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Vorwort.

Diese Arbeit schliefst sich meinen Versuchen über verwandte Gegenstände an, und es spricht sich auch in ihr der Gedanke aus, dafs die grofsen Volkskrankheiten Entwickelungszustände sind, in denen der Geist der Menschheit sich nach allen Seiten hin regt. Davon giebt die ganze Weltgeschichte Zeugnifs. Die Stimmung der Gemüther, die Denkweise ganzer Zeitalter war oft die Folge herrschender Krankheiten; denn nichts ist mächtiger, den Menschen entweder zur Er, gebung und milden Gesinnung zu stimmen, oder in ihm wilde Leidenschaften zu entzünden, als die Nähe einer unausweichlichen, gemeinsamen Gefahr. Oft haben Begeisterung und Fanatismus, Hafs und Rachędurst, welche beengender Todesfurcht entsprangen, die Welt in Feuer und Flammen gesetzt.

Hunger und Krankheiten

unter ihnen die

Feuerpest des heiligen Antonius haben an den Zügen nach Jerusalem keinen geringeren Antheil, als die begeisterten Reden des Kreuzpredigers von Amiens; der schwarze Tod erfüllte die Welt mit Scheiterhaufen, und erweckte die furchtbare Bufse der Geifselbrüder; der morgenländische Aussatz gab dem ganzen Mittelalter eine düstere Stimmung. Mit allen diesen Regungen stehen die grofsen Begebenheiten in der nächsten Verbindung, und gewifs kam es in den wechselnden Gestaltungen des Menschenge→ schlechts von jeher mehr auf die Gesinnung, als auf die rohen Kräfte an, welche die Er eignisse herbeiführten.

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Hier kann also der Geschichtschreiber, der die geistigen Triebfedern aufsucht, der ärztlichen Forschung nicht entbehren, die Thatsachen selbst überzeugen ihn von dem organischen Zusammenhange des Körperlichen mit dem Geistigen in allen menschlichen Dingen, mithin auch von der innern lebendigen Verbindung aller menschlichen Erkenntnifs. Und nun auf dem ärztlichen Standpunkte, welche Fülle von grossartiger Beobachtung bietet die Geschichte der Volkskrankheiten! Die gegenwärtigen Körperlei

den sind in ihrer Gesammtheit nur eine Stufe der Entwickelung, nur cine Phase des kranken Lebens in einer grofsen Reihenfolge von Erscheinungen, und erhalten mithin nur durch Erkenntnifs des Vergangenen, nur durch geschichtliches Forschen ihre volle Bedeutung. Wie will man auch den Ring des Saturn erkennen, so lange man nur den Streifen wahrnimmt? Grofse Krankheiten sind untergegangen, oder haben sich zersplittert; aus Geringfügigem hat sich Bedeutendes entwickelt: überall in diesem Wechsel der Gefahr und Zerstörung offenbaren sich die Wirkungen mächtiger Naturgesetze durch die Lebensstimmungen ganzer Jahrhunderte. Hier ist kein luftiges Reich ver→ gänglicher Vermuthungen, die Thatsachen reden selbst in tausend Erinnerungen. Man durchforsche nur mit unbefangenem Ernste die Vergangenheit, man beachte auch nur die wenigen Untersuchungen, welche bis jetzt in der historischen Pathologie gelungen sind

vielleicht erkennt einiges Wohlwollen auch die meinigen an - und es kann nicht fehlen, man wird hier zu einem Kern der Wirklichkeit gelangen, von dem die Heilkunde zu ihrem grofsen Nachtheile bisher noch immer fern geblieben ist, während sie

zu Zeiten in minder fruchtbarem Erdreich ihre Wurzeln schlug, oder wohl selbst in dem aufgeschütteten Boden starrer Schulsatzungen verkümmerte.

Der Staat, der seine Gesetzgebung auf die Erkenntnifs der Wirklichkeit gründet, der von den Naturwissenschaften Aufklärung über das menschliche Gesammtleben in jeder Beziehung erwartet, fordert von seinen Aerzten mit allem Rechte eine vielseitige Einsicht in das Wesen und die Ursachen der Volkskrankheiten. Eine solche, der Würde einer Wissenschaft entsprechende Einsicht kann aber nicht aus der Beobachtung vereinzelter Volkskrankheiten gewonnen werden, weil die Natur in ihnen niemals alle ihre Seiten entfaltet, und von den Gesetzen des allgemeinen Erkrankens immer nur wenige in Wirksamkeit treten läfst. Es genügt nicht einmal ein Menschenalter, wäre es auch noch so reich an grofsen Erfahrungen, um eine dieses Namens werthe Lehre von den Volkskrankheiten im Kreise erlebter Erscheinungen zu begründen: die Erfahrung aller Jahrhunderte ist hier die Quelle, aus der geschöpft werden muss, und die ärztliche Forschung der einzige Weg, der zu dieser Quelle führt, will man nicht neuen

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