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eben. Wollen wir jenen Begriff der Krümmung und des Krümmungsmasses auf sie anwenden, so müssen wir sagen: sie besitzt nirgends auch nur die geringste Krümmung; ihr Krümmungsmass ist also überall dasselbe d. h. gar keins; ihr Krümmungsmass ist o in mathematischer Redeweise. Somit kommen wir hier zu einer merkwürdigen Vorstellung von der Ebene, als einer Fläche, welche das Krümmungsmass = hat und sich in ihrem Krümmungsmass nirgends verändert. Fassen wir diesen Gedanken einmal ganz in abstracto auf, so können wir, rein logisch und begrifflich, als Gegensatz zu dieser ebenen Fläche uns eine Fläche denken (ganz unbekümmert darum, ob es erfahrungsmässig eine solche giebt), in welcher das Krümmungsmass nicht stets identisch bleibt, sondern sich fortwährend verändert. Dann bekämen wir folgende begriffliche Unterscheidung hinsichtlich der Fläche: 1. Flächen mit stets identischem Krümmungsmass, 2. Flächen mit sich fortgesetzt änderndem Krümmungsmass. erstere Art (die Flächen mit stets identischem Krümmungsmass) könnten wir in drei Unterarten zerlegen, nämlich:

Die

a) in solche, in denen das Krümmungsmasso ist (unsere Ebene); b) in solche, in denen das Krümmungsmass grösser als o ist (die Kugel- oder sphärischen Flächen);

c) in solche, in denen das Krümmungsmass kleiner als of ist (Flächen, von denen, da wir uns etwas, das kleiner als o ist, offenbar nicht vorstellen können, wir uns eine Anschauung allerdings nie bilden können, die also nur ihrem Begriffe nach im Gegensatz zu jenen beiden anderen Unterarten von uns hingestellt werden können, wodurch mithin weder etwas über ihre Möglichkeit oder gar Wirklichkeit, geschweige Notwendigkeit behauptet werden kann).

Die zweite Art der Flächen mit sich fortgesetzt änderndem Krümmungsmass könnten wir ebenfalls in drei Unterarten zerlegen, nämlich:

a) in solche, deren Krümmungsmass grösser als o ist (unsere bekannten Flächen, wie das Ellipsoid);

b) in solche, in denen das Krümmungsmass kleiner als o ist; und c) in solche, in denen das Krümmungsmass wechselnd sowohl grösser als o, als auch kleiner als o, als auch gleich o ist. (Von diesen beiden letzteren b) und c) können wir aber wiederum

nur in logischer Konstruktion einen Begriff aufstellen, ohne dass diesem in unserer Erfahrung irgend eine mögliche Anschauung entspräche, und ohne dass über Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit derselben das geringste behauptet werden könnte.)

Wenn wir somit sechs verschiedene Arten Flächen unterschieden haben, so müssen wir nun die Frage aufwerfen: In welcher Art und für welche Art gilt denn die Euklidische, also unsere gewöhnliche Planimetrie? Offenbar nur für die Flächen, welche Euklid kannte, und welche wir kennen, nämlich für die Flächen mit stets identischem Krümmungsmass = 0, d. h. für die Ebene und für solche Flächen, welche, wie Cylinder und Kegel, sich aus der Ebene durch Biegung ohne Veränderung der inneren Massverhältnisse bilden lassen; nur in diesen Flächen würde Euklid mit seiner Behauptung, dass die Winkelsumme im Dreieck 180° betrage, Recht haben. Wenn es aber eine Fläche gäbe, in welcher das Krümmungsmass kleiner als o wäre, so würde in dieser Fläche, die man die pseudosphärische genannt hat, die Euklidische Planimetrie nicht mehr gelten und die Winkelsumme des Dreiecks kleiner als zwei Rechte sein.

Fechner hat in dem zweiten seiner,,Vier Paradoxa" (1846) höchst witzig und geistvoll das Thema behandelt: ,,Der Raum hat vier Dimensionen". Um einen Raum von vier Dimensionen zu deduzieren, geht er von dem Verhältnis des stereometrischen zu dem planimetrischen Raume oder von dem Verhältnis des dreidimensionalen zu dem zweidimensionalen Raume aus. Er macht die Fiktion von Wesen, welche nur in zwei Dimensionen, mithin als Flächenwesen leben und vorstellen: ,,Man denke sich", sagt er*),,,ein kleines buntes Männchen, das in der camera obscura auf dem Papiere herumläuft; da hat man ein Wesen, das in zwei Dimensionen existiert. Was hindert, ein solches Wesen lebendig zu denken? Haben wir doch früher gesehen, dass sich selbst ein Schattenmann lebendig denken lässt. Dass er es ist, wollen wir hier nicht noch einmal behaupten: es ist genug, es einmal gethan zu haben; aber denken kann man sich's doch. Nun,

*) Dr. Mises, Kleine Schriften. Leipzig 1875. S. 260 f.

