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Wahrheit, weil sich jedem Urteil mit gleichem Recht jedes andere entgegenstellen lässt. Dem gegenüber sagt Sokrates: Wahr also wäre dasjenige Urteil, dem sich kein anderes mehr mit gleichem Recht entgegenstellen liesse, in dem vielmehr alle Menschen übereinstimmten oder, da die Urteile aus Begriffen bestehen: wahr wären die Begriffe, in denen alle Menschen übereinstimmten. Alles Forschen nach Wahrheit müsste sich also auf die allen Menschen gemeinsamen Begriffe richten. Das Ziel des Sokratismus ist also in jedem Fall der wahre Begriff eines Dinges, womit dem Zeitalter der Begriffe seine eigentümliche Bahn vorgezeichnet ist. Es bleibt vorläufig dahingestellt, ob es überhaupt derartige Urteile und Begriffe giebt. Aber so viel ist klar, dass, um das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein derselben festzustellen, kein anderer Weg sich darbietet, als erfahrungsmässig bei den Menschen umher zu forschen, worin sie übereinstimmen, worin nicht. Aus diesem fundamentalen Gesichtspunkte ergiebt sich nun mit Notwendigkeit, was man die Sokratische Methode nennt, die Art und Weise, auf welche Sokrates den Weg vom Ausgangspunkt des Nichtwissens zum Ziele des Wissens sich zu bahnen sucht. Diese Methode ist nicht eine dieser Philosophie zufällige, sondern eine in der Aufgabe derselben wurzelhaft begründete und von ihr untrennbare.

Wahr ist das, worin alle übereinstimmen, d. h. die allen gemeinschaftlichen Urteile. Wo und wie finde ich sie? Bei den Menschen, indem ich sie sämtlich frage und ausforsche. Also nur indem ich mich mit ihnen unterrede und sie im gemeinschaftlichen Denken zwinge, sich klar zu werden über das, was sie meinen. Daher Sokrates' Methode des Fragens und Forschens bei jedermann, daher die dialogische Form der organische Knochenund Muskelapparat seines Philosophierens. Daher sein Umherwandern in den Strassen Athens, sein Verweilen in den Werkstätten der Handwerker und auf den Versammlungsplätzen des Volkes. Daher seine Weigerung, unnötiger Weise die Stadt zu verlassen, sein Ausspruch, die Bäume und Sträucher könnten ihn nichts lehren, hochcharakteristisch für den, der das Denken von

der Natur ab- und auf den Menschengeist hinlenkt, der somit das Zeitalter der Naturverachtung zu inaugurieren anfängt.

Der Inhalt der sokratischen Philosophie bezieht sich dem Gesagten zufolge nicht auf die Natur; er ist vielmehr ethisch und erkenntnistheoretisch. Auf dem moralischen Gebiete ist Sokrates Revolutionär, insofern er das bisherige sittliche Prinzip des Griechentums durchbricht und überwindet und schon auf das neue christliche Prinzip der Ethik losschreitet. Der eigentliche ethische Kernpunkt des hellenischen Geistes war das Übergewicht des Sinnlichen über das Sittliche, des Schönen über das Gute, des Ästhetischen über das Ethische gewesen. Aus dieser grossartigen Vorherrschaft der schönen Sinnlichkeit waren die unübertroffenen Werke der Kunst und Poesie hervorgegangen. Aber Sokrates setzt dem Schönen als ebenbürtig an die Seite das Gute, dem xaλóv das aya Jóv, die sinnlich-schöne Form hat nur dann Wert, wenn sie einen sittlich-guten Inhalt hat; die Verbindung des Ästhetischen und des Ethischen macht das sokratische Prinzip der Kalokagathie aus. Aber in Wahrheit legt Sokrates den Accent schon weit mehr auf das Gute als auf das Schöne. In Wahrheit setzt er beide nicht in Gleichgewicht, sondern giebt dem Sittlichen das Übergewicht. Indem er aber das Sittliche als das Höhere über das Sinnliche, die sittliche Geistesschönheit als das Höhere über die schöne Körperlichkeit stellt, vollzieht er in Wahrheit den Bruch mit dem Hellenismus und trifft ihn tödlich ins Herz. Dieser Wandlungsprozess stellt sich in Sokrates Leben und Person typisch dar. In seiner Jugend hingegeben dem sinnlich Schönen, stellt Sokrates als Bildhauer die drei Grazien dar; aber er wirft den Meissel weg, um ganz übergehen zu können zur Erforschung und Bildung des sittlichen Menschengeistes. Wie in seinem Innern, so ist auch in seinem Äusseren Sokrates beinahe kein Grieche mehr: bar aller griechischen Körperschönheit, trägt er in sich eine ungriechisch schöne Seele. So steht er im Gegensatz zu seinen Landsleuten und erscheint ihnen άtолоs, seltsam und unheimlich. Man darf sich nicht wundern, dass sie den Körper dessen töten, der ihre Seele tötete. Schön und verständnisvoll hat Hamerling in seinem Roman Aspasia diesen Gegensatz des Sokratismus

