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Staatsmacht absichtlich und wissentlich den Beleidigern der Sozialdemokratie einen Schutz angedeihen laffe; daß der Partei mit Hilfe der Staatsmacht der Fehdehandschuh hingeworfen worden sei, beziehe sich sicherlich auf Seine Majestät, sei aber insofern nicht beleidigend, als hier nur das Anerbieten eines ritterlichen Kampfes gekennzeichnet werde. Zweifellos beleidigend aber sei ein Ausdruck in dem zweiten Saze. Das Gericht sei der Ansicht, daß weil die ganze Kundgebung des Angeklagten sich direkt an ein Publikum wandte, das vorher die Kundgebung Seiner Majestät gehört hatte und diese im sozialdemokratischen Sinne auffaßte ein Zweifel bei dem Publifum nicht darüber bestehen konnte, daß mit dem zweiten Saße nicht bloß irgend eine Partei, sondern auch eine noch höhere Stelle gemeint war, und daß derselbe einen Hinweis auf die Rede Seiner Majestät vom 2. September bildete. Das Gericht nehme an, daß der Angeklagte seine Worte gewählt habe, um einer Majestätsbeleidigung zu entgehen, aber er habe mit der Möglichkeit rechnen müssen und gerechnet, daß seine Worte als Majestätsbeleidigung aufgefaßt werden könnten und würden, und das Gericht nehme ferner an, daß unter der Zuhörerschaft sich Personen genug befanden, die gerade nach dem Vorangegangnen keinen Zweifel hatten, daß der zweite Saz bezogen werden würde nicht bloß auf die Beleidiger, sondern auch speziell auf denjenigen, an dessen Pronunziamento die ganze Sache anknüpfte. Daß er das direkt gewollt habe, sei nicht nachgewiesen, aber es sei nachgewiesen, daß er die Worte zweideutig gewählt habe und sich wohl bewußt war, daß die Zuhörerschaft den Eindruck haben konnte, diese Worte seien auf den Kaiser gemünzt. Deshalb sei der Angeklagte der Beleidigung schuldig. Bei Abwägung der Strafe sei_in_Betracht gezogen worden einerseits sein hohes Alter und der Umstand, daß er in gewisser Weise das Delikt habe vermeiden wollen, andrerseits aber die Rolle, die er in der Partei spiele, und die Wichtigkeit, die seinen Worten als einem beabsichtigten Gegenpronunziamento der Partei beigemessen werden mußte.

30. November. Nachdem das Berliner Polizeipräsidium infolge von Haussuchungen bei mehr als achtzig Berliner Sozialdemokraten die Schließung mehrerer Vereins organisationen in Berlin angeordnet hat, macht der Vorstand der sozialdemokratischen Partei folgendes bekannt:

An die Parteigenossen! Unter dem heutigen Datum ist den Unterzeichneten, bisherigen Mitgliedern des Vorstands der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, folgende Verfügung zugegangen: An den Vorsißenden des Parteivorstandes der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Reichstagsabgeordneten Herrn Paul Singer.

Der Polizeipräsident.

Berlin, den 29. November 1995.

Es wird Ihnen hierdurch eröffnet, daß der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf Grund des § 8 des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 vorläufig geschlossen ist, weil derselbe als politischer Verein im Sinne dieses Gesezes mit andern Vereinen gleicher Art zu ge= meinsamen Zwecken in Verbindung getreten ist. Jede fernere Beteiligung an diesem Verein oder einer Neubildung, die sachlich als Fortseßung des geschlossenen Vereins erscheint, ist nach § 16 des Vereinsgefeßes strafbar. Der Polizeipräsident. von Windheim.

Deutscher Geschichtskalender 1895. II.