insofern alles Sehen, Hören, Dichten und Trachten eines bloss in zwei Dimensionen existierenden Wesens auch bloss in diesen zwei Dimensionen beschlossen wäre, so würde es natürlich ebensowenig etwas von einer dritten Dimension wissen können, als wir, die wir nur in drei Dimensionen leben, von einer vierten. Das experimentierende Schatten- oder Farbenmännchen würde ebenso auf seiner Fläche herumlaufen und vergebens nach der dritten Dimension suchen, ebenso vergebens Mikroskope und Fernröhre danach aufspannen, als unser Naturforscher nach der vierten; es kann doch mit dem Blicke sich nicht über die Fläche erheben, sondern nur in der Richtung der Fläche fortblicken. Und das philosophierende Schattenmännchen würde, da seine Begriffe sich unstreitig im Zusammenhange mit seinen Anschauungen bilden würden, ebensowenig über die Zwei als unser Philosoph über die Drei hinauskommen können. Beide würden es also für unmöglich halten, dass eine dritte Dimension existiert, dass sich durch einen Punkt mehr als zwei auf einander rechtwinklige Gerade ziehen lassen. Sie wüssten absolut nicht, wo sie die dritte anbringen sollten." Welche planimetrischen Anschauungen würde nun dieses Flächenmännchen haben? Dieselben Euklidischen wie wir? Dies offenbar nur unter der Bedingung, dass seine Fläche genau dieselbe Ebene wäre, welche wir vorstellen. Sollte aber seine Fläche die pseudosphärische mit dem Krümmungsmass kleiner als o sein, so würde auch seine Planimetrie eine von der unsrigen sehr verschiedene sein, und die Winkelsumme des Dreiecks in seiner Anschauung weniger als 180° betragen.

Aus dieser Überlegung geht also das wichtige Ergebnis hervor, dass von einer absoluten Gültigkeit der Euklidischen Planimetrie, als ob sie das Wesen eines absoluten Raumes an sich darstellte, keine Rede sein kann; dass vielmehr auch sie nur eine relative Gültigkeit hat, nämlich für den Menschen und ihm gleichartig organisierte Wesen, dass wir aber, wie Kant in der transscendentalen Ästhetik sagt,,,von den Anschauungen anderer denkenden Wesen gar nicht urteilen können, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken und für uns allgemein gültig sind."

Fläche

I.

Mit überall demselben Krümmungsmass, worin eine Figur
durch die Ortsveränderung keine Veränderung ihrer Gestalt

erleidet.

II.

Mit fortgesetzt sich änderndem Krümmungsmass, worin eine
Figur durch die Ortsveränderung eine Veränderung ihrer

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als o

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als 0.
= Sphärische
Fläche (unsere Ku-
gelfläche).

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als O.
Pseudosphä-
rische Fläche,
nur begrifflich.
Winkelsumme im
Dreieck kleiner als
2 R.

als O.
Unsere Flä-
chen wie das

Ellipsoid.

*) Kr.-M.

=

Krümmungsmass.

Wir gehen nun einen Schritt weiter und versuchen, ob wir die hinsichtlich der Fläche gewonnenen logischen Begriffsabstraktionen und -konstruktionen nicht auch auf den stereometrischen Raum von drei Dimensionen übertragen können. Wir wenden also den Begriff des Krümmungsmasses auf den dreidimensionalen Raum an und unterscheiden, wie bei der Fläche, demnach zwei Hauptarten von stereometrischen Räumen: 1. die erste Art, welche Räume mit überall demselben Krümmungsmass umschliesst; 2. die zweite Art, welche Räume mit stets sich veränderndem Krümmungsmass umfasst. Nun konnte doch auf der Fläche mit stets identischem Krümmungsmass eine jede Figur überallhin transportiert werden, ohne dass sie ihre Gestalt veränderte. Also auch der dreidimensionale Raum mit überall demselben Krümmungsmass ist ein solcher, in welchem die Gestalt jedes Körpers unverändert bleibt, wohin wir den Körper auch verschieben mögen. Ein Würfel also, wohin er auch versetzt werde, bleibt in diesem Raume doch immer der gleiche Würfel. Auf der Fläche mit fortgesetzt sich änderndem Krümmungsmass änderte eine Figur ihre Gestalt, sobald sie an eine andere Stelle versetzt wurde. Mithin auch der dreidimensionale Raum mit fortgesetzt sich änderndem Krümmungsmass ist ein solcher, in welchem ein Körper seine Gestalt beim Transport fortgesetzt ändert. In diesem Raume bleibt also der Würfel nicht derselbe Würfel, wenn er von einer Stelle nach einer anderen getragen wird, vielmehr verändert er, einem Proteus vergleichbar, seine Gestalt in jedem Moment der Verschiebung; für alles praktische Handeln wäre ein solcher Raum offenbar ein höchst bedenklicher und unheimlicher. Wir wissen, dass in unserem Raume ein Körper seine Gestalt nicht verändert, wenn er versetzt wird. Unser Raum ist also jene zweite Art Raum sicherlich nicht, noch liegt diese zweite Art irgendwie in der Möglichkeit unserer Erfahrung oder anschaulichen Vorstellung. Dieser Raum bleibt also lediglich eine begriffliche Fiktion, ohne dass durch sie über die Möglichkeit, Wirklichkeit oder Notwendigkeit einer ihr entsprechenden Existenz das geringste ausgesagt oder gar bewiesen würde; aus seinem Begriff heraus seine Existenz folgern, hiesse den Fehler des ontologischen Schlusses begehen.

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