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Noch in der Gegenwart erörtern Parlamente, unter Berufungen auf alttestamentarische Sagungen, die der Eheschließung entgegenzustellenden Hinderniffe. Das gesammte Eherecht der mittelalterlichen Kirche ward von mosaischen Vorschriften beeinflußt.

Unerschöpflich ist der Reiz, den die Geschichte des heiligen Landes nach der Verbreitung des Christenthums auf die Einbildungskraft der Menschen ausübte.

Die Erzväter der Juden wurden zu Erzvätern der Menschheit erhoben. An den Lebensschicksalen des jüdischen Volks bildete der primitivste Elementarunterricht in der Geschichte die am weitesten verbreiteten Vorstellungen von Recht und Unrecht im öffentlichen Leben der Menge. Erzählungen der Genesis, Dichtungen der Psalmen boten der mittelalterlichen Kunst eine unerschöpfliche Fülle von Stoffen und vermittelten so den Anschauungsunterricht von Ereignissen, die in der Entfernung der Zeiten an Größe noch zugenommen hatten.

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Die im Steuersystem der mittelalterlichen Kirche durchgeführte und für die staatlichen Dinge so wichtig gewordene Privilegirung der Geistlichkeit, ruhend auf der Pflicht, den Zehnten zu entrichten, entstammt der jüdischen Ueberlieferung. Ihr war die Herrschaftsstellung der kirchlichen Macht in gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Dingen während der Kindheit christlicher Staatsbildung ebenso zuzuschreiben, wie die Entwickelung der jüdischen Bannung und Ausschließung der geistlichen Strafgewalt über die Gewissen unwiderstehlichen Nachhalt gab.

Wie wenig daher immer die Geschichte Israelitischer Könige im Vergleich zu dem Glanz und zur Dauer anderer orientalischer Monarchien zu bedeuten haben mochte, wie gering die Begabung der Israeliten für die Herstellung großer architectonischer Monumente und für die Verwirklichung politischer Ideen auch gewesen, in der sittlichen Energie seiner heiligen Schriftwerke steht das Zudenthum unvergleichlich da. Sie erscheint als die gleichmäßig durch die Jahrtausende waltende Macht eines in gemeinsamen Culturinstitutionen ausgeprägten Geistes, der gleichsam wider den Willen seiner ursprünglichen Schöpfer fortzeugend sich bethätigte, ohne jedoch darum den geschichtlichen Gegensaz zwischen ihnen und später entstandenen Nationen ausgleichen zu können.

Alle Culturvölker haben die tief in das bürgerliche Leben eingreifenden Institutionen eines wöchentlichen Ruhetages aus dem alten Testament em= pfangen, aber der nicht auszulöschende Unterschied zwischen uralter Sabbathfeier und späterer Sonntagsfeier blieb bezeichnend für die Zähigkeit, womit das Judenthum im Wandel der Zeiten seine Ueberlieferungen gegenüber verwandtschaftlichen Einrichtungen zu vertheidigen wußte. Eben diese Wahrnehmung gestattet einen Rückschluß auf die Stärke des Gegensatzes, der zu Zeiten ihrer staatlich selbständigen Existenz die Israeliten von den polytheistischen Glaubensvorstellungen der ihnen benachbarten Völker trennte.3)

1) Jesaias II, 2-4: Denn von Zion wird das Geseß ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und strafen viel Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugschaaren und ihr Spieße zu Sicheln machen Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert aufheben und werden fort nicht mehr kriegen lernen. Theilweise wörtlich damit übereinstimmend Micha, 4, 2-5.

2) Daran kann auch durch die Thatsache nichts geändert werden, daß die zehn Gebote inhaltlich an das Aegyptische Todtenbuch anknüpfen. S. Twesten (a. a. O) S. 347, der geneigt erscheint, die Bedeutung der originalen Israelitischen Bestandtheile des Dekalogs zu sehr herabzumindern.

