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§ 13.

Die Völkerrechtswissenschaft.

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Literatur: C. v. Kaltenborn, Kritik des Völkerrechts (1847), S. 235 ff. A. Bulmerincq, Praris, Theorie und Codification des Völkerrechts (1871), S. 81 ff. Lorenz v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 2. Aufl. (Stuttgart 1876), S. 93 ff. F. v. Martens, Völkerrecht (Ausgabe von Bergbohm), Bd. 1, § 39. P. S. Mancini, Diritto Internazionale. Prelezioni (1873). S. 75.

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Im uneigentlichen Sinne wird der Ausdruck,,Völkerrecht" gleichbedeu= tend genommen mit Völkerrechtswissenschaft oder Völkerrechtslehre. An einer anderen Stelle wird zu zeigen sein, daß die Postulate wissen= schaftlicher Forschung und Erkenntniß, oder die Lehrsäge der Theorie, positive Rechtsqualität selbst dann noch nicht haben können, wenn sie in der Doctrin unbestritten bleiben sollten. Andrerseits können gewisse Verkehrsregeln unter den Nationen als Rechtspflichten erachtet und befolgt werden, ohne daß der innere Grund derselben wissenschaftlich begriffen, gerechtfertigt, oder dargestellt wor den ist. Einzelne Normen des positiven Völkerrechts sind meistentheils älter als ihre wissenschaftliche Darstellung aus dem Gesichtspunkte ihres einheitlichen Zusammenhangs. Aber auch das sog. natürliche oder philosophische Völkerrecht fällt keineswegs überall völlig zusammen mit der Theorie des heutigen Völkerrechts. Doctrin und Praxis des Völkerrechts müssen mit einander verglichen, neben einander gewürdigt werden.

Die Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft beginnt überall mit der Unterscheidung zwischen dem wirklich innerhalb der Gemeinschaft rechtlich zwar selbständiger, thatsächlich aber von einander abhängiger Staaten geltenden Rechts und dem vom Standpunkte der Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit oder Folgerichtigkeit zu erstrebenden Vernunftrecht.

Das Fundament der wissenschaftlichen Erkenntniß des positiven Völkerrechts bildet somit die Thatsache, daß ein rechtlich anerkannter und gewollter, dauernder Gemeinschaftszustand unter unter den gegenwärtig Verkehr pflegenden Staaten besteht: eine Grundthatsache, die in einem Zeitalter als unbestreitbar und unbezweifelbar gelten muß, wo keine einzige Regierung in ihren Staatsschriften die Behauptung aufzustellen versucht, daß sie nach eigenem Belieben willkürlich über ihre Beziehungen zum Auslande verfügen oder sich dem Maßstabe internationaler Berechtigung und Verpflichtung nach freiem Ermessen überall entziehen dürfe. Andrerseits lag der Ausgangspunkt für die gegenwärtig als unwissenschaftlich erkannten Construktionen des alten philosophischen Völkerrechts in dem Dogma ursprünglicher, durch den Staat rechtlich nicht zu beschränkender Gleichheit aller menschlichen Individuen.

Im Gegensatz dazu, hat die Wissenschaft des modernen Völkerrechts

auszugehen von der natürlichen d. h. von Hause aus gegebenen, praktischen Ungleichheit in den Machtzuständen der Stämme, der Völkerschaften und Staaten, so lange diese im Verhältniß zu einander bestrebt waren, einen Gesellschaftszustand mit andern benachbarten oder nicht benachbarten Stämmen, Völkern, Staaten auszuschließen. Nimmt man daher das Naturrecht als wissenschaftliche Hypothese einer den Menschen eingeborenen idealen Urrechtsanlage, so läßt sich nicht behaupten, daß das Völkerrecht der Gegenwart eine Art dieses Naturrechts sei. Das Völkerrecht ist vielmehr Culturrecht der Staatenwelt, nicht angeborenes, sondern erworbenes Gut der Menschheit.

Auf dieser thatsächlich als anerkannt zu nehmenden, erworbenen Cultur-Grundlage internationaler Rechtsgemeinschaft selbständiger Staaten beruhen jene einzelnen Rechtssäße, deren Gesammtheit des Völkerrechtes Inhalt ausmacht.

