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ZWEITER THEIL.

Innere Rechtsgeschichte.

EINLEITUNG.

§. 1.

Der ursprüngliche deutsche Rechtsbegriff im Allgemeinen. Die Freiheit.

I. Bei einem jedem Volk steht der Begriff des Rechtes mit der Vorstellung, welche es sich von der politischen und individuellen Freiheit gebildet hat, in der engsten Verbindung. Das Recht ist nämlich seiner äussern Erscheinung nach die Form, in welcher die Idee der Freiheit praktisch wirkend hervortritt, und bei dieser engen Beziehung beider Begriffe zu einander kann es nicht fehlen, dass dieselben nicht auch mehrfach in der volksmässigen Anschauung als gleichbedeutend erfasst werden. Besonders deutlich tritt dies in subjectiver Beziehung, d. h. bei der Auffassung des Rechtes als Befugniss hervor, in welcher Hinsicht sogar die Rechtsphilosophie sich nicht erwehren kann, die Einheit von Recht und Freiheit im Wesen anzuerkennen: aber selbst in objectiver Beziehung, d. h. bei der Auffassung des Rechtes als Regel oder Gesetz, zeigt sich bei den deutschen Völkern eine theilweise Gleichstellung beider Begriffe, sowie man z. B. noch heut zu Tage unter städtischen oder ständischen Freiheiten nicht bloss Befugnisse, sondern auch die Rechtsquellen, d. h. die Statute oder Privilegien (sog. Freibriefe) selbst versteht, auf welche sich jene Befugnisse gründen.

II. Da der Rechtsbegriff, wie eben angedeutet wurde, einer zweifachen Auffassung, als Befugniss, d. h. als Freiheit, und als Gesetz, d. h. als Regel (im weitesten Sinn), fähig ist, so pflegt er sich bei den Nationen bald mehr in der einen, bald mehr in der andern Richtung, d. h. bald vorherrschend subjectiv, bald vorherrschend objectiv auszubilden. Im ersteren Fall erscheint sodann das Recht der Nation als Inbegriff von Befugnissen oder Freiheiten der Einzelnen oder einzelner Stände: im andern Fall geht der Rechtsbegriff in den Gegensatz hiervon, in den Begriff von Zoepfl, deutsche Rechtsgesch. II. 4te Aufl.

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Unterwürfigkeit und Zwang über, und demgemäss erscheint sodann das Recht der Nation als ein Inbegriff von Normen oder Gesetzen.

III. Die verschiedenartige Auffassung des Rechtsbegriffes nach den angegebenen beiden Richtungen ist es nun zunächst, welche von Haus aus das römische und das ältere deutsche Recht in ihren Grundlagen scheidet. Sowie nämlich in dem römischen Recht, wenigstens nach dem Inhalt der Quellen desselben, welche uns dasselbe auf jenen Stufen seiner Entwickelung zeigen, auf welchen es bereits in sich charakteristisch durchgebildet und sein Ideenkreis fest ausgeprägt war, der objective oder Gesetzesbegriff vorherrschend ausgebildet ist, so überwiegt in dem alten reinen deutschen Recht der subjective oder Freiheitsbegriff und zwar in der Art, dass ursprünglich hier der objective Rechtsbegriff (der Gesetzesbegriff) fast gänzlich und jedenfalls in einer solchen Weise fehlte, wie dies im römischen Recht, in welchem dieser letztere Begriff voranstand, hinsichtlich des subjectiven Rechtsbegriffes niemals der Fall gewesen ist, wenn dieser gleichwohl dort nur als eine Folgerung aus dem Gesetzesbegriffe erschien.

IV. Eine solche Einseitigkeit der Auffassung des Rechtsbegriffes, wie sie im alten deutschen Recht liegt, musste aber, wenn sie auch ursprünglich noch so sehr in den Lebensverhältnissen des Volkes und in dessen Charaktereigenthümlichkeit begründet war, dennoch den Keim ihrer eigenen Ueberwindung in sich tragen, wenn auch fast zwei Jahrtausende und die Umwandlung aller socialen und politischen Verhältnisse erforderlich waren, bevor die Nation aus dieser angebornen Einseitigkeit völlig herauszutreten vermochte.

V. Die Umbildung des nationalen Rechtsbewusstseins, das allmählige Zurücktreten des subjectiven Rechtsbegriffes und dagegen die allmählige Aufnahme des Gesetzesbegriffes in das Bewusstsein, das Verlangen und Streben der deutschen Völker, sowie der endliche Sieg des objectiven Rechtsbegriffes über den subjectiven, welcher jetzt in dem Rechtszustande aller modernen civilisirten Nationen entschieden ist, bilden daher den Kern der inneren Geschichte des deutschen Rechtes, und enthalten zugleich den Schlüssel zum Verständniss der Bewegungen und Forderungen der Gegenwart im Gebiet der nationalen Rechtsverfassung.

§. 2.

Das Recht, die Billigkeit.