3) Ueber die Beurtheilungsweise, welche die Juden von anderen Völkern des Alterthums erfuhren, siehe: Tacitus Hist. 5, 5. Philpstr. Apoll. 5, 33. Diodor. Ecl. 34, 1. 40, 1. Justin. 36, 2. Alle diese Schriftsteller bemerken das gesellschaftswidrige Verhalten der Juden im Verkehr mit Andersgläubigen (moóĘɛvoi).

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CH

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Zweites Kapitel.

Hellas und das Hellenenthum.

§ 49.

Die Griechische Culturanlage.

Literatur: Curtius, Griechische Geschichte. 3 Bde. 5. Aufl. 1880.
Dunder, Geschichte des Alterthums. Bd. V-VIII.

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2. v. Ranke, Welt

G. Grote, A History of Greece

Keines der älteren oder neueren Culturvölker hatte eine so kosmopolitisch universale und gleichzeitig in der Mannigfaltigkeit ihrer Einzelbildung so unerschöpfliche Naturanlage empfangen wie die Hellenen. Sie er scheinen uns im Lichte der Weltgeschichte strahlend, als Menschheitsvolk, nicht als einheitlich organisirte Nation.

Die Mannigfaltigkeit ihrer geistigen Hervorbringungen wurde bedingt durch die Beschaffenheit der Bodengestaltungen und Gebietsformationen auf dem von ihnen eingenommenen Gebiete: Geschieden gegen die nördlicheren nicht hellenischen Völkerstämme durch jene Reihe paralleler, im Balkan gipfelnder Gebirgszüge, die sich während des Zeitalters höchster griechischer Culturblüthe als sichernder Wall gegen den Ansturm der Barbaren bewährten, offenbarte die Eigenartigkeit des Landes sich in allmäligen llebergängen zwischen Thalsenkungen und vielfach sich kreuzenden oder durchschneidenden Höhenlinien.

Nirgends ein größerer, mit dem Nil oder den Mesopotamischen Stromläufen vergleichbarer Fluß, dessen Ufer eine Großstaatsbildung vermitteln konnten. Nirgends eine gewaltig ausgedehnte Ebene oder Wüste, die geeignet gewesen wäre, großartige Einheiten eines Raumbildes in der menschlichen Fassungskraft abzuspiegeln. Anders als anderen Völkern Asiens und Africas zeigte sich bei seinen ersten Begegnungen dem Hellenen die Gestaltung des Meeres: nicht als weitgedehnte Fläche eines den Horizont unermeßlich um= spannenden Okeanos, sondern als ein vom Lande eingeengter Silberstreifen oder ein von zahlreichen, leicht erreichbaren Inseln durchstreuter Archipelagos. Wie durch sanft geneigte, selten steile Abhänge der Höhen Berg und Thal sich auszugleichen strebten, so mischten sich in tief eingeschnittenen Buchten und kühn vorspringenden Gebirgskanten oder langgestreckten Halbinseln Land und See. Nahezu völlig insular gestaltet, einer verlangend ausgestreckten Hand vergleichbar, nach benachbarten Inseln hinauslangend, griff der Peloponnes in die umliegende See, die des Charakters einer Naturgränze durchaus entbehrte.

Keine weitgedehnten Karawanenstraßen, wie sie das Nildelta mit den Ufern des Euphrat verbanden, durchzogen griechische Landschaften. Kein Kunststraßenbau, wie ihn Römische Energie späterhin zu schaffen unternahm,1) näherte diese einander an. Die eigentlichen Binnenstaaten des Hellenischen Volksthums gelangten niemals zu hervorragender oder dauernder Bedeutung.

Schon hierin lag der Gegensaß der Hellenischen Bildung im Verhältniß zum Asiatischen Staatswesen mit Ausnahme der nur halb Asiatisch gebliebenen Phönicier, andererseits aber auch eine gewisse Annäherung mancher Culturerscheinungen angedeutet. An beiden Gestaden des Aegäischen Meeres niedergelassen und die zwischen ihnen liegende Inselbrücke zahlreicher, fruchtbarer Eilande besehend, mischte sich Hellenische Cultur frühzeitig an der Westküste Kleinasiens mit Orientalischer Gesittung, zumal in Lydien und Phrygien. Bedeutete das spätere Hellas in ältester, historisch erkennbarer Zeit ein coloniales Gebiet für Karer und Phönicier, so entwand es sich alsbald erfolgreich dem Einfluß einer minder beweglichen, leichter erstarrenden Gesittung; vielmehr unternahm es auch seinerseits Colonisationen, die jenen ausschließlich mercantilen Zwed, den die Phönicier verfolgt hatten, weit überschritten.

