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Zufälle.

3. Das Röttinger Schweifsfieber. Wir kommen jetzt zu einer Erscheinung, die ungeachtet ihrer kurzen Dauer und ihrer engen räumlichen Gränzen zu den denkwürdigsten dieses Jahrhunderts gehört. Sie ist bis jetzt, weil die Nebel stolzer Unwissenheit den Ueberblick über die Gestaltung der Krankheiten in grofsen Zeiträumen hinderten, in ihrer wahren Bedeutung noch nicht erkannt worden, und schon nach einem Menschenalter bis auf den Meeresgrund der Vergessenheit versunken, von dem wir sie jetzt an das Tageslicht ziehen wollen.

Auf einen heifsen und sehr trockenen Sommer folgte im November 1802 anhaltender Regen. Dicke Nebel überzogen die Landschaften, und umlagerten in Mitteldeutschland die dem Luftzuge unzugänglichen Orte. Unter ihnen auch das von Bergen rings umschlossene fränkische Städtchen Röttingen an der Tauber ). So waren kaum einige Wochen vergangen, als unvermuthet gegen den 25. November dort eine äusserst mörderische Krankheit entstand, ohne Beispiel in der Erinnerung der Einwohner, und den Aerzten des Landes durchaus unbekannt.

Junge, vollkräftige Männer wurden plötzlich von unsäglicher Bangigkeit ergriffen, das Herz

1) Damals von ungefähr 250 Ackerbürgern bewohnt. Sinner, S. 7.

wallte und klopfte ihnen laut an die Rippen, und sogleich brach über den ganzen Körper ein strömender saurer Schweifs vom übelsten Geruche hervor, während sie einen reifsenden Schmerz im Nacken empfanden, als wollte hier ein heftiges Flufsfieber die sehnigen Gewebe in Anspruch nehmen. Dieser Schmerz verlor sich zuweilen sehr schnell, und zog er sich dann gegen die Brust, so erneute sich das angstvolle Herzklopfen, es folgte krampfhaftes Zittern im ganzen Körper, die Kranken wurden ohnmächtig, und während die Glieder erstarrten, gaben sie ihren Geist auf. Bei den meisten geschah dies alles in vierundzwanzig Stunden, doch unterlagen nicht alle dem ersten Angriffe, sondern nachdem der beschleunigte Puls bis zur äussersten Kleinheit und Schwäche herabgesunken war, und man ein gleiches Verhältnifs in den Athemzügen bemerkt hatte, so kehrte bei einigen der reifsende Schmerz wieder in die äufseren Theile zurück, sie fühlten dann einen dumpfen Druck und Steifheit im Nacken, Puls und Athem wurden wieder wie bei Gesunden, doch rieselte der Schweifs unablässig die Haut herunter.

Diese Sicherheit war indessen äusserst trüglich, denn unvermuthet entstand wieder neues Herzklopfen mit kleinem Pulse, und nun war oft der Tod unvermeidlich. Auffallend war es, dafs die Kranken, wiewohl sie in Schweifs zerflossen, doch nur sehr wenig dursteten, und die Zunge nicht trocken, auch nicht einmal unrein wurde, sondern ihre natürliche Feuchtigkeit behielt. Bei den meisten aber flofs weniger Harn, da die Haut unter zunehmender Entkräftung zu viele Flüssigkeit ausströmen liefs. Verlief die Krankheit ohne erhitzendes Schweifstreiben, so kam gewöhnlich kein Ausschlag

Verlauf. zum Vorschein. Sie währte dann bis zum sechsten Tage, doch entwickelte sie nur am ersten Tage ihre bösartigen Zufälle, denn schon am zweiten minderte sich der Schweifs, und verlor jede übele Beschaffenheit, so dafs nur noch vermehrte Hautausdünstung ohne alle bedenkliche Erscheinungen übrig blieb, und die Kranken mit dem sechsten vollkommen ge

Heifse

nasen.

Wäre also gleich anfangs ein geschichtskunBehandlung. diger Arzt in Röttingen zur Hand gewesen, der das altenglische Verfahren in der Schweifssucht in Anwendung gebracht hätte, so würde sich dieses neue Schweifsfieber nur als eine ganz milde Krankheit gezeigt, und gewifs nur wenige Einwohner des friedlichen Städtchens weggerafft haben. So erneuten sich aber die Auftritte von Lübeck und Zwickau, als wären die unzählbaren Schlachtopfer der heifsen Behandlung und von Kegeler's mörderischem Arzneibuch vergebens ins Grab gestiegen - die Kranken wurden wie im sechzehnten Jahrhundert zu Tode geschmort! Denn kaum glaubte man zu erkennen, wo die Natur hinaus wollte, so wurden die Federbetten über die Schwitzenden hoch aufgethürmt, so dafs nur Mund und Nase noch unbedeckt blieben; man verschlofs Thüren und Fenster, und der Ofen verbreitete glühende Hitze, während ein unerträglicher Schweifsgeruch aus den hohen und breiten Himmelbetten hervorströmte. Dazu lagen oft zwei und mehr Kranke in demselben Zimmer, ja unter demselben Federberg zusammengeschichtet, und damit es nicht an innerer Hitze fehlen möchte, so wurden die Theriakbüchsen fleifsig geleert, und den Kranken unablässig Hollunderlatwerge eingegeben. So tricb man die unreinen Säfte mit dem Schweifse heraus, und die Kran