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Parteigenossen! Durch die in vorstehendem Aktenstück ausgesprochne Maßnahme sind die Unterzeichneten behindert, die Geschäfte der Partei weiter zu führen. Wir haben deshalb mit dem heutigen Tage unsre Funktionen als Parteivorstand vorläufig eingestellt und sehen dem weitern Verlauf der gegen uns und in uns gegen die Gesamtpartei inszenirten Aktion ruhig entgegen. Wir werden vor dem ordentlichen Richter, vor dem dieser Polizeiakt seinen Abschluß finden muß, den Nachweis erbringen, daß weder in der leßten Zeit, noch innerhalb der fünf Jahre, seit denen wir bereits die Ehre hatten, als Vorstand die Geschäfte der Partei zu führen, unsrerseits etwas geschehen ist, wodurch das polizeiliche Vorgehen geseßlich gerechtfertigt werden könnte. Für die Partei selbst, wie für den weitern siegreichen Fortschritt unsrer gerechten Sache ist diese Maßregel so gleichgiltig, wie die gleichen Maßregeln gegen die sozialdemokratischen Organisationen in den Jahren 1873 und 1875 gleichgiltig gewesen sind. Unsre Partei wird bestehen, kämpfen und siegen mit oder ohne offizielle Organisation! Indem wir hiermit unsre Thätigkeit als Parteivorstand vorläufig einstellen, geht selbstverständlich die Leitung der Partei bis auf weiteres auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, als die erwählte Vertretung der Partei über.

Berlin, 30. November 1895.

J. Auer. August Bebel. Albin Gerisch. Wilh. Pfannkuch. Paul Singer.

Hinsichtlich der Schließung der Vereine bemerkt der „Vorwärts“: Ueber die Berechtigung dieser Maßregel uns hier weiter auszulassen, fehlt uns die Neigung.

Die §§ 8 und 16 des Vereinsgefeßes, nach denen das „Inverbindungtreten" politischer Vereine untersagt ist, find als politische Zwangsmaßregel so überlebt, daß sogar die nationalliberalen Heißsporne bei ihrem Geschrei nach strengern Maßnahmen auf dem Gebiete des Vereinswesen zugeben, das Verbindungsverbot sei als vollständig unhaltbar fallen zu lassen. Vorläufig aber rufen wir unsern Genossen zu: seid auf dem Posten und behaltet ruhig Blut! Lasse sich niemand provoziren, und sehe sich jeder seine Umgebung genau an!

3. Dezember. Der Abgeordnete Liebknecht spricht in einer Versammlung in Berlin über die Verfolgung der Sozialdemokratie und den dolus eventualis. Er sagt u. a.:

Der Gedanke an den Absolutismus dringt immer mehr in gewisse Kreise ein. Von dem Umsturzgefeß ist man zurückgekommen, da unsre Geseße ja dehnbar wie Gummi sind, wie ich am eignen Leibe erfahren mußte. Denn die Motivirung der Urteile, die ich erfahren, hätte nach dem Umsturzgeset nicht anders sein können. Deshalb war das Sozialistengesez auch nur Komödie. Das Gesez soll streng gehandhabt werden, aber auch gerecht. In Deutschland ist es leider soweit gekommen, daß sich die Gerechtigkeit nicht

mehr mit dem Staate verträgt. In Deutschland sind die Verfolgungen fast epidemisch geworden. Deutschland steht bezüglich der Gerechtigkeit jegt auf ähnlicher Stufe mit Rußland und der Türkei. Nach dem dolus eventualis brauche ich gar keine Beleidigung begangen zu haben. Es genügt, daß irgend ein Zuhörer annimmt, ich hätte einen bösen Gedanken gehabt. In England kennt man keine Majestätsbeleidigung, und gerade dort steht die Monarchie am festesten. Unsre Organisation war streng nach dem Geseze geformt, und doch wurde sie aufgelöst, während andre Organisationen, die gegen das Vereinsgeseß verstoßen, bestehen bleiben. Was hier Recht heißt, heißt dort Unrecht. Das ist die Anarchie des Rechts in Deutschland.

Siebenter Abschnitt.

Der Reichskanzler und preußische Minister.

20. Juli. Der Reichskanzler Fürst zu Hohenlohe Schillingsfürst stattet dem Kaiser von Desterreich in Ischl einen Besuch ab.

22. Juli. Zusammenkunft des Fürsten Hohenlohe mit dem österreichisch-ungarischen Minister des Aeußern, Grafen Goluchowski, in Ischl.

11. September. Der Reichskanzler wird in Peterhof vom Zaren Nikolaus II. empfangen. Hiernach hat er eine Zusammenkunft mit dem russischen Minister des Aeußern, Fürsten LobanowRostowski.

