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haupten. Auch die Bildung eines bosnischen oder bulgarischen Staates läuft unseren Interessen nicht zuwider, und da die Scheu der Magyaren und Deutsch-Oesterreicher vor der Nachbarschaft füdslawischer Kleinstaaten nur aus unklaren gemüthlichen Stimmungen entspringt, so wird auch Desterreichs Widerstand dereinst, Angesichts vollendeter Thatsachen, schwerlich unüberwindlich sein. Es bleibt aber der Grundgedanke des Dreikaiserbundes, daß die großen Aenderungen im Osten nicht ohne die Zustimmung der Verbündeten erfolgen sollen. Das geschwächte und ermattete Preußen der zwanziger Jahre hat einst beim Frieden von Adrianopel das entscheidende Wort gesprochen; das erstarkte Deutschland kann noch weniger daran denken, die Ordnung der türkischen Verhältnisse den Russen zur alleinigen Verfügung preiszugeben. Wenn die russische Krone mit stillschweigender Zustimmung der beiden anderen Kaisermächte den Krieg beginnen sollte, so wird sie wissen, daß ihre Bundesgenossen für sich und für die anderen europäischen Mächte das Recht der Mitentscheidung beim Friedensschlusse beanspruchen. Der vertraute Verkehr, der den Petersburger mit dem Berliner Hofe verbindet, bürgt dafür, daß man an der Newa längst die Grenzen kennt, welche Deutschlands Freundschaft nicht überschreiten kann.

Sicherung der Rechte der orientalischen Christen, sei es durch ernsthafte Verwaltungsreformen, sei es durch die Errichtung südslawischer Staaten, aber keine Störung des Friedens in Westeuropa und keine Vergrößerung des russischen Reichs - dies sind die Ziele, welche die deutsche Politik sich gesetzt hat, und mindestens die Erhaltung des Friedens im Westen ist ihr bisher über alles Erwarten hinaus gelungen. Sie darf sich auf die Zustimmung der ungeheuren Mehrheit der deutschen Nation verlassen. In unserer Presse beginnt seit dem widerwärtigen Schauspiele des serbischen Krieges eine bedenkliche Begriffsverwirrung überhandzunehmen; nur die der Regierung nahe stehenden Blätter und einige angesehene Organe des Liberalismus in Berlin, in Schwaben und den Hansestädten bewahren sich noch ein unbefangenes Urtheil. Jene vollständige Unkenntniß der europäischen Machtverhältnisse, die von Alters her eine berechtigte Eigenthümlichkeit des deutschen Radicalismus war, offenbart sich wieder in dem sinnlosen Phrasenschwall der Berliner demokratischen Blätter; die Presse der Ultramontanen predigt wilden Haß gegen das schismatische Rußland, den Bändiger des katholischen Polens; und leider stimmen auch viele liberale Blätter in diesen buntgemischten Chor ein, so die beiden im Ausland am Meisten gelesenen deutschen Zeitungen, die Kölnische und die Augsburger Allgemeine. Nichts vergessen zu wollen ist eine Unart des deutschen Geistes, die mit der höchsten Kraft unseres

Wesens, mit der Treue, fest verwachsen scheint. Wie wir in der Fortschrittspartei eine Fraction besißen, die eigentlich nur von alten Erinnerungen und altem Grolle lebt, so giebt es auch unter den Publicisten manchen wohlmeinenden Mann, der in einer gänzlich veränderten Weltlage die Russenfurcht des Jahres 1854 hartnäckig festhält. Doch die Presse ist zum Glück nicht die öffentliche Meinung. Die deutsche Nation liebt die Slawen nicht, sie weiß auch, wie ingrimmig wir von einem guten Theile unserer östlichen Nachbarn gehaßt werden, und gleichwohl denkt sie frei und gerecht genug um den Slawen das gute Recht nationaler Staatenbildung nicht zu mißgönnen. Sie hat in ihren eigenen Einheitskämpfen die engherzig reaktionäre Gesinnung des heutigen Englands genugsam kennen gelernt und läßt sich durch die abgestandenen Lobpreisungen der britischen Freiheit nicht mehr täuschen; sie begreift sehr wohl, daß wir heute einen Weltkrieg auszufechten hätten, wenn das Reich den thörichten Rathschlägen der Anglomanen gefolgt wäre. Ueber die wahre Gesinnung des deutschen Volkes besteht kein Zweifel mehr seit dem durchschlagenden Erfolge der Rede des Reichskanzlers; der Eindruck jener einfachen Worte war so stark, daß selbst der Abgeordnete für Meppen nicht zu widersprechen wagte und sogar einige radikale Blätter eine halbe Zustimmung aussprechen mußten.

