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um so die Verständigung im Wege der friedlichen Verhandlung zu erleichtern. Die Gefahr einer förmlichen processualischen Niederlage in großen öffentlich rechtlichen Streitfragen erscheint naturgemäß den Staatsgewalten bedenklicher, als die freiwillige Preisgabe minder wichtiger Interessen im Wege freundlicher Verständigung.

Haben Staatsregierungen zur Beilegung solcher Streitfachen im Wege diplomatischer Verhandlung sich mit einander verständigt, so kann das Ergeb= niß solcher Verständigung niemals als ein Präjudicat angesehen werden, wenn späterhin ähnliche Fälle zur Entscheidung des Richters gelangen, es sei denn, daß im Wege der Verhandlung die uneingeschränkte Anerkennung eines bis dahin bestrittenen Rechtes gewonnen worden wäre.

Im übrigen hat jeder Richter auch im Verhältniß zum nationalen, eigenen Rechte und seiner Quellen sich stets zu vergegenwärtigen, daß bei der Bemessung ihrer Anwendbarkeit das völkerrechtliche Princip soweit gewürdigt wer= den muß, als der Gesetzgeber seine Absichten überall vernünftiger Weise im Hinblick auf anerkannte völkerrechtliche Verpflichtungen einschränkt und einen Widerspruch gegen dieses feststehende Anerkenntniß nirgends gewollt haben kann.

Ein Theil der nicht wegzuleugnenden Unvollkommenheiten des gegenwärtigen Völkerrechtszustandes beruht darauf, daß einerseits bei der freieren und formlosen, an feinem Prozeß gebundenen Behandlung völkerrechtlicher Streitig keiten durch die Diplomatie eine constante Praxis rechtlicher Ueberlieferungen sich nur schwer zu bilden vermag, andererseits der Civil- und Strafrichter innerhalb der ihn berührenden Praxis nur schwer einen Einblick gewinnt in die Bedeutung der wichtigsten und allgemeinsten, auch von ihm zu beachtenden Völkerrechtsgrundsäge, die nur deswegen in den Gesetzgebungsacten nicht ausdrücklich erwährt werden, weil sie als überall gültige vom Gesezgeber vorausgesezt wurden. Schon aus diesem Grunde würde es für den Fortschritt des Völkerrechts wichtig sein, nicht nur den Staatsregierungen eine Einflußnahme auf die das internationale Recht berührenden Gerichtsentscheidungen, sondern auch den höchsten Gerichten eine berathende Stimme bei der Beilegung von diplomatisch behandelten Rechtsstreitigkeiten einzuräumen.

§ 33.

Verhältniß der Völkerrechtsquellen zur Wissenschaft. Literatur: Puchta, Gewohnheitsrecht (1828) Bd I, S 78ff D. Kalten: born, Kritik des Völkerrechts (1847) S. 235 ff.

Daß die Wissenschaft keine unmittelbar Recht sehende Macht in sich trage und weder mit der Gewohnheit, noch mit der Gesetzgebung auf dieselbe Stufe gesezt werden darf, war bereits aus der Bestimmung ihrer Aufgabe zu folgern (f. oben § 13). Die Jurisprudenz als Theorie genommen, hat keinen anderen

Zweck als den, bestehendes Recht nach allen Richtungen seines Daseins, seines Entstehungsgrundes, seines ethischen Gehaltes und seiner Zweckmäßigkeit zu

erkennen.

Bergliedert man aber die völkerpsychologischen Momente, die den Willen des Gesetzgebers in innerstaatlichen Angelegenheiten oder den über internationale Verhältnisse disponirenden Contrahenten mitbestimmen und beeinflussen, so kann die Wissenschaft, als intellectuelle Potenz der Rechtserzeugung oder, wie man dies gleichfalls ausgedrückt hat, als indirecte, mittelbare Rechtsquelle mit demselben Rechte angesehen werden, mit welchem ehemals Gewissensforderungen der Religion oder richtiger das religiöse, im Glauben und Cultus geäußerte Gefühl des Volkes als (innere) Rechtsquelle galt, obschon die Wissenschaft zu keiner Zeit denjenigen Grad der Einheitlichkeit, Allgemeinheit und Stabilität im Volksleben zu gewinnen vermag, den der Volksglaube durch Offenbarungen empfängt oder zu empfangen meint.1)