I. Der Begriff der Freiheit als Grundlage des Rechtsbegriffes (§. 1) scheint ursprünglich in Deutschland als Willkühr, d. h. als ein subjectives Belieben des Einzelnen, aufgefasst worden zu sein, welches zu nächst nur durch das Mass seiner Kraft begrenzt ist, so dass also der Freie nur in seinem eigenen Willen und Worte einen Grund seiner Verpflichtung anerkannte, und in seiner eigenen Ansicht ein genügendes

Urtheil über Recht und Unrecht, und demgemäss auch die Richtschnur seiner Handlungsweise fand. Das älteste Recht der germanischen Völker musste daher als eine Art von Recht des Stärkeren erscheinen, und dieser ursprüngliche Charakter hat sich auch von den ältesten Zeiten an, in welche unsere Quellen hinaufreichen, bis in das XVI. Jahrhundert erhalten, in welchem erst es mit Mühe den Kaisern und den Fürsten gelang, die letzten Spuren desselben, welche sich bis dahin unter dem Namen von Faustrecht und Fehderecht erhalten hatten, zu unterdrücken 1).

II. Mit einer solchen Ansicht von der Freiheit des Einzelnen war das Dasein von Gesetzen unverträglich, und daher fehlte auch bei den deutschen Völkern der eigentliche Gesetzesbegriff ursprünglich vollständig. Doch konnte der Begriff verbindlicher Normen wohl nicht lange gänzlich mangeln, und schon das Bestehen von kleinen Landesgemeinden oder Stammesverbindungen musste an der Stelle und bei dem Mangel eines geschriebenen Rechtes dahin führen, dass sich allmählig doch einige Grundsätze als ungeschriebenes Recht oder Herkommen erzeugten, sowie man auch dem vertragsmässig (durch Willkühr) festgestellten sogenannten statutarischen Recht als Ausfluss der Autonomie der Einzelnen selbst um so grössere Bedeutung und Heiligkeit beilegen musste, je unabhängiger die Stellung des Einzelnen von einer äusseren Autori

tät war.

III. In dem Rechte, welches sich durch Herkommen in den einzelnen Landesgemeinden oder Stammesgenossenschaften bildete, kann man demnach die erste Spur des Hereintretens des objectiven Rechtsbegriffes in das Rechtsleben erkennen: allein auch dieses Recht wurzelt doch noch hauptsächlich in dem subjectiven Rechtsbegriff, insofern es nicht minder wie das vertragsmässige oder gewillkührte Recht als Ausfluss der Autonomie der Mitglieder eines gewissen Kreises erscheint. Ueberdies trägt auch das durch Herkommen erzeugte Recht noch zum Theil den Charakter eines Rechtes des Stärkeren an sich, nämlich insofern es von der Gemeinde oder Genossenschaft gegen den Widerspruch der Einzelnen, die bei seiner Bildung nicht mitwirkten, behauptet und gehandhabt wird 2): und doch liegt eben hierin der erste Anfang der Gesittung, d. h. der erste Schritt zur Verwirklichung der Herrschaft des allgemeinen Geistes über die individuellen Interessen.

1) Schon Caesar, Bell. Gall. VI. 23 berichtet: ,,Latrocinia nullam habent infamiam quae extra fines cujusque civitatis fiunt!" Ebenso war das ,,depraedare" des Gegners, welcher sich zu Recht zu stellen weigert, gesetzlich als erlaubte Selbsthülfe anerkannt. II. Feud. 22. §. 1; Schwabensp. Ldr. (Lassb.) c. 307, b. (Siehe den Abdruck dieser Stellen oben Bd. I. §. 29 Note 11). Auch der gerichtliche Zweikampf hing zum Theil mit dieser Auffassung des Rechtsbegriffes zusammen, sowie die Neigung zum Duell bei den germanischen Völkern noch als ein Ausfluss hiervon erscheint.

2) Hierdurch zeigt sich auch, wie irrig es ist, wenn man das Herkommen als einen stillschweigenden Vertrag erklärt.

IV. Auch die Etymologie des Wortes Recht weist auf das Vorherrschen des Begriffes der Befugniss im deutschen volksmässigen Rechtsbewusstsein hin. Grammatisch verwandt mit rächen und richten, enthält es den Begriff von Vergelten vorgängiger Verletzungen oder Beleidigungen "), zugleich mit dem Begriff von Ausgleichen oder Wiederherstellen des gestörten Rechtszustandes.

V. Neben dem Worte Recht findet sich in der deutschen Sprache auch das Wort Billigkeit. Es bezeichnet aber letzteres Wort wenigstens im Mittelalter keinen solchen Gegensatz, wie Aequitas im Verhältnisse von Jus im römischen Rechte, welcher Gegensatz bei der Verschiedenheit der deutschen Rechtsbildung von der römischen in gleicher Weise gar nicht möglich war. Vielmehr bezeichnet Billigkeit ursprünglich das den Statuten (den Willkühren) gemässe Recht, im Gegensatz des Herkommens, welches vorzugsweise unter der Bezeichnung ,,Recht" begriffen wird); erst seit der Reception des römischen Rechtes hat man sich gewöhnt, das Wort Billigkeit in dem römischen Sinn von Aequitas zu gebrauchen.

