgegeben waren, in der Stunde, wo man ihren Tod erwartete, irgend ein Geschwür, und sie genasen dann. Ähnlich ging es meinem Hauptmann v. Samezki, der die Munitionskolonnen kommandierte. Ende November kam seine heroische Frau auf den Kriegsschauplaß, ihn zu pflegen. Er ward kränker, ja die Hände und Füße drohten bereits am lebenden Körper in Verwesung überzugehen, so daß die Frau schon einen Zinksarg bestellte, um die Leiche nach der Heimat bringen zu können. Plötzlich ward er besser, und nach langer Krankheit ist er wieder dienstfähig geworden.

Heizmaterial. Für die Vorposten sorgte man gegen die Kälte durch mit kleinen Öfen versehene gedeckte Unterstände, in denen die Feldwachen Schutz fanden. Auch für die Batterie, welche permanent an der Inundation bei Pont Jblon auf Wache stand, solange es hell war, ließ ich an einer dem Feinde nicht sichtbaren Stelle ein Häuschen bauen, ähnlich wie die leichten Pulvermagazine, aber von solcher Größe, daß alle Mannschaften einer Batterie darin Schuß hatten. Ein Ofen fand darin Play. Die Geschütze wurden in die Stellung gefahren, die Pferde in Ställe der Patte-d'oir geführt und bei der Batterie nur ein Avertissementsposten belassen.

Die Sorge um das Heizmaterial stieg aber mit der Zeit in allen Kantonements. Anfangs fanden wir noch Holzvorräte. Als diese aber verbraucht waren, fällte man die Bäume der Parks, der Wege. Aber das frische Holz brannte und wärmte schlecht. Da wurde hier ein alter. Zaun, dort ein alter Schuppen eingerissen und allmählich verbrannt. Es gab auch einzelne Sommerhäuser, welche ganz aus Holz gebaut waren und bei der Kälte nicht bewohnt werden konnten, sowie Gartenpavillons. Davon verschwand erst eine Tür nach der anderen, dann die Dachsparren, endlich die Balfen. So sind manche Häuser im Laufe des Winters dem Erdboden gleich gemacht worden. Die Franzosen haben das später Vandalismus genannt, wir nannten es Notwendigkeit.

An militärischen Ereignissen war diese Zeit bei uns arm. Oft wurden wir alarmiert, und es stellte sich heraus, daß das Observatorium die tägliche Ablösung der Vorposten beim Feinde für einen Ausfall hielt. Einen Abend ist auch am Pont Jblon eine lebhafte Füsillade entstanden. Das ganze Bataillon ist ins Gefecht getreten und hat mitgeschossen, endlich den vermeintlichen Feind abgeschlagen. Am folgenden Tage fand man weder Leichen noch Verwundete noch Fußspuren im Schnee. Die Phantasie und der Mondschein erzeugen Gespenster. Die Kriegsgeschichte hat über diese Episode geschwiegen. Allmählich warfen elektrische Lichter ihre Beleuchtungskegel vom Montmartre her nach Dugny, Bourget und Le Blanc Mesnil. Die langen Schatten derselben aber hüllten alles in noch tieferes Dunkel und überzeugten uns davon, daß dieses Beleuchtungsmittel auf großen Entfernungen dem Zweck nicht entspricht. Aber es war schön anzusehen. Bei Tage, wenn bei uns ein Kopf sich sehen ließ, bei Nacht, wenn es ihm gerade einfiel, schoß der Feind aus seinem schweren Festungsgeschütz ins Vorterrain. Man gewöhnte sich so sehr daran, daß man zuletzt des Morgens sagte: „Heute nacht hat es geschneit, und gegen Morgen hat es geschossen“, denn man sah dies feindliche Feuer schon wie ein Naturereignis an.

v. Helden. Am 6. November ward der Oberst v. Helden-Sarnowski an Stelle des gefallenen Scherbening zum Kommandeur der Korpsartillerie ernannt. Oberstleutnant v. Rheinbaben übernahm wieder die Artillerie Budrigkis, und der Hauptmann v. Graevenit die Munitionskolonnen an Stelle des franken Sametti.