Bei der dogmatischen Darstellung des positiven Völkerrechts hat die Wissenschaft der Aufgabe zu genügen, daß gleichzeitig der nothwendige Zusammenhang jedes Rechtssages mit dem Gemeinschaftsprinzip der Völkerge= nossenschaft und seine Vereinbarkeit mit der Selbständigkeit der einzelnen Staaten dargethan werde. Als wissenschaftlich hinreichend bestimmt und außerdem als positiv geltend muß jeder Völkerrechtssag gelten, der sich als unvermeidliche, nothwendige Consequenz jener fundamentalen Gemeinschaftsordnung darstellt, die von den Völkerrechtssubjekten anerkannt wird und gleichzeitig auch die politische Selbständigkeit aller Staaten zu ihrer Voraussetzung hat.

Daraus ergiebt sich, daß zur Annahme einer Positivität einzelner Völkerrechtssäge keineswegs der Nachweis erforderlich ist, daß diese durch spezielle An= nahme von Seiten sämmtlicher verkehrpflegender Staaten ausdrücklich sanctionirt worden sind.

Mit der wissenschaftlichen Darstellung des positiven Völkerrechts verhält es sich somit kaum anders als mit der Ermittelung des richterlicher Anwendung bedürfenden Gesezesrechtes bestimmter Staaten. Kein Gesetz kann absolut vollständig in der Aufzählung sämmtlicher seiner Anordnung zu unterstellenden Fälle sein. Als Recht ist überall, bis zur Verordnung des Gegentheils, das zu nehmen, was eine richtig gehandhabte Untersuchungsmethode, als nothwendigen, wenngleich unausgesprochenen Inhalt des rechterzeugenden Willens nachweisen kann. Das stillschweigende oder ausdrückliche Anerkenntniß internationaler Rechtsgemeinschaft durch selbständige Staaten begreift gleichzeitig jedesmal das Anerkenntniß derjenigen Schlußfolgerungen in sich, ohne deren Zulassung der Staat wiederum hinterher sowohl den Rechtsgrundsaß der Ge= meinschaftsordnung, als auch das internationale Rechtsprinzip seiner eigenen Selbständigkeit, also sich selber negieren müßte.1)

Ob diese nothwendigen, aus dem Gemeinschaftswillen der Staaten zu ziehenden Schlußfolgerungen nach ihrer jeweiligen Formulirung von einzelnen Staaten hinterher gelegentlich verkannt, geleugnet oder abgewiesen werden, das

kann ihrer begriffsmäßig zu behauptenden, rechtlichen Positivität ebenso wenig Eintrag thun, wie die Divergenz in der Rechtsprechung mehrerer, einer höchsten Instanz entbehrenden Gerichtshöfe oder die Controverse der Theoretiker das Vorhandensein einer bei ihrer Enstehung einheitlich gemeint gewesenen Gesegesvorschrift zu beseitigen im Stande sein würde; denn sicherlich bleibt es für das Dasein einer Rechtsvorschrift durchaus gleichgültig, ob durch ein allerhöchstes Organ der Judikatur zweifelhafte Auslegungen der einer Rechtsvorschrift zukommenden Tragweite in formell verpflichtender Weise abgeschnitten werden können. An sich ist es nicht einmal ein Mangel, wenn ein bestimmtes Rechtssystem, wie beispielsweise das Römische, zu zahlreichen Streitfragen Anlaß bietet, insofern als Mißverständnisse nicht nothwendiger Weise durch den Gesetzgeber verschuldet sind, vielmehr auch durch intellectuelle Mängel der Auslegenden verursacht sein können.

Allerdings ist es eine Aufgabe gewissenhafter Darstellung, die in ihrer Handhabung zweifelhaft gebliebene Rechtsregel von der überall festgestellten Rechtsregel gerade in Beziehung auf internationale Verhältnisse zu sondern, und sich davor zu hüten, daß die von gewissen Völkern beobachteten Verkehrsregeln nicht voreiliger Weise als allgemeines Völkerrecht aller Verkehr pflegenden Staaten ausgegeben werden.

