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decken. Wie soll man es dann überhaupt entdecken? Giebt es einen andern Weg, um etwas zu entdecken, als Erfahrung von ihm zu machen? Man weist auf eine mystische, innere Intuition hin, durch welche man zum Bewusstsein jener apriorischen Formen komme. Ich beklage, diese Intuition nicht zu besitzen; ich kann diese Kräfte nur auf empirischem Wege durch psychologische Beobachtung und Erfahrung finden; jene metaphysische Auffassung will aber ohne Erfahrung etwas von diesen Stammformen des Geistes erfahren. Wir sehen auch nicht ein, wie die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit dieser Vorstellungsformen dadurch im geringsten leiden sollte, dass wir Kunde von ihnen erhalten auf dem Wege erfahrungsmässiger Entdeckung. Nur unsere Kenntnis von ihnen ist erfahrungsmässig entstanden, nicht sie selbst sind durch individuelle Erfahrung hervorgebracht. Wäre das letztere der Fall, so könnten sie auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit allerdings keinen Anspruch erheben. So waren die Jupitermonde am Himmel, ehe ein Menschenauge sie gesehen hatte; nur die Kenntnis von ihnen, nicht sie selbst sind erfahrungsmässig entstanden. Mit dem Menschengeist verhält es sich aber in dieser Hinsicht nicht anders als mit der äusseren Natur; auch in ihm lagen und wirkten Kräfte, ohne dass und ehe der Mensch, ihr Besitzer, Kenntnis von ihnen hatte. Die generellen Kräfte des Menschengeistes (seine naturgesetzliche Einrichtung) sind für die ganze Gattung Mensch notwendig und allgemeingültig, und daran ändert nichts, dass wir sie erfahrungsmässig entdecken. Verliert der Blutumlauf dadurch etwas von seiner Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit für den menschlichen Organismus, dass seine Entdeckung durch Harvey eine historisch bedingte ist? Wir machen jene Kräfte nicht erst, sie sind; wir finden sie nur auf; unser Wissen von ihnen ist geschichtlich bedingt und kann, wie es gewonnen ist, wieder verloren gehen sie selbst bleiben gleichwohl in jedem Menschengeiste in notwendiger Wirksamkeit.

Ein viertes zurückzuweisendes Missverständnis liegt endlich noch darin, dass man das Apriori und das Aposteriori als in einem Rangverhältnis zu einander stehend betrachtet und dann dem Apriori einen höhern Rang als dem Aposteriori zuweist.

Eritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft. 2. Teil.

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Diese falsche Auffassung fliesst offenbar aus der bereits verworfenen spiritualistischen Meinung hervor, dass das Apriori dem immateriellen Geiste gleichzusetzen sei und als solcher unendlich erhaben über dem aposteriorischen, sinnlichen Wahrnehmungsmaterial stehe. Es wird sich später genauer zeigen, dass eine jede Vorstellung auf Grund zweier Faktoren entsteht: des aposteriorischen Empfindungsmaterials, welches den konkreten Inhalt der besondern Vorstellung bildet, und der apriorischen Stammformen, welche jenem Empfindungsmaterial die allgemeine und jeder Vorstellung zukommende Qualität eines räumlichen, zeitlichen und kausalen Gebildes verleihen. Jeder dieser beiden Faktoren aber ist gleich notwendig und keiner um einen Grad wichtiger als der andre, denn das Empfindungsmaterial ohne die ordnende Hand jener Stammformen würde ein blosses Chaos, keine objektive Vorstellungswelt bilden, und die Stammformen als blosse Funktionen würden ohne jenes Empfindungsmaterial gar nicht in Wirksamkeit treten und aus sich heraus ohne jenes gar keinen Inhalt entwickeln, da sie lediglich Formen sind. Kant hat, wie Baumann*) richtig bemerkt,,,zu diesem Missverständnis selbst sehr Veranlassung gegeben, indem er an die apriorischen Erkenntnisse die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt anknüpfte."