Diesem indirecten, aufklärenden Einfluß auf den Recht sehenden Willen der Staatsgewalten kann aber nicht blos die Rechtswissenschaft, sondern auch jede andere Wissenschaft überhaupt erlangen. Sogar die Naturwissenschaft würde als eine Quelle der Rechtserzeugung aufgefaßt werden dürfen, wenn man darauf Gewicht legt, daß vor dem Abschluß von Verträgen, zumal in neuerer Zeit, technische Voruntersuchungen zu führen sind, um über Gegenstand, Zweck und Mittel der Staatsverträge im einzelnen Fall die erforderliche Klarheit zu gewinnen. Troßdem dürfte so leicht niemand daran denken, astronomische oder meteorologische Wissenschaft als Quelle der auf alle Seeschiffahrt bezüglichen Völkerrechtsregeln anzusehen.

Die specifische Bedeutung der Rechtswissenschaft, vermöge welcher ihr die Eigenschaft einer wirklichen Rechtsquelle ehemals irrthümlich beigelegt wurde und noch heute zuerkannt wird, liegt nicht in der Erkenntniß der bei der Gesetzgebung in Betracht zu ziehenden Gegenstände, sondern vielmehr in der Bestimmung der Wirkungen, welche der neu erscheinende Wille gefeßgebender Gewalten auf das bereits vorhandene, rückwärts liegende ältere Recht und auf die vorwärts liegenden Fälle zukünftiger Anwendung ausüben kann oder muß. Da kein Gesetzgeber im Augenblic seiner Willensbethätigung im Stande ist, überall diese Wirkungen vollständig vorauszusehen, so wird die Rechtswissen= schaft zu einer die Bewegung der Rechtspraxis ausgestaltenden Macht, die dem gleichsam unbewaffneten Auge des Gesetzgebers in derselben Weise aushilft, wie das Mikroscop oder das Telescop das Auge des Naturforschers unterstüßt. - Die Basis der practischen Rechtskenntniß ist einerseits die Erfahrung von der Unzulänglichkeit der dem Gesetzgeber zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel ausdrücklicher und erschöpfender Erklärung seines Willens, andererseits die Selbsterkenntniß jedes Gesetzgebers, die thatsächlichen Fälle der zukünftigen Anwendung oder Nichtanwendung seiner Saßung im Voraus erschöpfend nicht voraussehen zu können. Indem diese Erfahrung einerseits den Gesetzgeber in jedem einzelnen Lande zur Hesignation und Selbstbeschränkung

nöthigt, wird sie andererseits zu einer das Bewußtsein des Richters in der Rechtsanwendung beherrschenden Macht.

Hierbei muß allerdings für die Bemessung der der Völkerrechtswissenschaft zukommenden practischen Bedeutung zweierlei erwogen werden.

Erstens: daß die Methoden der Jurisprudenz bis zu einem gewissen Maße von der Grundbeschaffenheit der ihrer Erforschung unterstellten Rechtsverhältnisse abhängig sind.

Die Methoden des Privatrechts sind nicht ohne Weiteres in allen Fällen auf das öffentliche Recht zu übertragen. Die Zulässigkeit der Analogie, deren Unentbehrlichkeit für den Civilrichter von Niemand bestritten wird, kann für den Strafrichter geleugnet werden oder geradezu unzulässig erscheinen. Und schwerlich dürfte gegenwärtig behauptet werden, daß die Völkerrechtswissenschaft bei der Entscheidung internationaler Streitigkeiten das Verhältniß zweier (unabhängiger) Staaten nach Analogie der Privatrechtsbeziehungen zweier (von der Gesetzgebung ständig beherrschter) Individuen zu befolgen habe.