Also gestüßt auf den Willen der Nation kann die deutsche Krone mit einiger Ruhe den nächsten Akten des orientalischen Trauerspiels entgegensehen. Die gemäßigten Zusicherungen des Petersburger Hofes würden das ist der Lauf der Welt wenig bedeuten, wenn Rußland hoffen könnte seine Fahnen in raschem Siegeszuge bis vor die Mauern von Stambul zu tragen. Ein so leichter Erfolg der russischen Waffen ist aber keineswegs wahrscheinlich. Wohl ist das Schlagwort von dem Koloß auf thönernen Füßen längst zum alten Eisen geworfen; das Czarenreich gebietet über eine gewaltige Macht, und auch ihre Nutzbarkeit ist erheblich gestiegen, das Eisenbahnnetz des Reiches hat sich binnen fünfzehn Jahren von 500 auf mehr denn 17,000 Werst erweitert; die bitteren Lehren des letzten orientalischen Krieges sind in der Armee nicht unbe herzigt geblieben, und die Festungen des Balkans scheinen für die moderne Artillerie nicht mehr uneinnehmbar. Doch die ungeheuren Hemmnisse, welche das unwirthliche, ungesunde, straßenarme Land von jeher vorrückenden Heeren entgegengestellt hat, bleiben noch heute die gleichen. Die Türkei gebietet heute über den Pontus, der ihr im Jahre 1828 verschlossen war, und über ein tapferes kampfgewohntes Heer, das freudig für die heilige Sache des Islam gegen den alten Erbfeind kämpfen wird. Der Ausgang des Feldzugs erscheint sehr unsicher, und den Höfen von

Wien und Berlin wird schwerlich die Gelegenheit fehlen, zur rechten Zeit ein gewichtiges Wort zu sprechen, falls der Rausch des Sieges den Uebermuth des Panslawismus erwecken sollte.

Jeder Krieg spottet der Voraussicht. Es bleibt ja denkbar, daß die Seelenangst der englischen Handelspolitik schließlich doch noch die Welt durch einen neuen Opiumkrieg erfreut, daß die muhamedanischen Reiterregimenter der Kaiserin von Indien, begleitet von den Segenswünschen gottseliger Reverends, für den chriftlichen Halbmond in den Kampf ziehen. Bisher jedoch läßt sich Alles so an, als sollte die große Schicksalsfrage der orientalischen Politik, die Zukunft Konstantinopels diesmal noch nicht entschieden werden. Der türkische Krieg ist für Rußland ein ungeheures Wagniß. Kein Europäer weiß, was in den Seelen der acht Millionen muhamedanischer Unterthanen des weißen Czaren vorgeht, wie viel das Wort des Scheikh-ul-Islam und das Ansehen des Khalifen bei diesen Massen noch gilt, und welche Folgen ein Aufflammen der Glaubenswuth der Streiter Allahs für Rußland wie für Englands ostindische Herrschaft haben kann. Wie der Krimkrieg einst eine tiefeinschneidende sociale Umwälzung über Rußland herraufführte, so kann ein langdauernder neuer orientalischer Krieg leicht die hochgefährlichen Mächte des radikalen Nihilismus, welche in der moskowitischen Halbbildung gähren, zu wildem Kampfe entfesseln ganz zu geschweigen des unbelehrten polnischen Adels. Das Ezarenreich hat der wunden Stellen genug. Das noch unvollendete große Reformwerk des Kaisers bedarf des Friedens; das kaum erst wiederhergestellte Gleichgewicht im Staatshaushalte muß durch einen langen Krieg unfehlbar verloren gehen. In der That deutet auch der mäßige Umfang der russischen Rüstungen nicht auf die Absicht einen Stoß in's Herz der osmanischen Macht zu führen. Vielleicht ist der Staat vorderhand noch nicht im Stande mehr als 200,000 Mann für einen auswärtigen Krieg zu verwenden; jedenfalls wird man sich in Petersburg eingestehen müssen, daß ein solches Heer heutzutage geringe Aussicht hat vom Pruth her die Stadt der Komnenen zu erreichen.

