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in Rede steht. In solchen Fällen ist es auch durchaus angemessen, der Analogie in der Anwendung der Völkerrechtsfäße Beachtung zu schenken.

Ob auch die ethischen Forderungen der Völkermoral bei der Auslegung der Völkerrechtsquellen zu würdigen seien, kann für diejenigen nicht in Frage kommen, welche das Gewohnheitsrecht nicht anerkennen wollen, wenn es gegen Vernunft und Sitte verstößt. Aber auch solche, die es bedenklich finden, dem Richter eine Competenz einzuräumen, die der Sicherheit der objectiven Rechtsregeln schädlich sein kann und sein Unterordnungsverhältniß zum Geseze ins Schwanken bringt, müssen erwägen, daß Vorschriften der Völkermoral in gewissen Fällen als geschichtliche Basis später entstandener positivrechtlicher Vorschriften nachgewiesen werden können. Ist alsdann noch eine frühere Anerkennung dieser Vorschriften durch die streitenden Theile darzuthun, so würde ihrer Auslegung im Sinne der Ethik, der Geschichte und gleichzeitig der außer halb des Vertragsrechtes gelegenen Willensübereinstimmung kein Hinderniß im Wege stehen.

Die völkerrechtliche Präsumtion spricht überall zu Gunsten historischer Continuität. Denn im Völkerrecht waltet in viel höherem Maße die geschichtliche Bedingtheit aller Rechtsverhältnisse als im Privatrecht, was sich schon darin erweist, daß irrthümlich die Geschichte als (unmittelbare) Rechtsquelle mit der in ihr liegenden, auf den Willen der Völker einwirkenden Macht verwechselt wird.) Die Interpretation gewinnt daher überall an Sicherheit, wenn sie geschichtliche Hülfsmittel zu verwerthen weiß, was namentlich bei dem Nachweis stillschweigender Anerkennung zu beachten ist Bei Friedensverträgen insbesondere dürfen die Vorverhandlungen nirgends übersehen werden. Protokolle, diplomatische Correspondenzen, Instruktionen der Gesandten und andere für den internationalen Verkehr bestimmte Staatspapiere, sind zwar an sich selbst keine Rechtsquellen, vermögen aber dem richtigen Verständniß der Geschichte unentbehrliche Dienste zu leisten. Insoweit sie als Hülfsmittel directer Interpretation noch fortbestehender Rechtsverhältnisse erscheinen, verdienen sie eine besondere Betrachtung.

Selbstverständlich modificiren sich die Regeln der Auslegung, wenn es sich um richterliche Anwendung solcher Landesgefeße oder Verordnungen han delt, die zur Regelung völkerrechtlicher Verhältnisse erlassen worden sind. Innerhalb des Gesetzesbereiches ist der Richter an Legaldefinitionen und Auslegungsvorschriften gebunden.

1) Wir nehmen die Auslegung (Interpretation) der Rechtsquellen im weiteren Sinne. Zu beachten ist, daß die Englisch-Amerikanische Praxis interpretation und construction« unterscheidet. Jene bedeutet die grammatische, diese die logische und systematische Auslegung: Construction and interpretation are distinct functions. Interpretation is the meaning of a disputed word, construction assumes, that the words have all an ascertained meaning and settles

their relation to each other. Interpretation is for the jury, construction is for the court (Wharton a. a. D.).

2) System des heutigen Römischen Rechts 1. 204.

3) Da die Häufigkeit der Vertragsschließungen zwischen Europäischen Regierungen einerseits und Africanern und Asiaten andererseits im stetigen Wachsthum ist, so gewinnt die Frage nach den Sicherungsmitteln für den Vertragsschluß in solchen Fällen eine größere Bedeutung, als diejenige der Sicherungsmittel für die Erfüllung eines anerkannten Vertrages.

Der Freundschaftsvertrag zwischen Deutschland und der Regierung von Samoa vom 24 Januar 1879 enthielt über die sprachliche Behandlung keinerlei Andeutung. Er ist durch das Reichsgeseßblatt No. 1407 vom Jahre 1881 291 nur in Deutscher Sprache publicirt, die aller Wahrscheinlichkeit den Samoanischen Unterhändlern ebenso unbekannt war, wie die Samoanische den Deutschen Bevollmächtigten.

