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Relativer Werth der einzelnen Völkerrechtsquellen im Verhältniß zu einander. 147

der practisch fühlbaren Controversen durch gemeinsame Declaration derjenigen Mächte begonnen wird, die sich unter einander zu verständigen vermögen und alsdann zu der Ausarbeitung solcher Einzelbestimmungen fortgeschritten wird, die sich als Consequenzen jener Vorentscheidung darstellen.

Haben die Großmächte sich über gewisse Grundsätze des Völkerrechts in gemeinsamen Declarationen vereinigt, so könnte deren Verallgemeinerung da durch gesichert werden, daß die Anerkennung neu entstandener Staaten von der Annahme dieser Verkehrsgrundsäße abhängig gemacht würde.

§ 38.

Relativer Werth der einzelnen Völkerrechtsquellen im Verhältniß zu einander.

Die Idee der Codification fand in neuerer Zeit, nachdem zumal im XVIII. Jahrhundert das Unbefriedigende der aus dem Mittelalter ererbten Gesezeszustände allgemein fühlbar geworden, ihren mächtigsten Stüßpunkt in der Forderung der naturrechtlichen Doctrin, nach welcher ein für alle Zeiten bleibendes, vollkommenes Rechtssystem durch Wissenschaft und Gesetzgebung ge= schaffen oder wiederhergestellt werden sollte.

Man träumte von großen legislatoren Schöpfungsacten, indem man gleichzeitig die überlieferten Zustände als willkürliche, durch menschliche Kurzsichtigkeit herbeigeführte Verunstaltungen des „wirklichen“ Rechts ansah.

Wer heut zu Tage die Codificirbarkeit des gesammten Völkerrechtsstoffes für möglich und wünschenswerth erachtet, giebt sich doch sicherlich nicht mehr dem Wahn hin, daß auf diese Weise ein für alle Zeiten genügendes, abgeschlossenes Gesetzgebungswerk geschaffen werden könnte. Das Leben der Nationen ist mächtiger als Paragraphen oder der geschriebene Buchstabe des Gesezes oder die Doctrinen der Jurisprudenz. Die höchste Aufgabe der Politik wird daher immer darin bestehen, die stillen, nach rechtlicher Gestaltung un aufhörlich ringenden Kräfte der Gegenwart und Zukunft nicht nur nicht zu behindern, sondern im Gegentheil vor übereilter Umschnürung zu bewahren und den Einklang zwischen Gesetzesvorschriften und Thatsachen zu bewahren.

Die Ueberschätzung der von der Codification des Völkerrechts zu erwar= tenden Vortheile erklärt sich außerdem aus der unrichtigen Veranschlagung des den einzelnen, positiven Völkerrechtsquellen in ihrem Verhalten zu einander zukommenden Werthes.

Nicht wenige unter den angesehensten Völkerrechtslehrern gehen von dem Saße aus, daß dem geschriebenen Rechte der Gesetzgebungen und folglich, was das Völkerrecht anbelangt, den Staatsverträgen überall eine höhere Dignität zuzusprechen sei,1) als der Rechtsgewohnheit.

Man glaubte mit dieser Theorie dem Völkerrecht zu höherer Festigkeit zu verhelfen und die unsicheren Abstractionen der älteren Naturrechtsschule

wirksam zu bekämpfen, überfah also den oben angedeuteten Zusammenhang der Dinge und die durch Erfahrung bezeugte Thatsache, daß fehlerhafte, von den herrschenden Strömungen des Zeitgeistes getragene Richtungen viel eher auf den leichter beweglichen Gesetzgebungsapparat, als auf die Praxis eines festgefügten, durch Ueberlieferung gestüßten Gerichtsorganismus Einfluß gewinnen.

Obschon es daher von unleugbar großer Wichtigkeit ist, die den Staatsverträgen unter den Völkerrechtsquellen zukommende Bedeutung nachdrücklich gegen solche zu vertheidigen, die von der Haltbarkeit derselben eine geringe Meinung hegen, so darf doch nicht übersehen werden, daß der Werth der Verträge vornehmlich in ihrer Gegenüberstellung zu jener oft hervortretenden Neigung der Diplomatie liegt, alle Streitfragen thunlichst offen zu halten und von Fall zu Fall ohne feste Regel lediglich nach den Rathschlägen vorüber< gehender Zweckmäßigkeiten zu erledigen.