Damit das Gebiet des möglicherweise Zweifelhaften in der wissen= schaftlichen Darstellung des Völkerrechts thunlichst eingeschränkt werde, ist es von Wichtigkeit den sachlichen Inhalt der Völkerrechtsregeln von dem Inhalt anderer Regeln des menschlichen Verhaltens gegenständlich zu sondern. Anzuerkennen ist daher zuvörderst: daß nicht alle Beziehungen der Staaten zu einander einen Rechts character an sich tragen. 2) Nicht jede Streitfrage, die im Verkehr der Nationen auftaucht, ist einer wissenschaftlich haltbaren, oder gar juristisch correcten Lösung fähig. Man kann nicht einmal behaupten, daß diese den Mitteln der Wissenschaft unzugänglichen Streitig= keiten der internationalen Praxis die unwichtigeren im Vergleich zu den rein juristischen Streitfragen wären. 3)

Nimmt man daher, wie in Wirklichkeit geschehen muß, die Völkerrechtswissenschaft in ihrer Vollendung nicht als eine von einzelnen anerkannten Autoritäten auf der Basis ihres nationalen Bewußtseins entwickelte Theorie, sondern als eine aus dem übereinstimmenden wissenschaftlichen Bewußtseinszustande der Culturstaaten hervorgegangene und in der Staatspraxis allge= mein wirksam gewordene Macht des Rechtsgedankens, so ist von wesentlicher Bedeutung, daß die Beziehungen der Völkerrechtsregel nicht nur zu anderen Rechtsregeln, sondern auch zu anderen Normen des staatlichen Handelns in Hinsicht der Verwandtschaft und der Gegensäglichkeit festgestellt werden.

1) Daß dies wirklich der Fall, beweisen die Vorbehalte und Reservationen, welche bei Congreßverhandlungen oder auf Conferenzen den Protokollen zu dem Zweď von einzelnen Mitgliedern einverleibt werden, um den von ihnen nicht gewollten möglichen Schlußfolgerungen aus vorangegangenen Willenserklärungen vorzubeugen.

2) Zu weit und darum fehlerhaft sind diejenigen Definitionen des Völkerrechts, in denen Rechts norm und Norm überhaupt nicht unterschieden werden. So Hartmann (Institut. des praktischen Völkerrechts, § 1:,,Das Völkerrecht ist der Inbegriff der Normen, welche die Beziehungen der Staaten und Völker untereinander regeln").

3) Faßt man die Gesammtheit der internationalen Beziehungen ins Auge, so laffen sich folgende Hauptkategorien sondern :

1. Solche Beziehungen der Staaten und Völker, welche lediglich rechtlicher Natur sind und daher durchaus nach juristischen Gesichtspunkten geprüft werden können, z. B. die Stipulationen eines Staatsvertrages. Die Einmischung nicht juristischer Erwägungen ist alsdann zurückzuweisen.

II. Solche Beziehungen der Völker, welche außerhalb der positiven Rechtsordnung oder neben ihr stehen, daher nach ethischen oder politischen Gesichtspunkten zu prüfen sind z. B. die Erwerbungen von Colonien, die vorbereitenden Schritte zum Abschluß von Bündnißverträgen, die Einleitung oder der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, die Gleichgewichtsbestrebungen.

III. Beziehungen gemischter Art, in denen politische mit rechtlichen Erwägungen concurriren z. B. hinsichtlich der Einleitung einer Intervention.

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Beziehungen des Völkerrechts zu anderen Materien. Literatur: Heffter, Völkerrecht § 4. F. v. Martens, Völkerrecht (Ausgabe von Bergbohm), Bd. I, § 42. G. Sandonà, Trattato di diritto Internaz. moderno (1870), S. 16ff.

Handelt es sich um die Anwendung einer an sich feststehenden Völkerrechtsvorschrift auf ein dem internationalen Verkehr angehörendes thatsächlich unbestrittenes Verhältniß, so wird Zulässigkeit und Nothwendigkeit der juristi schen Subsumtion des letteren unter bestimmte Rechtsäße nach den allge= meinen, wissenschaftlich gerechtfertigten Grundfäßen der Auslegung zu erfolgen haben. In dieser Hinsicht besteht kein irgend wie formal erheblicher Unterschied zwischen den Normen des Völkerrechts und denjenigen anderer Rechtsmaterien.