Zwar fehlte den Hellenen keineswegs Verständniß und Sinn für die aus seemännischem Unternehmungsgeist erwachsenden Vortheile. Aber die in ihren Colonisationen bethätigten Pläne wurzelten doch vornehmlich und zunächst in politischen Bedürfnissen der Selbständigwerdung solcher Volkstheile, denen die Heimath keine staatliche Befriedigung gewährte, in dem allgemeinen Anreiz des Fremden, in dem Bewegungsbedürfniß des Hellenischen Geistes, in der Unfähigkeit unterliegender Parteien, sich in die dauernde Herrschaft einer fiegreich gewordenen Macht zu fügen. 2)

Vergleicht man im Gesammtleben der Menschheit die Eigenart der Alts orientalischen Cultur mit der mathematischen Bestimmtheit eines Meridians,

der zwar eine Verschiedenheit der Berechnungsweise, aber niemals eine wirk liche Veränderung erdulden kann, so bietet uns der Hellenische Geist das Bild der Magnetnadel, die auf die kosmopolitischen Ziele des Völkerdaseins in ihrer beständigen Bewegtheit hindeutet.

Vermöge ihrer Beweglichkeit, ihrer überall erwiesenen Aneignungsfähigkeit gegenüber den brauchbaren Bestandtheilen fremder Gesittung überflügelten die colonialen Gründungen der Griechen, die als Fortsetzung ihres in Hellas selbst nicht befriedigten, von Hause aus continentalen Wandertriebes erscheinen, diejenigen der Phönicier. So geschah es, daß das Hellenenthum schon vor Erstarkung seiner staatlichen Formationen auf der Balkanhalbinsel den Phöniciern an die Gestade Thraciens und der Pontusländer gleichsam rückwandernd folgte, und nachahmend gleichzeitig die Küsten westwärts gelegener Länder, wie Siciliens, Unteritaliens, Galliens und Spaniens, zuleßt auch Africas aufsuchten, ohne dabei jemals Großstaatenbildung im Wege der Eroberung zu beabsichtigen.

Wenn sich in dem colonialen Wettstreit zwischen Phöniciern und Griechen schließlich die Ueberlegenheit der letteren so weit herausstellt, daß der Hellenische Geist seine geistige Macht in weiteste Fernen erstreckte, seinen Einfluß bereits während der Persisch-Medischen Weltherrschaft als einen bedrohlichen den Asiatischen Despoten fühlbar machte und Karthago auf dem nahegelegenen Gebiete Siciliens überall zu troßen im Stande war, so muß vermuthet werden, daß die höhere politische Begabung des Hellenischen Volkes in Krieg und Frieden dabei eine entscheidendere Rolle spielte als die Macht der Phönicier.

Begreiflich wird dies höhere Maß politischer Begabung als eines Bestandtheils Hellenischer Ueberlegenheit, sobald man bedenkt, daß die religiösen Ueberlieferungen des Hellenischen Volkes selbst in die Strömung mannigfaltigster Ausgestaltungen hineingezogen waren. Dem Griechischen Cultus fehlte sowohl jene uralte, streng locale Bedingtheit, vermöge welcher die Verehrung Aegyp tischer Gottheiten mit der Naturbeschaffenheit einzelner Stätten verbunden gewesen war, sowohl der Babylonische Mysticismus der Theogonien, als auch die Strenge der Verehrungsformen, die anderen Orientalischen Völkern eigen waren. Hellenische Gottheiten hatten von Hause aus verschiedene Residenzen auf Bergeshöhen oder Meeresküsten, an Quellen und in Hainen. Sie waren stets zur Mitwanderung an andere Stellen geneigt, wo sich ein ihrer würdiger Tempel aufthun würde. Sie waren nichts anderes als unsterbliche Wesen mit menschlichen Leidenschaften, mit bestimmten Berufsaufgaben und besonderen persönlichen Eigenschaften, eine Olympische Republik mit berathenden Versammlungen unter dem Vorsiz eines höchsten Archonten, der niemals als Weltschöpfer gedacht war, sondern durch Klugheit und Täuschung an die Stelle einer älteren, vor ihm bestandenen, monarchischen Götterverfassung getreten und gegen den Aufstand der Giganten siegreich geblieben war. 3)

Politische Weisheit bedeutet überall die Fähigkeit, historische Thatsachen unabhängig von theokratischen Principien richtig zu erkennen.