3weitens: kann der Grad der Abhängigkeit des richterlichen Bewußtseins gegenüber der Rechtswissenschaft in den verschiedenen Ländern der Völkerrechtsgemeinschaft sehr ungleich sein. Nicht alle nationalen Rechtsordnungen sind in das Stadium systematischer oder theoretischer Erkenntniß gelangt. Ungleichheiten der Gesammtcultur bedingen nothwendiger Weise auch Ungleichheiten der Rechtscultur. Manche Staaten befinden sich im Stadium der auf allgemein geltende Gewohnheiten basirten Rechtsprechung, andere Staaten sind zu umfassenden Codificationen gelangt. Je nachdem das Eine oder das Andere der Fall ist, muß auch die historische Stellung der Rechtsquellen und des Richters zur Rechtstheorie eine ungleiche, bald freiere, bald eingeschränktere sein. Englische und Amerikanische Richter sind an die überlieferten, auf Gewohn= heit ruhenden Präjudicate in höherem Maße gebunden, als Französische oder Deutsche Gerichtshöfe, die den Geist der Gesetze aus der Gefangenschaft des Buchstabens zu befreien haben.

Somit kann sich folgendes Resultat ergeben:

1. Die Jurisprudenz, die als Quelle der Rechtserkenntniß oder der Rechtsanwendung für das nationale Recht einzelner Staaten anerkannt sein kann, braucht darum noch nicht nothwendiger Weise dieselbe Eigenschaft als Erkenntnißquelle des internationalen Rechts für solche Staaten erlangt zu haben, deren Entwickelungsstufe das Stadium wissenschaftlicher Erkenntniß des Rechts überhaupt noch nicht erreicht hat.

2. Als wissenschaftlich begründet kann eine Völkerrechtsnorm nur durch Theorie und Gerichtspraxis solcher Staaten bezeugt werden, deren Culturentwickelung über das Stadium des reinen Volksrechts hinausgeschritten, in den Zustand des Juristenrechts gelangt ist.

3. Wenn die Methoden rechtswissenschaftlicher Erkenntniß innerhalb des Gesammtgebietes mehrerer nationaler Rechtssysteme verschieden sind, so kann in zweifelhaften Fällen als Sag der Völkerrechtswissenschaft, zur Beilegung internationaler Rechtsstreitig= feiten nur dasjenige herbeigezogen werden, was als übereinstimmendes Ergebniß der verschiedenen Methoden angesehen werden muß.

Man erkennt hieraus, daß der Untersuchung der rechtswissenschaftlichen Methoden und ihres relativen Werthes eine praktische Bedeutung gerade für die internationalen Beziehungen der Staaten nicht abgesprochen werden kann und daß der Streit zwischen der historischen und philosophischen Rechtsschule die Gränzen eines nur theoretischen Interessenstreites weitaus überschreitet. Andererseits ergiebt sich aus diesen Vorfragen, die hier in der Lehre von den Rechtsquellen nur angedeutet werden können, eine weitere Bestätigung für die bereits früher gerechtfertigte Aufstellung, daß ein practisch brauchbares Völkerrechtssystem auf der Grundlage des bloßen Vertragsrechtes oder gar ge= wisser einzelner Vertragsschlüsse nicht aufgebaut werden kann.

Für die Gegenwart und die nächste Zukunft erscheint diejenige Verschiedenheit in der Jurisprudenz des Völkerrechts als die bedeutsamste, welche sich an die Staatengruppirung solcher Länder anschließt, die entweder von dem Princip des Römischen Rechts oder von demjenigen des Englisch-Amerikanischen, vorwiegend Germanischen Rechts, beherrscht sind.

Zur Erscheinung kommt die Wissenschaft des Völkerrechts in der Literatur, und ihren möglicherweise sehr verschiedenen Richtungen. Als selbstverständlich muß angenommen werden, daß die Literatur des philosophischen Völkerrechts für die Positivität eines Rechtssages zum Zeugniß nicht herbeigerufen werden kann. Auch wäre es irrig zu meinen, daß die Wissenschaft nur in Lehrbüchern oder Systemen und Abhandlungen der Theoretiker zu finden sei. Im Gegen= theil können auch die Entscheidungsgründe gerichtlicher Urtheile von hohem wissenschaftlichen Werthe fein. Der größere oder geringere Werth aller wissenschaftlichen Erkenntnißmittel ist in jedem einzelnen Falle nach denselben Grundfäßen zu prüfen, in Gemäßheit welcher die innere Glaubwürdigkeit, Sachver= ständigkeit und Unbefangenheit im Beweisverfahren richterlich zu prüfen ist. Allgemein bedingungslos in Streitfragen und überall in der Völkerrechtsliteratur anerkannte Autoritäten giebt es nicht.