In eigenthümlichen Formen, die gleichsam einen Dialog der Unterhändler repräsentiren und Zugeständnisse „Bug um 3ug“ gewähren, ist die Zusaßconvention zu dem Deutsch-Chinesischen Freundschafts-, Schiffahrts- und Handelsvertrage (vom 31. März 1880) abgeschlossen (Reichsgeseßblatt No. 25, 1881).

Im Verkehr mit halbcivilisirten Nationen wäre eine planmäßig entworfene Bilderschrift, wie sie die ältesten Culturvölker im Ausgangspunkte des Schriftwesens besaßen, das angemessenste Mittel des internationalen Verkehrs. Bedienen sich doch auch Schiffe für den Fernverkehr einer Bilderschrift in Gestalt ihrer Signale.

4) So Calvo 1, § 30: »L'histoire des guerres, des traités de paix et de commerce, des négociations de toute espèce est une des grandes sources du droit international.<<

Um dies klar zu machen, diene ein Beispiel. Die historische Thatsache, daß ein weiter als bisher tragendes Geschüß erfunden wird, kann die Seegränze der Territorialgewässer nicht erweitern; wohl aber wird diese Thatsache allmählich das Anerkenntniß bewirken daß das Schußbedürfniß der Staaten eine den veränderten Thatsachen entsprechende Ausdehnung der Seegränze nothwendig mache.

§ 35.

Urkundliche Hülfsmittel der Interpretation.

Je größer die Bedeutung des Schriftwesens für den modernen diplomatischen Staatsverkehr im Verlaufe der letzten Jahrhunderte geworden, desto natürlicher ist es, daß den Staatsurkunden hervorragende Wichtigkeit auch bei Auslegungsstreitigkeiten beigemessen wird. Es verhält sich damit nicht anders, als mit den Materialien der Gefeßentwürfe oder Verordnungen. Solche der Recht feßenden Willensäußerung der Staatsgewalten vorangehenden Erklärungen find gleichsam eine authentische Exegese der Gesetzesterte oder Verträge.

Daraus folgt aber nicht, daß man den Werth urkundlicher Interpretationsmittel zu überschäßen habe. Wer als Gesetzgeber sich in der öffentlichen feierlichsten, gesetzgeberischen Offenbarung seines Willens unklar vernehmen ließ,

kann sich ebenso wohl oder sogar in noch höherem Maße in der Wahl seiner Ausdrücke vergreifen, so lange er sich in dem der Feststellung seines Willens vorbereitenden Stadium der Ueberlegung befindet. Zwischen den ersten urkundlich bezeugten Anfängen gesetzgeberischer Willensbildung und ihrem leßten, im Gesezestert vorliegenden sprachlichen Abschluß können sehr leicht Umwandlungen in den Absichten der entscheidenden Personen und Staatsorgane vor sich gegangen sein. Bei Staatsverträgen kann dies um so leichter geschehen, je seltener die Contrahenten derselben bei wichtigen Veranlassungen geneigt sind, sich wechselseitig einen Einblick in ihre leßten Absichten zu gestatten. Auch kommt es häufig vor, daß der Reihe nach abwechselnd an der Erledigung und Besorgung wichtiger Staatsgeschäfte verschiedene Personen mitwirken, die zwar über das gemeinsam zu erreichende Ziel, aber nicht über die Art der Meinungsäußerung und ihre Redaction einverstanden zu sein brauchen.

Wenn man daher bei der Erläuterung von Staatsverträgen auf die schriftlich geführten Vorverhandlungen zurückgreift, so muß der wissenschaftliche Werth des Urkundenbeweises für die bei den Contrahenten maßgebend gewesenen Absichten und Zweckrichtungen immer von der Vorfrage abhängig gemacht werden, welchen Grad der Aufrichtigkeit im diplomatischen Verkehr die Regierung bestimmter Staaten bisher bethätigte und welches Interesse dieselbe im einzelnen Fall haben konnte, vor erreichtem Vertragsabschluß ihre Absichten zu verheimlichen oder doch, wenigstens in einzelnen Stücken, unbestimmt zu lassen.