10. Oktober. Der „Reichs- und Staats-Anzeiger" veröffentlicht in seinem amtlichen Teile Folgendes: Unter Bezugnahme auf einen Ende Juni d. J. in der Zeitschrift „Die Zukunft“ ent= haltnen Angriff auf den Vizepräsidenten des Staatsministeriums, Staatsminister von Boetticher, hat neuerdings die „Deutsche Tageszeitung" wiederholt Klage darüber geführt, daß leitende Kreise der Korruption verdächtigt würden, und daß der Boden für Gerüchte schlimmer Art dadurch vorbereitet sei, daß sich höchste Staatsbeamte öffentliche Vorwürfe gegen ihre Lauterkeit und Rechtlichkeit ruhig hätten gefallen lassen. Auf Veranlassung des Staatsministers von Boetticher sind die thatsächlichen Vorgänge, die zu den gegen ihn gerichteten Angriffen Anlaß gegeben haben können, schon früher amtlich festgestellt worden. Diese Thatsachen sind seiner Zeit ihrem vollen Umfange nach durch den Staatsminister von Boetticher selbst zur Allerhöchsten Kenntnis Seiner Majestät des Kaisers und Königs gebracht. Auch sind die Schritte, die gegen diese verleumderischen

Gerüchte etwa zu thun seien, wiederholt im Schoße des Staatsministeriums erwogen worden. Das Ergebnis dieser Erwägungen war, daß es im vorliegenden Falle der Würde eines Staatsministers nicht entspreche, gegen solche versteckten Verdächtigungen im Wege der gerichtlichen Klage vorzugehen. Mit ganz vereinzelten Ausnahmen hat auch die gesamte Presse aller Parteien jene Angriffe teils mit Stillschweigen übergangen, teils mit Verachtung zurückgewiesen. Nachdem gleichwohl jezt der Versuch gemacht ist, auf dieselben zurückzukommen, erscheint es an der Zeit, diesem Treiben dadurch ein Ende zu machen, daß die amtlich festgestellte Grundlosigkeit der erhobnen Vorwürfe öffentlich vom Staatsministerium bezeugt wird.

In der Zukunft" vom 29. Juni d. J. war gesagt worden:

Wenn es wahr ist, wie sehr glaubwürdige Zeugen versichern, daß der Staatssekretär in einer Zeit, wo über den Bankverkehr bedeutsame Entschei dungen zu treffen waren, von Großbankiers Summen entliehen hat, die er nach menschlicher Voraussicht niemals zurückzahlen konnte, dann müßte sein Verbleiben im Amt von allen bedauert werden, die zwischen Politik und Sittlichkeit nicht eine trennende Schranke errichten möchten.

Im Jahre 1886 kam es zur amtlichen Kenntnis des damaligen Präsidenten der Reichsbank, daß ein dem Staatssekretär des Innern durch Familienbande nahestehender Bankdirektor an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs gelangt war. Auf die Mitteilung davon lehnte der Staatssekretär unverzüglich jede Intervention zu Gunsten des Bankdirektors ab. Indessen gelang es andern Verwandten des leztern mit Hilfe einiger Freunde, seine Schuldenlaft zu decken. Zu diesem Zweck hat auch der Staatsminister v. Boetticher sein gejamtes eignes Vermögen hergegeben. Von dem Sachverhalt hat damals der Staatssekretär des Innern dem ihm vorgeseßten Reichskanzler Mitteilung gemacht, der demnächst die Erstattung der von jenen Freunden hergegebnen Summen herbeigeführt hat.

Es ist amtlich festgestellt,

1. daß die geschilderten Verhandlungen zu einer Zeit stattfanden, in der von beabsichtigten Reformen des Bankwesens überhaupt noch nicht die Rede war;

2. daß der Staatsminister v. Boetticher niemals von Bankiers Geld entliehen hat;

3. daß der Staatsminister v. Boetticher keinerlei Zuwendungen, auch nicht den Ersaß des von ihm hergegebnen eignen Vermögens empfangen hat.

Das Königliche Staatsministerium.

Fürst zu Hohenlohe. Freiherr v. Berlepsch. Miquel. Thielen. Bosse. v. Köller. Freiherr v. Marschall. Freiherr v. Hammerstein. Schönstedt.

