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kenntnis entstehe, darf weder Objekt noch Subjekt im rastlosen Wechsel gestaltlos verschwimmen. Nun lehrt aber Heraklit, dass alles im ewigen Flusse des Wandels sei, mithin sowohl Subjekt wie Objekt; ist daher Heraklits Lehre wahr, so ist es ebenso wahr, dass es eine wirkliche Erkenntnis der Dinge nicht giebt. Diese Folgerung entwickelt aus des Ephesiers Lehre der eine Vater der Sophistik, Protagoras, der, wie Demokrit aus Abdera gebürtig, etwa von 491 (485) 421 (415) lebte. Zur Zeit des Hermokopidenprozesses in Athen des Atheismus angeklagt, entzog er sich der Vollstreckung des Urteils durch die Flucht und ertrank auf der Überfahrt nach Sizilien, während seine Schriften auf dem Markte Athens den Flammen überliefert wurden.

Zur Erkenntnis gehört ein zu erkennendes Objekt und ein erkennendes Subjekt, die beide wohl von einander unterschieden sein müssen. Das Subjekt erkennt das Objekt, indem es dessen unterschiedliche Merkmale auffasst; also muss das Objekt unterscheidende Merkmale an sich tragen, das Subjekt sie in sich fassen können; also muss es überhaupt Unterschiede, Verschiedenheiten geben. Wenn aber, wie die Eleaten lehren, alles eine unterschiedslose Einheit bildet, so giebt es keine Unterschiede weder im Objekt noch im Subjekt, ebenso wenig zwischen Subjekt und Objekt, also fehlen vom eleatischen Standpunkte aus nicht bloss alle Bedingungen für die Möglichkeit der Erkenntnis, sondern es leuchtet sogar die Unmöglichkeit derselben ein. Zu dieser Folgerung gelangt auf dem angeführten Wege von den Eleaten her der andere Vater der Sophistik, Gorgias aus Leontini (auf Sizilien), dessen Leben etwa in die Jahre von 483-375 fällt.

Es giebt keine wahre Erkenntnis und, da die objektive Wahrheit doch wohl für alle erkennenden Subjekte die gleiche Verbindlichkeit in sich trüge, nichts, was für alle verbindlich wäre, d. h. nichts allgemein Gültiges: nicht auf theoretischem Gebiete, also keine wahre Wissenschaft, nicht auf moralischem Gebiete, also keine für alle geltende Richtschnur des Handelns, kein absolutes Sittengesetz, nicht auf religiösem Gebiete, also kein allgemein zu Verehrendes, keine Religion, die den Anspruch erheben könnte, die allein selig machende zu sein, kein an sich Wahres,

kein an sich Gutes, kein an sich Heiliges! Wahr, gut, heilig ist also etwas nur, insofern ich es als solches betrachte. Nur für mich ist es wahr, gut, heilig, nicht für den andern, der etwas anderes dafür hält, nicht für den dritten, der wieder einem ganz verschiedenen huldigt. Die Dinge sind, wie sie jedem scheinen, jede Meinung ist wahr; für jeden einzelnen ist ein anderes gut, sein subjektiver Nutzen ist die allein bestimmende Richtschnur seines Handelns; auf religiösem Gebiete,,kann jeder nach seiner Façon selig werden". Statt Wahrheit und Wissenschaft die subjektive Meinung, statt des Sittengesetzes der egoistische Nutzen, statt Religion Kritik und Belieben: aller Dinge bestimmendes Mass ist der einzelne Mensch, das einzelne Subjekt - πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπος so lautet der kurze Satz des Protagoras, die Formel des rückhaltlosen Egoismus oder Subjektivismus. Jede Meinung ist wahr d. h. in Wahrheit: keine ist wahr, von diesem radikalen Skeptizismus ist nur ein Schritt bis zum vollsten Nihilismus, der sich in den drei Sätzen des Gorgias mit dogmatischer Starrheit Luft macht: 1) Es ist nichts; 2) wenn etwas wäre, so könnte es doch nicht erkannt werden; 3) wäre auch etwas und wäre es auch erkennbar, so könnte man doch die Erkenntnis anderen nicht mitteilen.

