Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

"

zu bedenken, daß sie selber „wie Gras und wie des Grases Blume. Wer aber sehende Augen, hörende Ohren und arbeitende Gehirnnerven besißt, der wird sich nicht erwehren können, früher oder später von des Daseins ganzem Jammer" angefaßt zu werden und in der Bitterfeit seiner Erkenntniß zu fühlen und zu sagen: - Das Resultat der Weltgeschichte heißt Verzweiflung; denn aus einer Art des Irrthums, aus einer Weise des Wahns, aus einer Mode der Thorheit, aus einer Form der Knechtschaft in die andere zu fallen, das ist Menschenbestimmung und Völkergeschick!

Und so hätte denn Mephisto vollauf das Recht, jeder Strophe des Weltgedichts seinen gellenden Vernichtungsjubelrefrain anzuhängen: „Alles, was entsteht, ist werth nur, daß es zu Grunde geht!?" Trauriger Gedanken Raub, dem „Weltgeheimniß in den finstern Schlund zu starren," das wäre der Weisheit legter Schluß? Im besten Falle gedankenlos zu jodeln: „Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt!" dies sollte höchstes Menschenglück sein? Das mit verachtungsvollem Achselzucken lässig hingeworfene: „Vanitas Vanitatum!“ der Blasirtheit wäre wirklich der ganze Gewinnst der durch Meere von Thränen und Blut gegangenen Kampf- und Leidensbahn der Menschheit und es bliebe demnach nur übrig, die Verzweiflungsfrage, warum fie als eine, störende Episode in der seligen Rube des Nichts" auf unserer Erde das Phänomen des Lebens hervorgerufen habe, zur Sonne emporzuschleudern?

In Wahrheit, so wär' es, falls nicht in der Menschenbrust neben dem nagenden Zweifel, der entmuthigenden Erkenntniß und der verbitternden Erfahrung die Hoffnung waltete, die ,,holde, gütig geschäftige," welche die Gedanken des Menschen und der Menschheit auf die Zukunft wendet, sie, die große Trösterin, welche unser Geschlecht vorwärts führt, über Millionen und Milliarden von Gräbern hinweg immer vorwärts, zu lieben und zu leiden, zu streben und zu streiten, vorwärts dem

in unendlicher Ferne wie eine heilige Verheißung leuchtenden Paradiese, d. h. der Vorstellung von einem Gesellschaftsbau zu, der es denkbar macht, daß eine Zeit kommen könnte, wo Menschen menschlich mitsammen leben würden. Nehmt diesen Glauben an das Ideal, nehmt diesen Zukunftstraum weg von der Stirne des Menschen und es bleibt nur ein kläglicher Erdenfloß, welcher aus der Gesittung in die Anarchie und aus dieser in die Bestialität zurückfallen wird, aus welcher ihn mälig einigermaßen herauszubilden es einer kaum absehbaren Reihe von Jahrtausenden bedurfte.

[ocr errors]

In jenen langen und bangen Winterzeiten, wo die Grundsuppe menschlicher Niederträchtigkeit und sozialer Verrottung obenauf und das öffentliche Gewissen stumm ist, wo der stehende Sumpf der Gesellschaft nur bewegt wird durch den ekelhaften Zank zwischen infamer Habsucht und infamerer Genußwuth, wo alle gemeinen Instinkte und schmählichen Leidenschaften wettbuhlen, den Speichel des Despotismus zu lecken, — in solchen Winterzeiten webt die Hoffnung, die ewigjunge, neue Lenzgedichte, gießt den Balsam des Zukunftglaubens in die verzagten, wunden, fummervollen Herzen und füllt die Seelen mit dem läuternden Feuer der Begeisterung. Da ist es, als ginge die Sonne stralend und lebensmächtig wie noch nie über der Erde auf. Ein unendliches Wehen und Regen, ein wundersames Weben und Streben geht durch die wiedergeborene Gesellschaft. Alles, was sterblich nicht" im Menschen, richtet sich auf und schießt auf's Neue in Trieb und Saft. Ein frischer Odem, wie aus Hochwäldern und von Firnhöhen kommend, schwellt Männerherzen und hebt Frauenbusen. Ein Leuchten, reiner und inniger noch als das der ersten Liebe, ist in den Augen von Jünglingen und Jungfrauen. Selbst in die stumpfen, unter das Joch der Sorge um's tägliche Brot gedrückten Massen dringt die frohe Botschaft und macht sie freudig und opfermuthig aufathmen. Auch die verhärteten Herzen der Bevorzugten und

"

Bevorrechteten schmelzen unter dem Anhauch heiliger Glut und sogar über die Bronzestirnen raffinirter Weltlinge geht ein flüchtiger Schimmer von edler Scham. Die Menschen fühlen sich über sich selbst erhoben, hoch hinweg über ihr kleines kläglich-egoistisches Ich, fühlen sich dem Dunstkreis gemeiner Berechnung und selbstsüchtiger Wünsche entrückt und emporgetragen in die Aetherhöhen, wo die großen Gefühle, die erlösenden Gedanken und die befreienden Thaten gedeihen. Auf alle Stände, alle Berufsklassen, alle Alter und Geschlechter senkt sich gleichmäßig die Weihekraft des großen Moments und wie jauchzende Donner rollen durch die entzückt aufhorchende Welt die magisch-mächtigen Losungen: Freiheit und Vaterland!