An diese Bekanntgebung schließen sich mehrere Wochen lang fast täglich lange Erörterungen in vielen politischen Tagesblättern. 14. Oktober. Insbesondre wird in den Hamburger Nachrichten Anlaß genommen zu folgender Auslassung:

Daß der Staatsminister v. Boetticher immer schon andre Ansichten als Fürst Bismarck in den Arbeiterfragen gehabt hat, ist ohne Zweifel richtig; er war aber nicht in der Berechtigung, cine andre Ansicht als die des Reichskanzlers zu vertreten, am allerwenigsten hinter dessen Rücken, denn er war als Staatssekretär des Innern der direkte Untergebne des Reichsfanzlers und hatte also die Verpflichtung, mit diesem zu gehen oder auszuscheiden. Zum Mitgliede des preußischen Staatsministeriums aber war er als Nachfolger Delbrücks und Hofmanns lediglich ernannt, um dort die Ansichten des Reichskanzlers zu vertreten, wenn derselbe persönlich nicht dazu imstande war. Auch beim Kaiser hatte v. Boetticher nicht die Berechtigung, andre Auffassungen als die seines Vorgeseßten zu unterstüßen. Sowohl beim Kaiser wie im Parlament war er verpflichtet, der Sonntagsruhe und den Eingriffen in die Familie durch Verbot resp. Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit zu widersprechen. Beides hat er unterlassen, und wir glauben, daß die Meinungsverschiedenheiten, die zum Ausscheiden des ersten Reichskanzlers führten, im Kabinett, besonders aber bei Immediatvorträgen sich der besondern Befürwortung durch v. Boetticher erfreut haben.

Jm Berliner „Lokal-Anzeiger" wird eine unwidersprochen ge= bliebne Unterredung veröffentlicht, die jemand vor einem Jahre mit dem Minister v. Boetticher gehabt habe. Darnach soll dieser gesagt haben:

Ich bin lange genug an dieser Stelle. Vierzehn Jahre bin ich hier thätig gewesen, und in diesen vierzehn Jahren hat es manche schwere und stürmische Zeit gegeben. Die schwerste Zeit meines Lebens war die, als Fürst Bismard aus dem Amte schied. Man hat mir vorgeworfen, daß ich an dieser Verabschiedung die Schuld trüge. Sehr zu Unrecht, schon weil ein andrer als ich dazu gehörte, um einen Bismard zu stürzen. Zu meinem_tiefsten Bedauern hat Fürst Bismarck selbst, ich weiß nicht, wodurch veranlaßt, die Meinung gefaßt und troß aller meiner Bemühungen daran festgehalten, daß ich an der Herbeiführung eines Abschlusses seiner amtlichen Thätigkeit beteiligt gewesen sei. In häufiger Wiederholung bin ich schon vor Jahren bei dem Fürsten Bismarck vorstellig geworden, er solle doch dem Andrängen des Reichstags nach Erweiterung des Arbeiterschußes nachgeben, sei es durch ein umfaffenderes Verbot der Frauen-, Kinder- und Nachtarbeit, sei es durch Ausdehnung der Sonntagsruhe. Der Fürst war dafür nicht zu haben. Er blieb unerschütterlich bei seiner Meinung, soviel ich ihm auch zuredete, ganz im Gegensaß zu der wohlwollenden Nachgiebigteit, die er mir gegenüber früher in zahlreichen Fällen an den Tag gelegt. Ich kam ganz ausgezeichnet mit ihm aus, beffer als einer meiner Vorgänger, Delbrück und Hofmann und als die Staatssekretäre im Auswärtigen Amt, mit denen er sich auch nicht immer recht vertrug. Mehr als einmal ist es vorgekommen, daß ich im Reichstage unvorbereitet zu ciner eben aufgeworfnen Frage Stellung nehmen mußte, ohne daß ich mich vorher über die Absichten des Fürsten Bismarck vergewissern konnte. Ich sprach dann so, wie ich vermutete, daß es den Ansichten des Fürsten gemäß sei. Fragte ich ihn nach beendeter Reichstagssigung, wie er über die Sache denke, so zeigte es sich mehrfach, daß ich eine ganz andre Auffassung vertreten hatte; immer aber

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