Nach diesen Gesichtspunkten ist zu würdigen, welche Stellung diplomatische Correspondenzen, Protocolle, Declarationen oder sonstige Kundgebungen der Staatsregierungen im Zusammenhange des völkerrechtlichen Quellenmaterials einnehmen. 1)

Auch bei dieser Gelegenheit offenbart sich die in der Lehre von den Völkerrechtsquellen bereits früher hervorgehobene Unklarheit. Staatspapiere und diplomatische Correspondenzen werden nicht selten, ohne irgend welchen einschränkenden Zusah sogar als völkerrechtliche Quellen selbständiger Art aufgeführt, während ihnen nicht einmal überall und ausnahmslos die wissenschaftliche Brauchbarkeit für Zwecke der Interpretation zugesprochen werden kann.

In allen Hinsichten am geringsten ist der juristische Werth diplomatischer, für die Oeffentlichkeit gar nicht bestimmt gewesener Correspondenzen. Für den Historiker späterer Zeiten möglicherweise von unschätzbarem Werth, find fie, weil sie lediglich dem Meinungsaustausche dien en sollen, noch viel weniger als geheime Vertragsclauseln geeignet, eine objectiv und dauernd bindende Rechtsnorm zu erläutern. Sofern ihnen die regelmäßig fehlende Absicht, irgend etwas in beweisender Form unter den verhandelnden Personen zu constatiren, in einzelnen Fällen nicht nachweisbar zu Grunde lag, kann ihnen nicht einmal immer im juristischen Sinne die urkundliche Qualität einer dem Beweise dienenden Erkenntnißquelle zugesprochen werden. Solche Correspondenzen können

darauf berechnet gewesen sein, des Mitcontrahenten Aufmerksamkeit von ents scheidenden Punkten abzulenken.

Anders verhält es sich mit förmlich aufgenommenen und für die Deffentlichkeit bestimmten, mehrseitig unterzeichneten Protocollen. Sie können als eine der Erscheinungsformen auftreten, in welchen die Völkerrechtsquelle der Anerkennung bestimmter Thatbestände durch einen die Erklärenden rechtlich verpflichtenden Act sich selbst beurkundet. Eben so wohl ist es möglich, daß Protocolle dem Zwecke gewidmet werden, über die Absichten, denen die Contrahenten beim Abschluß von Staatsverträgen gefolgt sind, zur Beseitigung möglicher Zweifel Aufklärung in bindender Weise zu verschaffen, in welchen Fällen solchen Protocollen die Eigenschaft eines mit dem Hauptvertrage unlöslich verbundenen Nebenvertrages beigelegt werden könnte.

Als höchst wichtiges Interpretationsmittel der Völkerrechtspraxis müssen Declarationen angesehen werden, durch welche in förmlicher und feierlicher Weise solchen Völkerrechtsstreitigkeiten, die weder mit den Hülfsmitteln der Theorie, noch denjenigen der schiedsrichterlichen Entscheidung erfolgreich beseitigt werden können, ein Zustand internationaler Rechtsgewißheit entgegengesett werden soll. Sie können entweder von einzelnen Staaten ausgehen, wie z. B. bei der Festsetzung des an staatenlose Gegenden stoßenden überseeischen Machtgebietes und gewisser bis dahin zweifelhaft gewesener Staatsgränzen, in welchem Fall die Declaration eine bestimmte Verpflichtung gegen das Ausland und gleichzeitig ein Beweismittel gegen die erklärende Staatsregierung con= statiren würde.

Oder sie werden von einer Mehrheit von Staaten im Sinne einer authentischen Interpretation zweifelhaft gewordener Rechtsgrundsätze verfündet. Sie stehen alsdann in der Mitte zwischen der Rechtsquelle der förm lichen, feierlichen Anerkennung und einem urkundlich gebotenen Interpretationsmittel.