VI. Als eine weitere Folge aus dem Vorherrschen des Freiheitsbegriffes im deutschen Recht darf es auch betrachtet werden, dass die ursprünglichen Bezeichnungen des Gerichtes und des gerichtlichen Verfahrens, wie Thing, thing are u. dgl. 5), nur darauf hindeuten, dass man in demselben ein Institut zum friedlichen und freundlichen Ausgleichen und gleichsam vertragsmässigen Auseinandersetzen oder Austragen der Streithändel sah, insofern die Parteien eine solche Erledigung ihrer Sache wünschten. Es fehlt aber in diesen Bezeichnungen an aller Hindeutung auf einen den Gerichten zukommenden Charakter einer nothwendig anzugehenden Autorität, so dass es scheint, dass ihnen ein solcher Charakter erst allmählig nach dem Hereintreten der eigentlichen Staatsidee beigelegt worden ist.

VII. Ursprünglich mochte wohl der subjective Rechtsbegriff so starken Einfluss gehabt haben, dass man Niemanden zur Anerkennung einer gewillkührten, d. h. statutarisch festgesetzten Norm für verpflichtet hielt, bei deren Errichtung er nicht mitgewirkt hatte 6). Allein diese Wirkung des Freiheitsbegriffes wurde schon von der merowingischen Zeit an auf einen immer mehr sich verengenden Kreis beschränkt, und

3) Rache und Recht unterscheiden sich nur durch die Maasslosigkeit und Gemessenheit der Wiedervergeltung.

4) Vergl. was oben Bd. I. §. 1 Note 4 über Bellago gesagt ist. Noch ist in England die Bezeichnung Bill für Gesetzvorschläge und Gesetze im Gebrauch. Anders erklärt das Verhältniss von Recht und Billigkeit v. Wächter, Würtemb. Priv.-R. II. §. 14. Er findet in letzterem nur den Ausdruck für das, was dem Rechte nach den Verhältnissen des einzelnen Falles gemäss ist.

5) Vergl. oben Bd. I. §. 1 Note 11-16.

6) So z. B. war selbst bei der Kaiserwahl lange Zeit der Grundsatz, dass die Mehrzahl entscheide, nicht reichsgrundgesetzlich anerkannt.

was somit früher ein gemeines Recht sein mochte, wurde allmählig das Vorrecht gewisser privilegirter Stände 7) und findet sich in der letzten Zeit nur noch als ein Recht der souverainen deutschen Fürsten in Bezug auf gewisse besonders bestimmte Gegenstände anerkannt 8).

§. 3.

Eigenthümlichkeit des deutschen Rechtes.

I. Das deutsche Recht zeichnet sich, soviel seinen Inhalt anbetrifft, eigenthümlich dadurch aus, dass in ihm das öffentliche und das Privatrecht in grosser Wechselwirkung stehen und daher häufig die Institute des Privatrechtes einen politischen und umgekehrt die Institute des öffentlichen Rechtes einen privatrechtlichen Charakter an sich tragen 1). Diese Erscheinung erklärt sich daraus, dass sich das deutsche Rechtsund Staatsleben nur allmählig aus einfachen familien- und stammesgenossenschaftlichen Zuständen entwickelt hat, und dass in Folge hiervon wenigstens ursprünglich das öffentliche und das Privatrecht auf denselben Grundbegriffen beruhten.

II. Hinsichtlich seiner Form liegt die Eigenthümlichkeit des deutschen Rechtes in der grossen Bedeutung, welche der naturwüchsige und unvertilgbare Particularismus der deutschen Völker sowohl in den vergangenen, als in den gegenwärtigen Zeiten bezüglich der Rechtsbildung behauptet 2).

§. 4.

Die Grundbegriffe des deutschen Rechtes.

I. Zufolge der bei den germanischen Völkern vorherrschenden subjectiven Auffassung des Rechtsbegriffes trat nothwendig der Begriff der Freiheit als oberster oder Grundbegriff an die Spitze des Rechtssystems. Mit dem Begriff der Freiheit erscheint aber als dessen immanenter Gegensatz zugleich gegeben der Begriff der Unfreiheit. In den Abstufungen, deren diese beiden Begriffe in sich selbst fähig sind, d. h. einerseits in der Rechtserweiterung, welche bis zur Souverainetät steigen, und anderseits in der Rechts verminderung, welche bis zur Rechtsvernichtung herabsinken kann, bewegt sich sodann das gesammte deutsche Rechtsleben.

7) Hierher gehört z. B. noch die Parömie hinsichtlich der landständischen Steuerbewilligung: „Wo wir nicht mit rathen, da wir auch nicht mit thaten." 8) Deut. Bundes-Acte v. 1815, Art. 7. Verf. d. deut. Reiches, 16. April 1871, §. 78 a linea 2.

1) So z. B. spielt die Investitur sowohl im Privat-, als öffentlichen Recht, das Kirchenrecht mit einbegriffen, eine höchst wichtige Rolle; unverkennbar ist auch der Einfluss politischer Rücksichten auf Erwerb und Vererbung des Grundeigenthums, auf das Recht der Stände u. s. w.

2) Vergl. oben Bd. I. §. 3.

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