Es wäre sehr falsch, wollte man meinen, dass die beiden grossen Meister der Sophistik, wie überhaupt die älteren Sophisten, diese Sätze aus blosser frevelhafter Vernichtungslust aufgestellt hätten. Vielmehr sind diese Sätze die mit Ernst und Schweiss gewonnenen Resultate ihres wissenschaftlichen Forschens, und erst in ihren leichtfertigen Anhängern nehmen sie den Charakter der Frivolität und Schadenfreude an. Auch liegt in der Behauptung der Subjektivität alles Erkennens ein Wahrheitsdiamant, dessen reeller Wert im modernen Kritizismus Kants nach regelrechter Schleifung und kunstgemässer Fassung glänzend hell zum Vorschein kommt. Ist es doch eine grosse kritische Ahnung des Protagoras, dass, wie es scheint, er auch die geometrischen Anschauungen für subjektive Gebilde erklärte, denen nicht ohne weiteres objektive Realität zuzusprechen sei - eine Ahnung dessen, was Kant zu kritischer Klarheit erhob.

Es konnte bei dem zunehmenden Verfall der griechischen Sitten nicht ausbleiben, dass der theoretische Nihilismus sehr bald zur praktischen Frivolität umschlug. Subjektive Meinung und subjektives Interesse sind das Prinzip alles Denkens und Thuns. Die Selbstsucht eines jeden fordert, die eigene Meinung und das eigene Interesse zur Geltung zu bringen. Nicht mit roher Gewalt, sondern durch die Pfiffigkeit und Schlauheit der Überredung geschieht dies am besten. Daher die Pflege der Redekunst, deren Meister Gorgias war, womit die Ausbildung der Grammatik und ihrer Teile, ein Verdienst der Sophistik, zusammenhängt. Den Gegner muss man mit listiger Rede bekämpfen, seine Schlüsse in das Gegenteil verdrehen, alles durch alles beweisen können. Daher die Kunst des Redestreites (die Eristik) und der Trugschlüsse (die Antilogik). Mit Erfolg streiten kann nur der Schlagfertige; daher muss man mit vielem, schillerndem, wenn auch nicht gründlichen Wissen ausgerüstet sein. Die Vielwisserei nach Art des Konversationslexikons wird erstrebt. Das sind die Mittel, mit denen die Sophistik, da ja jedes gleich viel oder gleich wenig gilt, heute alles bekämpft und morgen alles verteidigt. Mit gleicher Wärme kann sie sich in Polus für die persische Despotie, in Phaleas für den Kommunismus, in Thrasymachus für die Tyrannis begeistern, denn in allen drei Fällen herrscht ja das einzelne Subjekt und triumphiert das Prinzip des Subjektivismus, dessen brutalste Formel Kallikles in dem geflügelten Worte,,der Stärkste hat Recht" ausspricht.

Die Sophistik hat die Gedankenwelten, die man für fest gegründet und systematisch sicher hielt, durch ihre kritische Zersetzung in ein Chaos von Meinungsatomen aufgelöst. Es musste nach Kuno Fischers geistvollem Ausdruck ein neuer Weltbaumeister kommen, der als Nus in diesen Wirrwarr einging, und eine neue harmonische Ideenwelt aus ihm hervor zauberte. Dieser Nus ist Sokrates von Athen (469-399 v. Chr.), dessen Philosophieren eben als Gegensatz zur Sophistik sich nur im engsten Zusammenhange mit dieser verstehen lässt.

Die Sophistik war zu dem Ergebnis gelangt: Die Erkenntnis ist unmöglich. Dieser Satz ist dogmatisch, denn er behauptet,