Ganz andere Resultate gewinnt man dagegen, wenn man das Vertragsrecht nicht mit der regellosen Zweckmäßigkeitstendenz der in einzelnen Staaten mit einander kämpfenden Interessen vergleicht oder an dem Stande abstracter, doctrineller Streitfragen bemißt, sondern in vergleichende Beziehung verseßt, zu den allgemeinen in das Verkehrsleben übergegangenen Grundfäßen des internationalen Verhaltens.

In diesem Falle ergiebt sich, daß Anerkennung und Gewohnheit in der Rangordnung der allgemeines positives Völkerrecht erzeugenden Quellen obenan stehen und die heute geltenden Staatsverträge an Bedeutung weitaus überragen. Unrichtig ist auch die Auffassung, welche einzelne Staatsverträge als geschichtlich dauernde Grundlage des Völkerrechts annimmt. *) Denn jenseits der Entstehung der ersten Verträge liegt der in jeder Rechtsgenossenschaft stillschweigend angenommene Saß, der ihnen, gegenüber der Thatsache ihrer Verlegbarkeit, die durch das Rechtsbewußtsein geforderte Sanction ertheilt, und mit jedem Vertrage ist nothwendig die Vorstellung verbunden, daß er unter Umständen, wie beispielsweise durch Erschöpfung des Vertragsinhaltes, zu einem natürlichen Ende auch ohne Vertragsverlegung gelangen könne. Das Princip des Völkerrechtes bleibt aber, unabhängig von allen Stipulationen der Verträge, ein im Zusammenleben der Nationen unzerstörbares. Wie der Verbrecher durch seine Missethat gegenüber der allgemeinen bürgerlichen Rechtsordnung seine Persönlichkeit und seine Staatsangehörigkeit nicht mehr verwirken kann, so behält auch der einer Vertragsverlegung schuldige Staat, durchaus unabhängig von der Summe der in einzelnen Staatsverträgen niedergelegten Vorschriften, seine Rechtspersönlichkeit innerhalb der auf allgemeiner Anerkennung unzerstörbar begründeten rechtlichen Genossenschaft. Er bewahrt sie für die Dauer seiner Einzeleristenz.

Schwerlich wird dies Grundverhältniß von irgend einer Seite geleugnet. Nur suchen sich solche, die die Staatsverträge als vollendete Form der Rechtserzeugung ansehen, dadurch vor Widersprüchen zu retten, daß sie ihrerseits Anerkennung oder Gewohnheit entweder als sog. natürliche Völkerrechtsquellen

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gelten lassen, oder ihre Zuflucht zu dem bekannten Aushülfsmittel der fingirten Vertragsschlüsse nehmen.

Das formal von der Theorie der Rechtsquellen festzuhaltende, ideale Endziel aller Culturentwickelung muß darin bestehen, daß die Rechtserzeugung, die ihren ältesten Ausgangspunkt in stillschweigender Anerkennung und Gewohn heit gegeben fand, allmälig auf ihrem Entwickelungsgange durch die späteren Zwischenstufen des Juristenrechts, der Wissenschaft und der Gesetzgebung zu der Vollendung einer alle diese Factoren in sich aufnehmenden und ausgleichenden Volksrechts- und Völkerrechtsgewohnheit zurückkehre, womit ein Zustand als möglich von uns vorgestellt wird, in dem einerseits das nothwendige und im Leben der Nationen schlechthin unerläßlich gewordene, in Gewohnheiten bethätigte Recht unverleßlich erscheint gegenüber den Controversen der Gelehrten und den Abänderungsversuchen der Gesetzgebung, andererseits der Geseßgebung und den Staatsverträgen diejenigen Aufgaben verbleiben, die wegen ihrer wandelbaren Natur von den die Gewohnheit bildenden Kräften der zu einem höheren Gefittungszustande gelangten Nationen noch nicht erfaßt werden können.