Bei den Hellenen offenbarte sich im größeren Maßstabe diese politische Begabung als Fähigkeit der freien Staatsbildung, unabhängig von den Gesezen der Theokratie oder eines religiös gebundenen Glaubensprincips. Die Orakel des Zeus und des Apollon antworten, wenn nur den priesterlichen Forderungen durch ausreichende Entschädigung genügt wird, den Gesandten eines Lydischen Königs oder Thrakischen Fürsten ebenso bereitwillig und ebenso zweideutig, wie den Abordnungen einer democratischen Volksversammlung. Es schien den Hellenen menschlich natürlich, daß die frei waltende Gottheit, ohne solche Völkerprivilegien, wie sie nach den Anschauungen der Israeliten angenommen wurden, nach freier Wahl überall diejenigen bevorzugt, welche die reichsten Opfer darbringen oder die herrlichste Verehrungsstätte errichten: eine Anschauung, auf welcher der Wetteifer der schönen Künste beruhte, als auf der Akropolis von Athen das Pantheon und in Olympia der Tempel des Zeus geschaffen wurden: nicht als einheitlich ausschließliche, sondern als herrliche, für das Schönheitsgefühl der Gottheit und des Volkes unübertreffliche Cultusstätten.

Die Mannigfaltigkeit Hellenischer Begabung kündigt sich also auch in der Fülle dessen an, was für die Völker des Alterthums am meisten einheitlich gewesen war: in den Formen der Gottes verehrung. Nicht nur polytheistisch, sondern auch polyliturgisch war Hellas geartet. Jedes größere Gemeinwesen erfreute sich des Genusses eigener gottesdienstlicher Festacte, wobei viel fach an sagenhafte Vorgänge der geschichtlichen Ereignisse angeknüpft war. Dem Staatsgeifte der Hellenen diente ihre Volksreligion, während dem Orientalischen Moloch in dem Menschenopfer auch das Staatsopfer dargebracht worden war.

Auch in der Sprache spiegelte sich die Mannigfaltigkeit des Hellenischen Volksgeistes ebenso deutlich ab, wie die kosmopolitsche Richtung seiner Denkweise. So lange sie eine im Alterthum lebendige war, erschien sie nicht nur am meisten befähigt, den Austausch der Ideen zwischen verschiedenen Nationen zu vermitteln, sondern auch am reichsten ausgestattet, um allen möglichen Begriffen Ausprägung in dem Edelmetall seiner Wortmünze zu verschaffen, somit allen Bedürfnissen des internationalen Gedankenaustausches zur Befriedigung zu verhelfen. Vermöge dieser Eigenschaften gelang es der Griechischen Sprache zwar nicht, die dialectischen Verschiedenheiten in ihren Laut und Formbildungen durch Einheitlichkeit einer herrschenden Schriftsprache zu verdrängen, aber sie erlangte zum ersten Male in der Weltgeschichte die Bedeutung einer den internationalen Verkehr der Culturvölker, der Gelehrten und Denker, der Dichterfürsten und Handeltreibenden beherrschenden Hegemonie, deren Herrschaftsbereich sich abwechselnd und zeitweise bis an die Ufer des Indus, an die Wasserfälle des Nil, an die Gestade Hispaniens und Galliens erstreckte.

Mit Recht hat man geurtheilt, daß das Griechische von allen indo-germa= nischen Idiomen, von denen es einen Zweig ausmacht, das grammatisch ausgebildetste, der inneren Logik des menschlichen Geistes angemessenste ist.*)

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