Eisenbahnen bis in die Stellungen. Seit dem 8. November war die Eisenbahn bis zwischen Gonesse und Villiers le Bel*) fahrbar, nachdem wir sie früher schon bis Sevran hatten benußen können. Nach der Einnahme von Soissons konnte man nämlich von Reims aus bis dorthin fahren, und unsere Eisenbahn-Abteilungen hatten dann eine von den Franzosen begonnene, nicht ganz vollendete Querbahn in der Richtung auf Creil zur Not fahrbar gemacht. Weil aber alle Verbindungen auf diesen Bahnen nach der Heimat immer noch von Nancy bis Reims auf einer einzigen Schienenlinie zusammenkamen, so war für den Verkehr mit der Heimat sehr Wesentliches damit nicht gewonnen, und die Bahnhöfe Goussainville**) und Gonesse brachten nur Armeeverpflegung. Belagerungsmaterial kam immer noch nicht. Die Linie Nancy-Reims war

*) 5 Kilometer nordwestlich Gonesse. **) 6 Kilometer nördlich Gonesse.

nommen.

ganz durch Verpflegungs- und Truppentransporte in Anspruch geEs wurde im Gegenteil am 16. November die fernere Anfertigung von Batteriebaumaterial beim Gardekorps und IV. Armeekorps ganz sistiert.

Moralischer Eindruck des täglichen Beschießens. Unsere Soldaten mußten sich täglich als Scheibe für den Feind benußen lassen und konnten keine Vergeltung üben. Das machte uns sehr betrübt. Wenn die Verluste im ganzen Gardekorps: am 2. November vier Mann, am 11. fünf Mann, auch nicht sehr zahlreich waren, z. B. in der ersten Hälfte des November am 12. ein Mann, am 14. zwei Mann, also in einem halben Monat zwölf Mann, so befand sich doch die ganze vordere Linie in steter Lebensgefahr, mußte gebückt schleichen und hatte die dienstliche Anweisung, sich zu fürchten. Auf die Dauer mußte ein solcher Zustand einen nachteiligen Einfluß auf den moralischen Wert unserer Mannschaft ausüben. Von den Offizieren, welche zwar durch Erziehung und Ehrgefühl besser imstande sind, den Eindruck zu verbergen, den ihnen die Gefahr macht, die aber noch außerdem die Aufregung der Verantwortung in größerer oder geringerer Ausdehnung je nach der Charge empfinden, und die nach ihrer Körperbeschaffenheit und Lebensgewohnheit den Einflüssen der Witterung, den permanenten nassen Füßen usw. geringeren Widerstand entgegenseßen, wurden hier und da einige nervenkrank und mußten in Anstalten gebracht werden. Man mochte daher den Entschluß zur Belagerung fassen oder nicht, es stellte sich immer als ein dringendes Bedürfnis heraus, Belagerungsgeschütz herbeizuschaffen, um das Gleichgewicht der Waffen wiederherzustellen und die Zuversicht des Soldaten zu befestigen, welche zu wanken drohte.

Besuch in Versailles. Am 16. November sagte mir der Prinz von Württemberg, der König habe ihn eingeladen, ihn in Versailles einmal zu besuchen, wenn die Situation vor der Front des Gardekorps die Abwesenheit des kommandierenden Generals auf ein paar Tage zu erlauben scheine. Er werde am 17. früh nach Versailles fahren und am 19. wieder zurückkehren. An diese Mitteilung schloß er die Aufforderung, ihn zu begleiten. Ich war nicht wenig erstaunt darüber, daß der Prinz, statt seinen Neffen oder einen seiner Adjutanten mitzunehmen, mich zur Begleitung aussuchte. Wer aber hätte nicht in dieser für uns ziemlich langweiligen Zeit mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, die sich darbot, den König und die maßgebenden Persönlichkeiten alle wiederzusehen und einmal zu erfahren, wie die Dinge von der obersten Heeresleitung aus angesehen wurden. Ich sagte also sehr gern zu. Nachdem, was später er

folgte, kann ich nicht anders als annehmen, daß der König den Prinzen von Württemberg selbst aufgefordert hat, mich nach Versailles mitzubringen, aber ohne es mich merken zu lassen, wahrscheinlich weil er noch nicht definitiv entschlossen war und mich erst über meine Ansicht von der Situation persönlich ausforschen wollte.

Am 17. November früh neun Uhr fuhr ich also im Wagen, neben dem Kommandierenden sizend, von Gonesse ab. Der Prinz hatte vier eigene Wagenpferde mit, welche von seinen zwei Kutschern gefahren werden sollten. Diese Kutscher, ebenso wie die ganze Dienerschaft tyrannisierten aber den gutmütigen Herrn gewaltig. Während des bisherigen Verlaufes des Feldzuges waren diese Kutscher vornehme Herren geworden und hatten die kommandierten Trainsoldaten, junge Rekruten vom Garde-Dragoner-Regiment, dazu gemißbraucht, daß sie auch ihre Pferde puben sollten. Jezt sollte nun ein solcher Kutscher seinen Herrn nach Versailles fahren und dort drei Tage lang die Pferde selbst pußen. Dazu wollte sich keiner verstehen, und deshalb redeten sie dem Prinzen vor, die Fahrt sei zu anstrengend für seine Staatspferde, und er möge zwei seiner Trainpferde vor den Wagen spannen, die dann der betreffende Trainsoldat fahren sollte.