Wenn es richtig ist, daß die Meinung eines angesehenen Völkerrechtslehrers vornehmlich dann Gewicht haben müsse, wenn dieser sich gegen Ansprüche seiner eigenen Nation erkläre, so wird andererseits auch das durch Uebersetzungen in fremde Sprachen gewonnene Verbreitungsgebiet ge= wisser Lehrbücher des positiven Völkerrechts sich als Anzeichen verwerthen lassen, aus welchem die Autorität der Schriftsteller gefolgert werden darf.

1) Oppenheim scheint die Wissenschaft zu den Quellen des positiven Rechts zu zählen, indem er sagt: „Die Wissenschaft allein hat die Aufgabe und die Vollmacht, die Geseze des Völkerrechts zu codificiren“ (System des Völkerrechts, 2. Ausgabe, S. 6).

§ 34.

Interpretation der Völkerrechtsquellen.

Austin,

Literatur: v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts. Bd. I, § 32.
Mailher de Chassat, De l'interprétation des lois. Paris 1822.
Powell, On contracts. New-York 1825. Bd. I, S. 221-247.
Lectures on jurisprudence, 1863. II, 1025 ff. - Th. Sedgwick, A trea-
tise on the rules, which govern the Interpretation and Construction of
Statutary and Constitutional Law. 2. ed. 1874. F. Lieber, Legal
and political Hermeneutics. 3 ed. by W. Hammond. St. Louis 1880.
S. 138-182. F. Wharton, Commentaries on Law (1884) § 604.

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Bei der Auslegung1) der in den Völkerrechtsquellen enthaltenen, streitig gewordenen Vorschriften gelten im Allgemeinen die von der Wissenschaft und Praris des Rechts überall angenommenen Regeln. Vorausgesetzt wird aber dabei, daß die Eigenart völkerrechtlicher Verhältnisse die ihr gebührende Berücksichtigung finde. Eine nur im Privatrecht anwendbare Regel kann nicht ohne Weiteres auf internationale Beziehungen übertragen werden. Darum ist bei= spielsweise von Hause aus in Erwägung zu nehmen, daß zahlreiche Rechtsgeschäfte der Privatpersonen entweder wegen Unzulänglichkeit persönlicher Erfahrung oder sprachlich technischer Bildung oder im Vertrauen auf den Rückhalt juristischer Kunst der Sachverständigen und Richter mangelhaft und in unvollkommener Weise abgeschlossen werden, folglich auch aus diesem Grunde hinterher einer nachhelfenden, die Mängel corrigirenden Auslegung bedürftig sind, während in staatlichen Angelegenheiten die höchsten, mit fachmännischer Kenntniß ausgerüsteten Machtorgane, die regelmäßig die technische Erfahrung des Richters auf diplomatischem Gebiete überragen, mit dem Vorsaße thätig werden, alle denkbaren Zweifel durch sorgfältigste Vorbereitung abzuschneiden und der späteren Auslegungsbefugniß möglichst wenig oder gar nichts vorzubehalten. Das Verhältniß der Sachverständigkeit zwischen richtenden Personen und streitenden Parteien ist im Vergleich zum Privatrecht das umgekehrte, wenn die Sache an die ständigen Civilgerichte gelangt

Die Schwierigkeiten, die sich der Auslegung der Völkerrechtsquellen entgegenstellen, wurzeln vornehmlich in zwei Verhältnissen.

Zunächst in dem oft hervortretenden Mangel einer ständigen, autoritativen Gerichtsbarkeit, die im Stande wäre, die Wechselwirkung zwischen ju ristischen Begriffsentwickelungen auf internationalem Gebiet in Einklang zu halten mit dem zu ihrer Darstellung erforderlichen Apparat der Wortbildung.

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