Völkerfrühlinge nennt man mit Fug und Recht diese verheißungsvollen und täuschungsschwangern Epochen und ein solcher war für Deutschland der Frühling von 1813. Freilich, lange nicht so umfassend, voll und fruchtbar blühte derselbe auf, wie der Freiherr vom Stein hoffte, wünschte und erwartete, als er sich am 5. Januar von St. Petersburg aufmachte, um spornstreichs der deutschen Gränze zuzueilen und die Nation gegen den Napoleon und den Napoleonismus in die Waffen zu rufen. Vielmehr ging an dem trefflichen, aus dem Exil heimkehrenden Mann das dreiundzwanzig Jahrhunderte zuvor gesprochene Dichterwort in Erfüllung, daß „Verbannte gern in täuschenden Hoffnungen sich wiegen 1)." Er glaubte, die gewaltige Flamme, welche er in seinem Herzen mit sich brachte, müßte und würde allweckend und allzündend hinschlagen über alles deutsche Land. Sie that es nicht und Stein mußte, kaum in Königsberg angelangt, erfahren, daß zwischen der Idee einer deutschen Nationalerhebung und der Wirklichkeit ein ungeheurer Abstand sei. Er kam als Träger einer Vollmacht, welche ihm der Czar Alexander am 18. Januar zu Raczky ausgestellt hatte und welche dahin ging, daß der Freiherr von Königsberg aus das Preußenland im Namen des Russenkaisers

souverain regieren sollte, bis „Wir ein Abkommen mit dem König von Preußen getroffen haben werden 2)." Wie die zu Königsberg versammelten preußischen Patrioten zu dieser moskowitischen Vollmacht die Köpfe schüttelten, werden wir sehen. Sie lasen zwischen den Zeilen des eigenthümlichen Schriftstücks und lasen richtig: eine Saggliederung nämlich, gefügt aus moskowitischem Hochmuth und moskowitischer Ausbreitungsluft, ein gieriges Gebrumm des nordischen Riesenbären, der Miene machte, seine Tagen nicht allein bis zur Weichsel vorzustrecken, sondern dieselben sogar am Uferrand der Oder erobernd einzuschlagen. Und, die Sache russisch angesehen, warum nicht? Der Jdealismus eines Stein durfte, geblendet durch das tadellos feste Verhalten Alexanders im verflossenen Jahre, in dem Czaren nur den erleuchteten und erlauchten Ritter und Retter Europa's erblicken, der auszöge, den Erdtheil vom lastenden napoleonischen Drachenkoloß zu befreien. Der Kaiser dagegen wußte zu gut, daß der Realismus seiner Russen keineswegs ein Genüge daran finden würde, ihren Herrscher als den, Befreier Europa's" gefeiert zu sehen. Er hatte sattsam erfahren, welcher Anstrengung es schon bedurfte, um die Ansicht der Spizen der russischen Aristokratie, vieler Generale und insbesondere des Generalissimus Kutusow zurückzudrängen, daß man die Waffen nicht weiter als bis zum Niemen tragen sollte, welchen Gränzfluß er selbst am 1. Januar alten Styls an der Spize seiner Garden überschritt. „Warum sollten wir uns für den König von Preußen schlagen?" war eine im russischen Lager gäng und gäbe Rede, und als der vorwärts treibende Czar zu Wilna erklärt hatte, man müsse mit Hintansegung der gewöhnlichen Regeln der Kriegskunst die erlangte Ueberlegenheit mit äußerster Raschheit benügen, um das Uebergewicht des Sieges weithin zu benügen," beschwichtigte der alte Kutusow — (er schleppte sich dann widerwillig noch bis Bunzlau in Schlesien, wo er am 28. April starb) die Besorgnisse der Altrussen mit den

"

"

Worten: Fürchtet Nichts! Wir werden wohl nicht sehr weit gehen 3)." Gegen eine solche Stimmung war mit schönen Ideen und hohen Worten Nichts auszurichten. Man mußte vielmehr die Ueberlieferungen der russischen Politik, wie diese durch Peter den Ersten und Katharina die Zweite festgestellt worden, zu Hülfe nehmen; man mußte Ländererwerbungen in Aussicht stellen und auf die hinter dem für eine bereits eingethane Beute angesehenen Polen lockend gelegenen preußischen Gränzprovinzen hinweisen. Leider im russischen Sinne leider! gab es damals Männer in Preußen, welche alsbald und tüchtig auf die allzu begehrlich-täppisch zulangenden Bärentagen klopften.

[ocr errors]

Bei Alledem verlangt die Gerechtigkeit, daß mit Betonung gesagt werde: Alexander der Erste ist allerdings in gewissem Sinne der Ritter Sanft Georg gewesen, welcher die arme, obzwar etwas ältliche, aber doch noch immer leidlich hübsche Jungfer Europa aus napoleonischer Drachenumstrickung erlös't hat. Daß der Ruf zur ungeheuren Völkertreibjagd auf den großen Völkerjäger zuerst und am entschiedensten wie am entscheidendsten von dem Russenkaiser ausgegangen, kann unmöglich angezweifelt werden. In einer jener runden, blanken Phrasen, in deren Verfertigung die Franzosen Meister sind, hat einer gesagt: „Wie Baylen ganz Spanien, so machte Moskau ganz Europa gegen Napoleon aufstehen 4)." Schade nur, daß diese Phrase gerade so viel Wahrheit enthält wie tausend andere französische Phrasen, nämlich keine. Freilich heißt die Sonnenwende des Napoleonismus Moskau, aber sie ward es nur, weil der Czar wir hörten es mit an 5) beim Empfang der Botschaft vom Brande der allerheiligsten Stadt Rußlands das tapfere Wort sprach: „Napoleon oder ich! Ich oder Er!" und Alles daran sezte, das Wort zur Wahrheit zu machen. Ohne Alexander - das ist sein Denkmal in der Weltgeschichte hätte sich troß der beispiellosen Katastrophe von 1812 Europa noch nicht gegen den Kaiserwahnsinn erhoben. Hätte Infinitiv

[ocr errors]
« ZurückWeiter »