Ob Urkunden in geschriebenem oder gedrucktem Zustande vorliegen, kann unter Umständen einen Unterschied machen. Die Rechenschaftsberichte und Correspondenzen, die üblicher Weise unter verschiedenen Titeln von gewissen Staatsregierungen den parlamentarischen Körperschaften vorgelegt werden, sind für die Zwecke der Interpretation von Staatsverträgen oder anderen Völkerrechtsquellen deswegen nur mit Vorsicht zu benußen, weil bekannt ist, daß nicht alles regelmäßig mitgetheilt wird, was von Erheblichkeit sein kann. Das Gleiche gilt von öffentlichen Erklärungen der Minister in parlamentarischen Debatten. Selbst stenographirte Berichte über vorangegangene Verhandlungen bieten keine völlige Sicherheit oder Bürgschaft dafür, daß die hinterher gedruckten Worte in Wirklichkeit genau ebenso gesprochen worden sind. Unter solchen Umständen sind, wenn in einer Streitsache bestimmte Erklärungen einer Staatsregierung zu interpretiren sind, geschriebene Texte regelmäßig mündlichen Erklärungen in zweifelhaften Fällen vorzuziehen. Auf der anderen Seite verdienen aber be

glaubigte mündliche Meinungsäußerungen den Vorzug vor manchen gedruckten Mittheilungen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diplomatische Urkunden durch Privatpersonen oder Gelehrte dem Drucke übergeben worden sind oder durch Entwendung und Vertrauensbruch in die Oeffentlichkeit gelangten. Alle gedruckten Texte bedürfen daher, um als Urkunden verwendet werden zu können, der Anerkennung ihres Inhaltes durch denjenigen Staat, dessen Rechte oder Verpflichtungen in Rede stehen. Diese Anerkennung wird jedoch vermuthet werden dürfen, wenn dedruckt vorliegendes Urkundenmaterial im ausdrücklichen Auftrage eine Staatsregierung oder durch einer dem Staate selbst gehörige Druckanstalt der Deffentlichkeit übergeben wurden.

1) Calvo, Droit Intern. I, § 31.

2) Auch F. v. Martens (Völkerrecht 1, § 43) rechnet diplomatische Transactionen zu den Quellen des positiven Völkerrechts der Gegenwart, „in so weit da durch das Rechtsbewußtsein der Staaten wahrhaft reflectirt wird", womit für den Nachweis der Qualität wiederum ein Beweisverfahren nöthig würde. Wer soll über solche Reflexe" gehört werden? Daneben (S. 191) werden dann diplomatische Urkunden und Verhandlungen als Hülfsmittel zur Erklärung rechtlicher Zustände angesehen.

§ 36.

Codification der Völkerrechtsquellen und ihre

Vorbedingungen.

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Literatur: v. Holzendorff, Encyclopädie der Rechtswissenschaft (IV. Ausgabe), S. 1205. Bergbohm, Staatsverträge und Geseße als Quellen des Völkerrechts (1877) S. 44ff. Lasson, Princip und Zukunft des Völkerrechts S. 179 ff. Bulmerincq, Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts S. 165 (1874). — F. v. Martens, Völkerrecht (von Bergbohm) I, § 44. A. Parodo, Saggio di codificazione del Diritto Internazionale. Torino 1858. Mancini, Vocazione del nostro secolo per la riforma e codificazione del Diritto delle Genti, 1872. J. Bentham, Works (ed. Bowring) 1839. vol. VIII. Francis Lieber, Life and letters (Boston, 1882) p. 391. Sir Henry Maine, Dissertations on early law and custom, 1883 p. 302. D. Dudley Field, Draft outlines of an International code. New-York. 2. ed. 1876 (Italienisch von Pierantoni, Französisch von A. Rolin). - Wharton, Commentaries §§ 114, 122. Domin-Petrushevecz, Précis d'un code du Droit International. Leipzig 1861.

Der gegenwärtige unleugbar vielfach unsichere Zustand der Völkerrechtsnormen, bezeugt durch das Schwanken der Theorie in Hinsicht dessen, was überhaupt als positiv internationales Recht wirkende Quelle zu gelten habe, legte seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts Juristen und Staatsmännern die Erwägung nahe: ob die Forderung, einheitliche und umfassende, alle Rechts

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