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ken mochten nun ersticken, oder diese Mifshandlung der Natur wie durch ein Wunder überwinden, genug man war überzeugt, das Heilsamste ergriffen zu haben, und als nun erst bunte Ausschläge hervorbrachen, so war es sicher, das Gift wurde in ihnen abgeschieden. Die Bürger von Röttingen waren also in denselben Wahn verfallen, der von ärztlichen Schulen aufrecht erhalten, die hitzigen Krankheiten, vornehmlich die exanthematischen, von jeher zur Bösartigkeit gesteigert hat.

Die erwähnten Ausschläge waren von verschie- Ausschläge. dener Art: Friesel in allen Formen und Farben, mit scharfer Flüssigkeit gefüllt, wirklicher Blasenausschlag (Pemphigus) und selbst Petechien, wobei zu bemerken ist, dafs die Kranken in den ersten Tagen des Schweifsfiebers niemals das eigenthümliche Prickeln über den ganzen Körper empfanden, das dem Frieselausbruche vorausgeht, sondern nur, und vielleicht nicht einmal immer, über ein örtliches Jucken an den Stellen klagten, wo der Ausschlag hervorbrach. Eben so wenig wurde eine regelmässige Abschuppung über den ganzen Körper beobachtet. Es ist also anzunehmen, dafs die Ausschläge nur symptomatisch, und keinesweges nothwendig mit der Krankheit verbunden waren, wie in den ausgebildeten Frieselfiebern.

Die Krankheit erregte gleich anfangs die gröfste Bestürzung, und als man sie schon in den ersten Tagen mit der schweifstreibenden Behandlung verschlimmerte, so häuften sich die Leichen, das unaufhörliche Läuten der Sterbeglocken erfüllte die Kranken und Gesunden, wie einst in Shrewsbury, mit Todesangst, und das bedrängte Städtchen wurde von den Einwohnern benachbarter Ortschaften wie eine Pesthöhle gemieden. An ärztlicher Hülfe fehlte es in den ersten

Tagen durchaus, bis ein geschickter Arzt aus der Nähe herbeikam 1), und als schon die meisten Einwohner vom Schweifsfieber ergriffen waren, eine zweckmäfsige Behandlung anordnete. Doch sind in einer solchen Verwirrung die Kräfte eines Mannes den tiefgewurzelten Vorurtheilen des Volkes nicht gewachsen, und so fuhr man denn in den meisten Häusern fort, mit Hitze und Theriak Schweifs und Leben der Kranken auszutreiben, bis endlich am 3. December Herr Dr. Sinner von Würzburg, ohne welchen das Andenken an diese merkwürdige Krankheit erloschen sein würde, hinzutrat, und in Verein mit jenem wakkere Kunstgenossen, wie einst der ungenannte Arzt in Zwickau, den verderblichen Volkswahn bekämpfte. Er fand noch vierundachtzig Kranke 2) in hohen Federbetten, die in gereinigter Luft zuerst wieder frei aufathmeten, und bei vorsichtiger Kühlung sein Verfahren erinnert an die altenglische Behandlung · leicht und ohne alle Gefahr bis auf einen genasen 3).

Die Krankheit blieb durchaus nur auf Röttingen beschränkt, nirgends zeigte sie sich aufser den Thoren dieses Städtchens. Am 5. December aber trat helles Frostwetter ein, es erkrankte niemand mehr, und alle Spur des Röttinger Schweifsfiebers, dem auch nicht einmal Friesel an irgend einer

1) Herr Amtsphysikus Dr. Thein, von Aub.

2) Die vollständige Kranken- und Todtenzahl ist nicht angegeben. Herr Dr. Sinner fand kurz vor dem Aufhören der Krankheit noch 9 Leichen, von denen keine geöffnet wurde.

3) Alle Erhitzung wurde vermieden, die Luft vorsichtig gereinigt, kühlendes Getränk gegeben, und gegen die damalige Brownsche Weise kamen nur wenig Arzneimittel in Gebrauch, wie Baldrian, Hirschhorngeist, Hoffmannstropfen u. dgl. Blasenpflaster thaten gute Dienste, und eben so nach Umständen Kampher. Die Genesenden wurden gut genährt.

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