Dagegen gewinnt für das positive Völkerrecht nicht selten die Frage eigen= artige Bedeutung: ob bestimmte, rechtlich bindende Vorschriften für einzelne Rechtsverhältnisse überhaupt bereits gegeben sind und welche Staaten dadurch verpflichtet werden? Und vom Standpunkte der reinen Theorie wäre auch im Falle der Verneinung dieser Frage weiter zu untersuchen, ob ein juristisch unbestimmt gebliebenes Verhältniß des internationalen Verkehrs rechtlicher Bestimmbarkeit unter den obwaltenden historischen Thatsachen fähig erscheint.

Im Privatrecht kann eine solche Vorfrage kaum vorkommen, weil der Richter in Ermangelung einer ihn leitenden Gesetzesvorschrift auf den freien Privatwillen der Betheiligten zurückzugehen und seine Entscheidungen

im einzelnen Falle nach der Richtschnur der Analogie zu treffen und auf Präfumtionen zu stüßen vermag. Dagegen gewinnt schon im Staatsrecht, überall dann wenn der Richter über die Verfassungsmäßigkeit einer publizirten Verordnung oder Gesetzesvorschrift zu befinden hat, die Untersuchung eine weitreichende Wichtigkeit, ob die Organe der Höchstgewalt sich innerhalb des ihr zugewiesenen Wirkungskreises bewegt haben, als sie bestimmte Normen der Entscheidung für den Richter aufstellten und publizirten.

In der Natur der völkerrechtlichen Verhältnisse liegt es also, daß die Vorfrage, betreffend das Vorhandensein irgend welcher anwendbaren völkerrechtlichen Norm häufiger, als in anderen Rechtsmaterien, auftreten wird. Ihre Beantwortung bietet dann auch größere Schwierigkeiten als dort, wo es sich um das Vorhandensein eines Geseßestertes handelt und lediglich der Thatbestand ordnungsmäßiger Publication zu prüfen ist.

Das Vorhandensein eines Gesezes ist im Streitfalle zuleßt überall eine Thatfrage, die der Richter ohne eingehende wissenschaftliche Untersuchung in der einen oder der andern Richtung nicht feststellen kann. Ebenso ist auch das Vorhandensein und das Anwendungsgebiet völkerrechtlicher Normen in zahlreichen Fällen erst dann mit Sicherheit festzustellen, wenn die streitigen Thatsachen einer stillschweigenden Anerkennung vorangegangener, rechtlich fortwirkender Thatbestände entschieden worden sind. Solche Vorentscheidungen sind erfolg= reich nur in der Art zu treffen, daß sie von einer wissenschaftlichen Methode getragen sein müssen, deren Geltung nicht blos durch die juristische Dogmatik einzelner Staaten, sondern vielmehr auch durch Herbeiziehung aller derjenigen Hülfsmittel gestüßt wird, die im weitesten Umfange aller die Völkerrechtsge= nossenschaft ausmachenden Staaten Bedeutung gewinnen können, daher denn auch nicht nur die logischen, sondern auch die ethischen und politischen Momente der Rechtsbildung bei der Darstellung des positiven Völkerrechts zu würdigen sind.

Andererseits muß bei der Lösung solcher Vorfragen alles dasjenige forg fältig fern gehalten und ausgeschieden werden, was sachlich außerhalb der rein rechtlichen Beziehungen der Nationen gelegen ist.

Der Prozeß der Sonderung des Rechtsstoffes von anderen nicht gleichartigen Materien erscheint um so nothwendiger, als die Anwendung der Völkerrechtsnorm in der Mehrzahl der Fälle durch solche Organe geschieht, welche regelmäßig außerhalb des rein juristischen Berufs der Rechtsprechung zu wirken bestimmt sind. Die Magistratur der Diplomatie übt gleichzeitig die Funktionen der Politik, der internationalen Staatsanwaltschaft, der Advokatur und des schiedsrichterlichen Amtes, ohne an formale Vorschriften des Prozesses ge= bunden zu sein.

Wenn schon das ordentliche Gerichtsverfahren in Civil- und Straffachen während des Verlaufes der Rechtsgeschichte von den mannigfachsten Störungen beeinflußt war und noch heute gewissen Einwirkungen unterliegen kann, deren der Richter sich nicht immer klar bewußt wird, so erscheint es vollkommen er

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