und des Hellenismus dargestellt. Sokrates die Inkarnation des sittlichen Prinzips, Aspasia die fleischgewordene ästhetische Schönheit beide in stetem Gegensatz und Widerspruch und doch magisch zu einander hingezogen. Aber die Stunde der schönen Sinnlichkeit hat geschlagen. Furchtbar bricht die Pest über Athen herein. Perikles erliegt; an seiner Bahre trauert, den Todeskeim im Herzen, der griechische Genius und Dämon Aspasia. Nur Sokrates, das sittliche Prinzip, schreitet durch die von Leichen gefüllten Strassen, unversehrt und ungetroffen ihm haben Pest und Todeshauch nichts an, denn ihm gehört die Zukunft.

Richten wir jetzt unser Augenmerk auf die Verdienste des Sokrates in methodologischer und erkenntnis - theoretischer Beziehung, so ist er der erste, der mit bewusster Absicht die Methode der Induktion ausübt. Wie man aus vielen Trauben den Wein presst, so induziert er aus den vielen Ansichten der Menschen die gemeinschaftlichen Urteile, d. h. nach seiner Theorie die Wahrheit heraus. Diese durch Induktion gewonnenen gemeinschaftlichen Urteile über eine Sache geben die richtige Erklärung derselben, d. h. den genauen Inbegriff aller ihrer Merkmale oder die richtige Definition. Theorie und Praxis der Definition zuerst vor Augen gestellt zu haben, verdankt die Logik dem Sokrates. Um die richtigen Definitionen auf induktivem Wege zu finden, bedient sich Sokrates des Ausfragens, welches er künstlerisch so zu handhaben versteht, dass die Unterredung nicht als planlose Plauderei in der Irre schweift, sondern als technisch-methodisches Mittel zur schrittweisen Annäherung an die erstrebte Wahrheit dient. Dieser methodische Wechsel des Ausfragens und Antwortens, durch den die unrichtige Meinung allmählich von ihren Schlacken geläutert wird, bis endlich der Silberblick der wahren Definition erscheint, ist das Charakteristische der katechetischen oder sokratischen Methode, als deren grosser Lehrer und Meister Sokrates dasteht, und die zumal für die Pädagogik von Wichtigkeit geworden ist.

Es kommt uns jetzt vor allen Dingen darauf an, recht klar hervorzuheben, worin das gänzlich Verfehlte der Sokratischen Lösung der fundamentalen Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? Worin besteht das Wahre? liegt. ,,Wahre Erkenntnis wird ge

Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft.