Um nun das Ergebnis dieses Kapitels kurz zusammenzufassen, so behauptet der kritische Empirismus, dass das Zeitlich-, Räumlichund Kausalvorstellen ein Subjektives in uns sei, eine Funktion unsres Geistes, insofern ein Angeborenes, kein individuell Erworbenes, aber ein blos Formales, nicht ein Inhaltliches, welches ist vor, also nicht aus, jedoch in aller Erfahrung, in Aktualität tretend durch, also nicht ohne Erfahrung, Wechselbestimmungen, welche man sich völlig geläufig machen muss.

Es darf zum Schluss nicht unerwähnt bleiben, dass man, wie es einige im Sinne Darwins denkende Forscher gethan haben, hinsichtlich des Apriorischen noch einen Schritt weiter gehen kann. Die Ansicht derselben geht dahin, dass der Kritizismus wohl sozu

*) Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neuern Philosophie, Bd. II. S. 645.

sagen den anatomischen Bau des menschlichen Geistes hinsichtlich der Hauptbestandteile seines Knochensystems richtig beschreibe; darüber habe er aber gänzlich den Gesichtspunkt der genetisch-morphologischen Betrachtung vernachlässigt; sowie die heutige Biologie sich nicht bloss mit der Kenntnis der fertigen Form des vollendeten Organismus begnüge, sondern die Frage zu lösen suche, wie sich die Form allmählich entwickelt habe, ebenso müsse man auch hinsichtlich der Grundformen des menschlichen Geistes die Frage aufwerfen, ob nicht auch diese sich erst allmählich zu ihren jetzigen eigentümlichen Beschaffenheiten hin entwickelt hätten; sowie man eine Entwicklung der Sinnesorgane und ihrer Fähigkeiten annehme, oder sowie die individuellen Anlagen allmählich in der Ahnenreihe entständen, so könne man auch der Meinung sein, dass es eine Zeit gegeben habe, wo noch nicht in derselben Weise wie heute zeitlich, räumlich und kausal vorgestellt wurde; und wenn auch der Mensch von Anfang seiner Entwicklung an diese Grundformen seines Vorstellens besessen habe, da auch den höheren Tieren dieselben offenbar nicht abzusprechen seien, so könnten, eine Tierentstammung des Menschen und eine allmähliche Auseinanderentwicklung der Tiere vorausgesetzt, diese jetzt absolut unerschütterlich festen Grundformen des Geistes sich doch erst allmählich bei den niederen Tieren gebildet haben; schon die niedrigsten Tiere machten die Erfahrung, dass gewisse für sie wichtige Dinge (z. B. Nahrung) vielfach oder immer ihnen erschienen, wenn ein anderes Ding oder andere Dinge jenen wichtigen Dingen vorangegangen waren; sie machten also die Erfahrung, dass vielen Dingen ein Vording d. h. einer Wirkung eine Ursache voranginge; so entstände schon ihnen die Gewohnheit, beim Eintreten des A (der Ursache) das B (die Wirkung) zu erwarten; so entstände die Kausalverknüpfung ganz empirisch als Gewohnheitsglaube; nun entspreche aber jeder Vorstellung ein physiologisches Substrat, das sich entwickle und ausbilde mit der Wiederholung und Ausbildung der Vorstellung; so werde schon bei den niedrigsten Tieren durch jene gewohnheitsmässige Erwartung eines B nach einem A deren Nervensystem irgendwie verändert, diese Veränderung werde vererbt, in der Ver

erbung durch die stetige weitere Anwendung jener Erwartung zu einem festen Gewohnheitsglauben gesteigert, sodass endlich die höheren Tiere bereits mit einem Gehirn geboren würden, welches gar nicht anders mehr, als in diesem nunmehr für das vorstellende Wesen notwendig gewordenen Glauben, d. h. nur kausal, zu denken vermöchte. Wie mit dem Kausalvorstellen, so würde es sich ähnlich auch mit dem Zeitlich- und Räumlichvorstellen können verhalten haben.

