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Biebe zum Regenten und Vaterland lobert. Sie ver irrten sich so weit, zu glauben, nur ein solcher Geist, der alle Fesseln der Lebensverhältnisse abgestreift habe, auf den kein moralischer oder gesellschaftlicher Impuls mehr zu wirken vermöge, der mit dem menschlichen Geschlechte keine Freuden mehr zu theilen, keine Leiden zu ertragen, keine Hoffnungen zu nähren hätte,

ein personifizirter Verstand, deffen Scharfblick nie durch menschliche Neigungen geblendet oder verleitet, dessen alle Tiefen der Ereignisse und deren Ursachen und Folgen durchdringendes Urtheil durch keine Theilnahme bestochen würde, könne Geschichte ganz wahr und treu darstellen. Nur ein von einem solchen Verfasser herrührendes historisches Werk verdiene vollen Glaus ben. Dieß sind die Behauptungen der Pyrrhonis ften und Skeptiker, welche, in der überzeu gung, daß es noch nie einen solchen aller menschlichen Affekte entkleideten Geschichtschreiber gab, und daß nur felten ganz vollständige und sichere Quels len sich vorfanden, an der Wahrheit aller Ge. schichte zweifeln.

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Mündliche Überlieferungen sind freilich auf ihrer Wanderung durch Generazionen vielfach ents stellt worden. Vielleicht waren auch schon die Augen, zeugen unwissend, leichtgläubig, parteiisch, durch Leidenschaft und Vorurtheil befangen, durch Vorliebe gewonnen, durch Furcht eingeschüchtert. Sie wurden vielleicht in den eigenen Wahrnehmungen durch ihre Sinne betrogen, oder von ihrem Urtheil getäuscht. Vielleicht haben sie vorfäßlich entstellte Berichte über das Geschehene und Gesehene erstattet. Oder sie ent= behrten jenen Scharfblick, welcher den Beobachter rich

tig sehen lehrt, - den klaren Verstand, der den Zus sammenhang richtig auffaßt, — jene helle Urtheilskraft, welche die Thatsachen zu ordnen, — die Gabe der Sprache und die Kunst des Vortrages, welche dieselben in vollständiger und leichter Darstellung zu erzählen vermö gen. Die Gründe der menschlichen Handlungen liegen oft so tief verborgen, daß die Augenzeugen und Gleichzeitigen sie nicht erkennen. Dem Geschichts for scher späterer Zeiten kommen oft nur unvollständige Quellen, dunkle oder entstellte überlieferungen, wi dersprechende Angaben über Zeiten, Orte und Personen, irrige Erklärungen von Steinschriften, Münzen und anderen Denkmalen zu. Wegen Undeutlichkeit alter Manuskripte und deren verschiedenen Lesearten schwankt er oft in seinen Meinungen. Dennoch soll er sich in die Lage der historischen Personen versehen, ihren Geist begreifen, ihre Handlungen beurtheilen können, um eine in den Ursachen und Wirkungen völlig begründete Geschichte zustandezubringen. Versteht aber der Geschichtschreiber die Eigenthümlichkeiten, den Geist und das Herz seiner Helden nicht, so kann er auch nur eine chronologische Skizze ihrer sichtbaren Thaten zus sammenstellen. In das Innere ihrer Zeitgeschichte vermag er nicht, einzudringen. Versucht es ein beschränkter Kopf, die Lücken durch Muthmaffungen auszufüllen, so wird er, wenn auch unfreiwillig, treu überlieferte Thatsachen durch seine Zusäße entstellen. Bleiben dann auch einzelne hervorspringende Züge der Wirklichkeit ähnlich, so wird doch die Wahrheit seines historischen Gemäldes im Ganzen vielfach beeinträchtigt.

Es gab auch zu allen Zeiten Schriftsteller, welche durch überlegten historischen Betrug ihre Zeits

genossen, oder doch die Nachwelt, täuschten. Diese suchten, durch unrichtige, oder doch einseitige Schilderung der Ereignisse, durch Verfälschung von Urkunden, Zeitangaben, Citaten, u. s. w., ihre Leser zu irrigen Meinungen und Urtheilen über Begebenheiten, Personen und Zeiten zu verleiten, und gewisse politische, moralische, religiöse, oder wissenschaftliche Lehren durch entstellte Beispiele zu beweisen oder zu entkräften. Durch alle diese Verhältnisse wurde die Ungewißheit in der Geschichte herbeigeführt. Leser, welche solche Autoren an Geist und kritischem Scharfblick übertrafen, und deren Irrthümer, oder wohl gar betrügerische Absich= ten, durchschauten, wurden im Glauben an alle Ge schichte erschüttert.