Damit soll nicht geleugnet werden, daß Gefeßbüchern eine gegenständlich oder zeitlich bedingte Nothwendigkeit für gewisse Rechtsmaterien in solchen Zeiten zuerkannt werden müsse, in denen das gewohnheitsrechtliche Leben der Staaten in einem Zustande der Entkräftung oder Zersehung sich befindet; die Staatsgesellschaft selber kann ihre innere Willenseinheit eingebüßt, und die Rechtswissenschaft sich außer Stande erwiesen haben, das Bedürfniß der Rechtsgewißheit durch annehmbare Entscheidung zweifelhafter oder streitiger Rechtsverhältnisse zu befriedigen. Nur würde durch dies Zugeständniß der Lehrsag nicht aufgehoben, daß der souveräne, in Gefeßgebung und Staatsverträgen redende Wille der Volksmenge oder des Herrschers im Allgemeinen ein weniger sicheres Recht schafft, als die im Stillen arbeitende, von der Macht richterlicher Autorität und einer volksthümlich anerkannten Rechtswissenschaft geleitete Uebung des Volkslebens.

Wie weit dieses lehte Ziel der völkerrechtlichen Normgebung durch eine von den Potenzen der Moralität, der Völkersitte und der Wissenschaft be= herrschte Gewohnheit von unserem Zeitalter entfernt liegt, kann die Darstellung des positiven Rechtes dahingestellt sein lassen. Aber wir sind zu der histori= schen Vermuthung befugt, daß ein derartig gestelltes Ziel jedenfalls ein höheres und unter keinen Umständen aussichtsloseres ist, als die Erwartung, die Gesammtheit aller Völkerrechtsnormen codificirt zu sehen. Selbst wenn man sich diese Gesammtcodification als allmälig fortschreitende Thätigkeit im Laufe der Jahrhunderte vorstellt, wäre es nicht ausgeschlossen, daß nach der Vollenbung ihres letzten Abschnittes wiederum mit der Neuordnung ihres inzwischen veralteten ersten Abschnittes zu beginnen wäre.

Aus dieser Auffassung der die Völkerrechtserzeugung bedingenden Formen laffen sich möglicherweise einzelne brauchbare Nußanwendungen für die Beurtheilung der gegenwärtigen Völkerrechtsnormen gewinnen.

Die Staaten müssen darnach trachten, der Natur der internationalen Rechtsnormen entsprechend, die verschiedenen möglichen ihrer Einwirkung und Erfassung zugänglichen Rechtsquellen in Thätigkeit zu sehen, ohne irgend einer derselben den Abfluß zu versperren. Jedes Unternehmen, die Gewohnheit bildenden Kräfte des Volkslebens mittelbar einzuengen, würde dem leßten Ziele der internationalen Gemeinschaft zuwiderlaufen.

Hat man den relativen Werth der verschiedenen Rechtsquellen richtig er kannt, so muß das Zweckbewußtsein der im internationalen Verkehr leitenden Mächte zu folgenden Ergebnissen gelangen, deren practische Anwendung weiterhin gleichsam zu einer planmäßigen und nutzbaren Kanalisirung und andererseits zu einer Eindämmung des Quellenlaufs im Interesse größerer Befruchtung führen würde.

1. Der fortdauernden Bethätigung der gewohnheitsrechtlichen oder auf stillschweigender Anerkennung beruhenden Staatspraxis find diejenigen Gebiete des internationalen Verkehrslebens vor zubehalten, bei denen der Bestand hinreichend fester Grundsäße bereits in gemeinsamer Ueberlieferung eingewurzelt ist oder von der fortschreitenden Entwickelung der Cultur erwartet werden. darf. Jeder Versuch, solche allgemein im Wesentlichen bereits anerkannten Verkehrsgrundsäge durch Vertragsschließungen unter einzelnen Staaten zu formuliren oder einer schriftlichen, durch theoretische Gesichtspunkte beherrschten Redaction zu unterwerfen, würde, von der Zweifelhaftigkeit des Gelingens abgesehen, vorhandene Streitobjecte nur vervielfältigen und vergrößern. Einverständniß der Staatspraxis kann auch in solchen Verhältnissen hinreichend bethätigt werden, deren juristisch-technische Definition keinen gleichmäßigen, bei allen Nationen annehmbaren Ausdruck findet.