Durch eine solche Hypothese würde offenbar Humes und Kants Auffassung hinsichtlich der Kausalität vereinigt erscheinen. Nach Hume soll der Mensch d. h. jedes Individuum für sich erst aus dem wiederholt wahrgenommenen Post hoc das kausale Propter hoc gebildet haben; daraus würde sich aber nicht die absolut unerschütterliche Überzeugung jedes Menschen von der Gültigkeit des Kausalgesetzes erklären, durch welches in jedem Moment nicht blos unser theoretisches Denken, sondern auch unser praktisches Handeln bestimmt wird, und um deretwillen der Kritizismus ihm apriorische Gültigkeit zuschreibt. Diese apriorische Gültigkeit ist zwar jetzt in jedem Menschen gleich angeboren vorhanden, also jetzt a priori so könnte man nun sagen, Kant Recht gebend aber sie ist entstanden, sei es aus der Entwicklung der Menschheit oder gar schon der ganzen Tierreihe, insofern ihrer Genesis nach a posteriori, somit Hume Recht gebend.

Diese ganze Spekulation ist indessen, genau betrachtet und offen gesprochen, völlig nutzlos, da der Beweis einer solchen genetischen Entwicklung sich hier in keiner Weise erbringen lässt. Wir können versteinerte Körperformen aus millionenjähriger Vorzeit aufweisen; sind aber aus jenen Aeonen versteinerte Geistesformen übrig geblieben? Wir können doch nur die Geistesvermögen jetzt lebender Menschen untersuchen und auf die Geistesart früherer Menschen nur aus ihren geistigen Hinterlassenschaften in den Denkmälern der Kunst und Litteratur schliessen; darauf gestützt, finden wir aber nirgends Ursache, andere Grundformen des Geistes anzunehmen, als wir sie noch heute selbst besitzen, zeigen sich dieselben doch offenbar ebenfalls noch in der höher entwickelten Tierwelt; wie die niederen Tiere sich in dieser Beziehung

verhalten, ist mindestens sehr dunkel. Wir lassen deshalb die Hypothese dieser möglicherweise stattgefunden habenden Entwicklung im folgenden um SO mehr beiseite, als die kritischen Untersuchungen durch die Annahme derselben weder gefördert, noch irgendwie verändert werden; haben wir es doch in ihnen. zur Abgrenzung unseres Erkenntnisgebietes nur mit dem zu thun, was unsere Erkenntnisvermögen sind und leisten, nicht mit dem, wie sie möglicherweise vor Urzeiten entstanden sind.

Wenn man zum erstenmal hört, dass das, was wir Zeit, Raum und Kausalität nennen, und was wir bisher für das allerobjektivste ausser uns gehalten haben, ein rein subjektives in uns sein soll, so erscheint diese Behauptung leicht als der höchste Gipfel der Absurdität und wird mit Bestürzung und Unglauben hingenommen. Wer hätte nicht, als ihm die Lehre zum erstenmal entgegengetragen ward, sich gesagt: Kann man dergleichen im Ernst behaupten? Und doch vergleicht Kant seine Entdeckung mit der des Kopernikus, und zwar mit vollem Rechte! Vor Kopernikus hatte man geglaubt, die Sonne bewege sich um die Erde. Kopernikus sagte: Gerade entgegengesetzt verhält es sich; die Erde bewegt sich um die Sonne. Und wie damals jeder, der diese Lehre hörte, sie für absurd und die reale Welt durch sie auf den Kopf gestellt hielt, so geht es auch der Lehre Kants. Vor Kant glaubte man, Zeit, Raum und Kausalität wären die Formen der ausser uns seienden Welt an sich, und unser Geist gestalte sich hinsichtlich seines zeitlichen, räumlichen und kausalen Vorstellens nach der äusseren Welt, das Geistige gestalte sich nach dem Materiellen. Kant drehte die Sache um und sagte: Zeit, Raum und Kausalität sind Formen unseres Vorstellens in uns; wie die Welt an sich ist, wissen wir gar nicht; wir können nur wissen, dass die auf uns eindringenden Eindrücke in uns in zeitlicher, räumlicher und kausaler Weise gestaltet werden. Die Welt, die wir vorstellen, unsere Erfahrungswelt (nicht die Welt an sich), gestaltet sich nach unserm Geiste und den in ihm liegenden Grundformen, das Materielle nach dem Geistigen. Früher glaubte man: unser Geist drehe sich in seinen Grundangeln um die Welt, wie die Sonne um die Erde. Jetzt heisst

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