Ueberall in den Landen des Mittelmeers begegnen uns unfertige, unreise Verhältnisse. Die mediterranische Welt krankt an zwei großen Uebeln an der Seeherrschaft Englands und an der rettungslosen Fäulniß des Osmanenreichs. Aber die jungen Kräfte, welche diese verlebten Mächte dereinst verdrängen können, sind noch im Werden. Das griechische Volk, das durch Stammesart und Weltstellung berufen scheint den besten Theil aus der Hinterlassenschaft des kranken Mannes an sich zu nehmen, hat seine kriegerische Kraft schwer vernachlässigt. Wenn die Numänier mit einigem Grunde erwarten können, durch das russische Bünd

niß sich die volle Unabhängigkeit zu erwerben, so darf Griechenland für jezt im allergünstigsten Falle nur hoffen seine Grenzen etwas weiter nach Norden vorzuschieben. Noch trauriger liegen die Dinge im Westen. Nur wenn das Centralland des Mittelmeeres, das die schönsten Häfen des Südens besitzt und mit seiner Sprache noch heute den Handel der Levante beherrscht, nur wenn das alte seegewaltige Italien wieder zur Erkenntniß seiner welthistorischen Aufgaben erwacht, werden die verschrobenen Zustände des mediterranischen Verkehrs sich wieder frei und menschlich gestalten; und Niemand kann diese große Wendung aufrichtiger wünschen als wir Deutschen, die Schicksalsgenossen der Italiener. Schon Napoleon sagte: die erste Lebensbedingung für ein Königreich Italien ist eine Seemacht zu werden. Doch selbst der traurige Tag von Lissa hat die Italiener nicht zu dem Entschlusse gebracht ihre Flotte in großem Sinne neu zu gestalten; der Ehrgeiz der römischen Staatsmänner erhebt sich heute höchstens zu der Frage, ob man vielleicht Tunis erobern könne beim Zusammensturze des türkischen Reichs. So erscheint die Lage im Süden nach allen Seiten hin unvorbereitet für eine große Entscheidung. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß die gegenwärtige Krisis wieder nur einige Steine mehr aus dem morschen Gefüge des Türkenreiches ausbricht ohne den Bau selber zu zerstören.

Wie auch die Würfel fallen mögen, wir Deutschen schwimmen nicht gegen den Strom der Geschichte. Der Grundsatz der Intervention ist in Mißachtung gefallen, seit die Heilige Allianz ihn übermüthig mißbrauchte; maßvoll angewendet behauptet er doch seine Geltung in einer Staatengesellschaft, die sich als ein Ganzes fühlt. Der türkische Staat hat alle die theueren Versprechungen, die ihm den Eintritt in unsere Staatengemeinschaft eröffneten, mit Füßen getreten. Das christliche Europa darf sich das Recht nicht nehmen lassen, diese barbarische Macht, wenn sie noch nicht vernichtet werden kann, mindestens also zu knebeln, daß sie mit ihren Rüsselschlägen die Menschenrechte ihrer christlichen Unterthanen nicht mehr zu gefährden vermag.

1877.

Das Ergebniß der lezten Wahlen.

Berlin, 5. Februar 1877.

So oft die große Sphinx des allgemeinen Stimmrechts ihre Lippen geöffnet hat, pflegen Doctor Tant-pis und Doctor Tant-mieux fich in der Presse über die Bedeutung des Räthselspruchs zu streiten, und noch niemals haben die beiden Aerzte ihre Meinung so lebhaft und mit so guten Gründen verfochten, wie nach den jüngsten Wahlen. Wer nur an den Verlauf des kommenden Reichstags denkt, mag getrost den Ausfall des Würfelspiels loben, denn ein Systemwechsel wird in Folge dieser Wahlen schwerlich eintreten. Die Verfassung des norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches sowie alle die großen grundlegenden Gefeße des lezten Jahrzehnts bis herab zu dem Militärgesetz und den Justizgesetzen sind zu Stande gekommen durch das Zusammenwirken einer aus confervativen und altliberalen Elementen gemischten Regierung, die sich bemüht über den Parteien zu stehen, mit den nationalliberalen und den conservativen Fractionen des Reichstags. Zwar lieben einzelne liberale Blätter, wenn sie gegen die Regierung verstimmt sind, von einer großen liberalen Partei" zu erzählen, die von dem rechten Flügel der Nationalliberalen bis zu dem linken der Fortschrittspartei hinüber reichen soll und als die Blüthe des deutschen Bürgerthums geschildert wird. Diese ideale Partei hat nur den einen Fehler, daß sie nicht eristirt. Süße Worte richten nichts aus gegen die unbestreitbare Thatsache, daß ein guter Theil des gerühmten deutschen Bürgerthums sich seit einem Jahrzehnte darin gefällt, gegen die lebendigen Kräfte unserer Geschichte anzukämpfen. Alle Grundgeseze des deutschen Reichs wurden gegen den Widerspruch der Fortschrittspartei geschaffen. Die conservativ-liberale Mehrheit aber, welche den Gang unserer Politik bisher bestimmt hat, wird auch in dem neuen Reichstage wiederkehren.

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