2. Das Staatsvertragsrecht hat, abgesehen von seiner politischen Zweckbestimmung, Aufgaben zu erfüllen, die aus der Unzulänglichkeit und Unanwendbarkeit des Gewohnheitsrechtes hervorgehen, daher zunächst solche Streitfragen für einzelne Fälle zu beseitigen, die sich mit wissenschaftlichen Mitteln der Juris= prudenz nicht entscheiden lassen. Solche authentische Entscheidung nach grundsäßlichen und bleibend anwendbaren Regeln verdient immer den Vorzug vor dem Versuch eines Vergleiches, der den Streit nur für den Augenblick beilegt, ohne in der Zukunft seiner Wiederkehr vorzubeugen. Das Bestreben der Diplomatie, grundsäßlichen Entscheidungen der Völkerrechtsstreitigkeiten auch dann aus dem Wege zu gehen, wenn, wenigstens für zukünftige Fälle, die Aufstellung eines bindenden Präcedenzfalles möglich erscheint, verursacht Hem= mungen in der Entwickelung der positiven Völkerrechtsnormen. Auch nach er= folgter Beilegung eines einzelnen Streitpunktes durch Vergleich würde es durchaus angemessen sein, durch Schiedsgericht, Vertragsschluß oder Declaration die in Zukunft zu befolgende Rechtsnorm der fortdauernden Ungewißheit zu entziehen.

3. Staatsverträge müssen überall auf bestimmte, bald kürzere bald längere Zeitfristen abgeschlossen werden, wo die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Veränderungen in den eine Rechtsregel bedingenden Thatsachen vorausgesezt werden darf. Der Fehler übermäßig langer Vertragsdauer oder zeitlich überhaupt nicht begränzter Geltung hätte, wofern später wesentliche Aenderungen in den Thatsachen eintreten, die unvermeidliche Folge der Vertragsverlegung und im weiteren Verlaufe die Folge verminderter Achtung des Staatsvertragsrechts, als einer Quelle internationaler Rechtsbeziehungen.

4. Der allgemeine Werth der Staatsverträge als einer der verschiedenen Rechtsquellen hängt somit somit ab:

a) von der gegenständlich richtigen Bestimmung ihres Verhältnisses zu der Rechtserzeugung durch Anerkennung und Gewohnheit;

b) von der richtigen Erkenntniß eines der rechtlichen Vorausbestimmung überhaupt fähigen Gegenstandes der Vertragsschließung;

c) von der richtigen Bestimmung der dem Vertragsrechte beizumessen= den Dauer.

1) Calvo, Droit International I, § 29: Dans tous les cas, et quelle que soit la nature ou la portée de leurs stipulations, les traités sont incontestablement la source la plus importante et la plus irrécusable du droit international. Unserer Ansicht nach gilt dies nur von einzelnen Friedensverträgen und unter Einschränkung auf gewisse historische Perioden.

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2) Laurent, Droit civil International (1880) I, 11: Les nations peuvent être obligées que par leur consentement de là les traités, qui forment la base de droit de gens positif.

§ 39.

Der geschichtliche Charakter der Völkerrechtsquellen. Literatur: Kohler, Rechtsgeschichte und Weltentwickelung in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft Bd. V, 3 (1884).

Lieferen Einblick in das Wesen der Völkerrechtsquellen und die ihren Erscheinungsformen zukommende Bedeutung können nur diejenigen gewinnen, die bemüht find, in der Geschichte die Grundlagen des gegenwärtigen Völkerrechtszustandes zu erkennen. Wie geographisch auf der Erdoberfläche Meer und Land einander begränzen und bedingen, wie ehemals erhaben gewesene, emporragende Gesteine auf den Boden des Meeres gesunken sind und die Naturgewalt flüffiger Elemente die gegenwärtig feste und sichtbare Erdrinde zum Wohnplage des Menschengeschlechtes aufgebaut hat, so walten auch in dem geistigen Leben der Menschheit Grundkräfte, die man zu einem Theile als

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