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wonnen, indem man die Urteile aufsucht, worin alle übereinstimmen. Diese Urteile sind Wahrheit" so lautet des Sokrates Lehre. Zu dem Zweck, diesen consensus omnium festzustellen, erforscht Sokrates induktiv die Menschen. Aber auch wirklich alle Menschen? Von der ungeheuren Zahl der Menschen in Wirklichkeit nur die Griechen, und insbesondere doch nur die Athener, und von diesen auch nur wieder diese und jene. Mithin trägt seine Induktion den grössten Fehler an der Stirn, den Induktion nur haben kann: sie ist um ein ungeheures zu eng. Einige, wenige Menschen statt aller Menschen! Die gemeinschaftlichen Urteile sind nur die Meinungen weniger, nicht aller, nur partikulär, nicht allgemein gültig! und doch werden sie zu allgemein gültigen erhoben, d. h. die Induktion, noch in den Kinderschuhen steckend, generalisiert zu frühzeitig, zu voreilig und erzeugt nur Seifenblasen. Das Kriterium der Wahrheit soll die Übereinstimmung aller, der consensus omnium sein, und hier haben wir nur den consensus multorum Atheniensium, die Übereinstimmung einiger Athener. Sokrates erfüllt also erstens seine eigene Forderung hinsichtlich des notwendigen Merkmales des Wahren nicht. Aber zweitens und was noch wichtiger ist: Ist denn der consensus omnium auch in der That das Merkmal des Wahren? Sowie die Menschen ihre Augen gebrauchen, ohne dieselben nach Art des Optikers untersucht zu haben, so bedienen sie sich ganz naiv ihres Denkens, ohne dasselbe einer kritischen Prüfung zu unterwerfen. So ist die ungeheure Mehrzahl gänzlich unkritisch in ihrem Denken, und ihre Urteile notwendig Vorurteile. So wenig wie man durch Addition des Mutes von Millionen Schafen den Mut auch nur eines Löwen erzielt, ebenso wenig erhält man durch die Übereinstimmung von Millionen unkritischen Geistern auch nur ein kritisches Urteil. In dem consensus omnium liegt nicht das geringste Kriterium der Wahrheit, da alle denselben Fehler machen, dasselbe Falsche bejahen können, wie etwa die Bewegung der Sonne um die Erde vor Kopernikus; wohl aber ist diese sokratische Schlussfolgerung durch und durch ontologisch: weil alle etwas übereinstimmend denken, deshalb existiert es auch wirklich so. So kritisch demnach die Frage

stellung des Sokrates war, so unkritisch und gänzlich fehlschlagend ist seine Antwort, und wir müssen dies mit um so grösserem Nachdruck hervorheben, als weder Sokrates selbst, noch seine grossen Nachfolger Platon und Aristoteles, noch das folgende Jahrtausend diesen Fehler begriffen, so einfach er uns erscheint, vielmehr diesen Fehler zur Basis all ihres Denkens und Forschens machten und damit die grossartigen und doch hohlen dogmatischen Gebilde hervorzauberten, welche die Welt zum Teil bis heute in ihren Armidabann zogen, und die zu zerstören, die Wissenschaft noch jetzt die grössten Anstrengungen machen muss.

Wenn der Sokratismus so schon durch seinen Kardinalfehler den Grund zu dem Dogmatismus legte, der als Platonismus aus ihm hervorwuchs, so trieb er das Denken um so mehr in diese dogmatische Bahn hinein, als ja all sein Forschen nur auf das Auffinden der gemeinschaftlichen Urteile ging. Urteile bestehen aus Begriffen. Die allgemeinen Begriffe richtig zu definieren, war also die philophische Aufgabe. So wurde denn nicht mehr die Natur beobachtet, sondern Begriffe zergliedert, an die Stelle der Sachkenntnis die Wortweisheit gesetzt. Dieses Verfahren kam allerdings Disziplinen wie der Logik, der Ethik, der Metaphysik zu gute, aber in demselben Grade als die Begriffsspintisiererei zunahm, trat die Naturforschung in den Hintergrund und ging endlich, man kann sagen, gänzlich unter in der absolutesten Naturverachtung. Da, wo man wieder anfängt, die Natur zu erforschen und zu befragen, wird denn auch sehr bald eingesehen, dass der consensus omnium kein Kriterium der Wahrheit ist. Denn Köpfe kann man wohl zu einem consensus in Begriffen bringen, wenn nicht anders, durch Feuer und Schwert die Natur aber zwingt man nicht um zu einem consensus mit Begriffen, vielmehr zwingt die Natur die Köpfe und ihre Begriffe um zu dem consensus mit ihr. Wo man anfängt, sich mit ihr zu beschäftigen, da geschieht dies sogleich; wo man sich von ihr abwendet, fehlt jede Korrektur für die Begriffsweberei. Sokrates war es, der die Philosophie von den Sternen auf die Erde, d. h. von der Betrachtung des Himmels und der Natur zur Betrachtung der menschlichen Begriffsweberei herablenkte. Hieraus entsprang der ganze mittelalterliche

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