Die so nöthige, genauere Prüfung eines histo rischen Werkes ist mit bedeutenden Schwierigkeiten verbunden. Um zu unterscheiden, welche Bestandtheile des selben aus unverfälschten Überlieferungen und echten Originalquellen herstammen, welche zu den eigen= mächtigen, unbegründeten Zufäßen und gewagten Annahmen eines befangenen, kurzsichtigen, leidenschaftli chen oder parteiischen Darstellers gehören, müßte der Leser auf jene Quellen selbst zurückgehen, und mit einem Aufwande von Zeit und Mühe, welchen die Verhältnisse nur selten gestatten, das Geschichtswerk in seine Bestandtheile auflösen ; - das heißt: er müßte es zerstören, um aus den Trümmern die historische Wahrheit herauszufinden. Eine genaue Bekanntschaft mit der Person des Historikers würde dem kritischen Les fer gestatten, zu erforschen, ob derselbe die Wahrheit jagen konnte, und ob er sie sagen wollte. So dann müßten die Forschungen sich über die gebrauchten

Quellen, und endlich über die bei der Ausarbeitung angewendete historische Kunst ausdehnen.

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Von den vielen Fragen über die Person des Historikers, welche der kritische Leser aufwerfen kann, lassen wir hier die wichtigsten folgen: Wel chem Volke gehörte der Geschichtschreiber an? In welchem Lande wurde er geboren? Welche waren die Lebensverhältnisse und politischen Gesinnungen seiner nächsten Angehörigen ? 3u was für einer Bestimmung wurde er erzogen? Welche Lehrer leiteten feine wissenschaftliche Ausbildung? Welche bedeutende Ereignisse trafen in jener Zeit sein Heimatland? Welche Richtung nahm das Gemüth des Jünglings? Wurde er durch angeborene Leidenschaften, durch den Einfluß seiner Verwandten, Lehrer, Jugendgefährten, oder durch die eigenen Schicksale, zu parteiischen Urs theilen vorausgestimmt? Besaß er besondere Anlas gen zu historischen Studien, scharfe Urtheilskraft, star= kes Gedächtniß? Wurden die Früchte der gelehrten Erziehung durch Welterfahrung gereift? Welche Bahn des Wirkens hat er selbst ergriffen? In welche wurde er durch das Schicksal verseßt? Ward er ein Stubengelehrter, Kaufmann, Geistlicher, Justizmann, Soldat, Anführer? Haben politisee Neigungen, er= littenes Unrecht, oder genoffenes Glück seine Unbefangenheit gestört? hat sein eigenes Wirken ihn einer Partei in die Arme geworfen, oder ihn gegen eine andere in feindliche Stellung gebracht? War er um Lohn einer Partei verkauft? War er ihr verpflichteter Diener? War er den Begebenheiten, die er ge= schildert, gleichzeitig, Mitwirker, Leiter, Urheber? Oder lebte er lange nach den Ereig

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Augenzeuge,

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nissen, in weiter Ferne von deren Schauplage, dessen Topographie er auch später nicht durch Augenschein studieret? Hat seine religiöse Meinung, haben selbst feine Tugenden, so z. B. die höchsten von Allen: die Vaterlandsliebe, die treue Anhänglichkeit an seinen Fürs sten, seine Unparteilichkeit beeinträchtiget? - Schrieb er in der Blüthezeit feuriger Jugend, oder in der Periode der thatendurftigen männlichen Kraft, — oder im Greisenalter, mit gebeugtem Geiste, nach erloschenen Leidenschaften, die Wahrheit entstellend, weil das getrübte Auge sie nicht mehr deutlich zu erkennen vermochte?—

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Um zu beweisen, wie wichtig, wie einflußreich auf das zu prüfende Werk, die meisten dieser Fragen sind, wollen wir nur einige derselben näher betrach= ten. Die Religon ist jenes angeborene Gefühl, welches sich mit der Vernunft in jedem Menschen ent wickelt, und sein Verhältniß zur Gottheit bezeichnet. Diese natürliche Anlage liegt in der Brust jedes Menschen, und wirkt mit verschiedener Kraft, im Verhältniß mit der Kultur seines Volkes, seines Standes, und mit dem Grade seiner eigenen moralischen und geis ftigen Ausbildung. Sie bekömmt durch Sitten und Ers ziehung ihre bestimmte Richtung zu einer der manchers lei Arten von Gottesverehrung. Es haben die An

hänger der verschiedenen Religionsparteien zu allen Zeis ten gegeneinander Vorurtheile gehegt, welche, von Kind heit an genährt, oft durch Staatsverfassung, öffentli= che Anstalten, Studien befördert, die tiefsten Wurzeln in der Brust schlagen, und ihren mächtigen Einfluß auf alle Handlungen und Leistungen des Lebens äußern. Der Geschichtschreiber sollte freilich, durch Pbilosophie und Erfahrung gewarnt, sich den aus dieser Anhänglich

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