Ahnungslos über diese kleinen Intrigen in der Kutscherstube sette ich mich in Gonesse neben meinen kommandierenden General in den Wagen. Schon bei der Abfahrt bemerkte ich einige Meinungsdifferenzen zwischen den Rossen und dem Lenker. Die Höhe nach St. Brice hinauf ging es noch leidlich, dann ging es aber bergab mit der Geschwindigkeit eines Weltumseglers wider Willen. Ich wagte die Bemerkung, daß der Kutscher nicht ganz Herr seiner Pferde zu sein scheine. „Sie packen ihm manchmal auf", sagte der Prinz lachend. „Nur nicht in die feindlichen. Vorposten hinein", wünschte ich dringend. Als es aber eine Weile in demselben Tempo den Berg nach Montmorency hinauf gegangen war, glaubte ich, nach zwei Meilen Wegs sei von dem übermut der stallmutigen Rosse wohl nichts mehr zu erwarten. So erreichten wir das schöne Enghien, jezt, in seinem blätterlosen Winterzustande und militärisch zur Verteidigung eingerichtet, aller Schönheiten beraubt. Nach Passierung des Orts mußten wir nach Argenteuil heraus eine Barrikade passieren, durch die der Ausgang in scharfen Windungen offen gelassen war. Unser Rosselenker verschmähte es, den Windungen zu folgen, fuhr kürzer und gerader, die linken Räder gingen hoch auf die Barrikade hinauf, und der Wagen schlug um. Auf der linken Seite sisend, machte ich den größeren Bogen beim Umfallen, überschlug in der Luft und ward weit weg an die begleitende Gartenmauer geworfen. Wenn ich auch recht

unsanft fiel, so daß mir alle Knochen im Leibe wehe taten, so sprang ich doch schnell auf und zog den Prinzen, der in seinen Mantel fest eingewickelt war, aus dem Wagen heraus; er sprang schnell an die Pferde, sie zu halten, denn Kutscher und Leibjäger lagen festgeklemmt unter dem Bock, wo der Rosselenker quietschte und heulte. Mit Hilfe von Mannschaften des IV. Armeekorps wurden diese Leute aus ihrer Lage befreit und der Wagen wieder aufgerichtet. Einige Schäden am Wagen wurden durch herbeigerufene Holzarbeiter wieder hergestellt, und wir konnten, da kein Mensch etwas gebrochen hatte, die Fahrt nach einem Aufenthalt von einer Stunde fortseßen. Jetzt aber hatte der Kutscher alle Courage verloren. Er saß automatenartig, ohne die Zügel festzuhalten, auf dem Bock und ließ die Pferde forttrollen, wie sie wollten. Als sie so einmal dem rechten Graben zu nahe kamen, ließ der Kutscher die Zügel fallen und griff heulend nach der Hecke, an der wir vorbeifuhren. Jezt ergriff der Leibjäger Lindner die Zügel der Regierung, und wir konnten uns wieder in Sicherheit wiegen. Jenseits Argenteuil fuhren wir aber die Seine entlang bis Bezons. Auf dem anderen Ufer des Flusses standen die feindlichen Vorposten und übten sich nach uns im Schießen nach beweglichem Ziel. Sie hielten zwar nicht genug vor, denn die Kugeln pfiffen hinter uns fort, besonders da wir unser Tempo immer mehr beschleunigten, aber wir beschlossen doch, auf der Rückfahrt einen Umweg nach Norden zu machen, denn wir fanden es unnüß, beim Spazierenfahren erschossen zu werden.

Die lette Hälfte der Fahrt ging über St. Germain nach Versailles ohne Unfall vonstatten.

In Versailles ward mir Quartier in den ausgefrorenen Salons zweier alter Witwen angewiesen. Das Vermögen der armen Damen bestand in einem Hause in Paris. Sie baten, wir möchten Paris bald nehmen, damit sie von ihren Mietern die am 1. Oktober fällige Miete bald einziehen könnten. Es hat eben so jeder seinen Standpunkt zu den großen Tagesfragen.

Bei meinen Meldungen und Besuchen ward ich überall, beim König, Kronprinzen, Prinzen Carl, Hindersin, Moltke, Roon, mit großer Herzlichkeit empfangen. Meine bisherigen Leistungen wurden von allen sehr hoch angeschlagen. Prinz von Württemberg und ich wurden täglich mittags zum Diner und abends zum Tee zum König befohlen, nur einmal waren wir beim Kronprinzen.

Unsere Kriegführung befand sich im allgemeinen gerade in der größten Krisis. Die Bayern waren am 9. November, also vor acht

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