nichts behaupten zu können und doch behauptet er. Diesem Dogmatismus schliesst Sokrates sich nicht an, vielmehr lässt er es vorläufig ganz unentschieden, ob Erkenntnis möglich sei oder nicht. Aber er stellt sich die Aufgabe zu untersuchen, ob und in wie fern es möglich oder nicht möglich sei, zu erkennen. Unter den Bedingungen, welche die Philosophen bisher aufgestellt haben, giebt es keine Erkenntnis. Welche Bedingungen also sind es, unter denen sie zu Stande kommt? Wie ist Erkenntnis möglich? Das ist die grosse Frage, die Sokrates zum ersten Mal an die Spitze des Philosophierens stellt, durch die er eine Epoche des menschlichen Denkens inauguriert. Machen wir uns klar, worin der bedeutungsvolle Gehalt dieser unscheinbaren Frage besteht. Alle früheren Philosophen hatten vorzugsweise gefragt: Was ist die Welt? Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Welt erkennen. Womit erkennt der Mensch? Mit seinem menschlichen Erkenntnisvermögen, mit seinem menschlichen Denkinstrument. Wenn nun ein Forscher mit einem Instrument etwas untersucht, so ist zur Gewinnung eines wirklich richtigen und objektiven Resultats durchaus notwendig, dass er sein Instrument in all seinen Eigentümlichkeiten und besonders in seinen Mängeln genau kenne; er muss sein Instrument vor der Untersuchung genau justiert haben, sonst werden sich in die Untersuchung eine Menge von Fehlern einschleichen, und er wird fälschlich das, was nur Folge der Beschaffenheit des Instruments ist, für eine Eigenschaft des beobachteten Gegenstandes halten und Täuschung für Wahrheit nehmen. Die vorsokratischen Philosophen hatten ihren Gegenstand, die Welt, untersucht, ohne vorher ihr Instrument, das Denkvermögen, geprüft und justiert zu haben. Sie hatten die Eigentümlichkeiten des Instruments für Eigenschaften des Gegenstandes genommen. So z. B. die Eleaten, wenn sie behaupteten, das wahre Sein sei so, wie man es denke. Indem jetzt Sokrates zum ersten Mal die Frage aufwirft: Wie ist Erkenntnis möglich? richtet er den Blick nicht mehr unmittelbar auf die Welt, sondern auf die Beschaffenheit des Denkinstruments, des Erkenntnisvermögens, nicht mehr auf das Objekt, sondern auf das Subjekt, diese Vorbedingung des Objekts. Indem er das Subjekt vor dem Objekt

der kritischen Untersuchung unterwirft, macht er den ersten Ansatz zum Kritizismus. Darin liegt die grosse Bedeutung seiner Problemstellung. Freilich, es ist nur die Frage, die er richtig fasst. Die Antwort, welche er giebt, ist weit entfernt von der kritischen Entscheidung, wie sie, durch die neuere Philosophie vorbereitet, von Kant ans Licht geboren, den heutigen und späteren Philosophen zur Ausbildung und Erziehung anvertraut ist. Wie beantwortet Sokrates die kritische Frage? Im Gegensatz allein zum sophistischen Nihilismus und damit einseitig und falsch.

Wenn die Sophistik alles bisherige Erkennen für Schaum erklärte, so hatte sie darin Recht. Mit allem Wissen ist es bis jetzt nichts. Auch Sokrates hat beim Beginn seines Philosophierens noch kein Wissen, ja nicht einmal die Gewissheit der Möglichkeit des Wissens. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sein Forschen mit dem jede Einbildung zerstörenden Bekenntnis seiner Unwissenheit anzufangen. Darum ist der Ausgangspunkt für sein Streben zum Wissen die Überzeugung des ,,bis jetzt noch nicht Wissens", die sich in dem berühmten Satze ausspricht: Ich weiss, dass ich nicht weiss. Dieser Satz ist bei Sokrates weder ein Ausdruck der Bescheidenheit, noch gar eine demütige Maske eines sich in Wirklichkeit seiner Weisheit erst recht bewussten Hochmuts, noch ist er ein nihilistisch verzweifelndes Verzichtleisten auf alles Wissen, vielmehr ist er die erste Vorbedingung zu allem wahren Forschen und Wissen, dem nichts so sehr im Wege steht, als der Dünkel, man wisse schon, während man in Wahrheit noch nicht weiss, er ist der kritische Urteilsspruch über das Scheinwissen, der Zerstörer des Wissenscheins, er ist selbst also eine erste Einsicht und der Ansatz zum Wissen. Er ist der Ausdruck desselben kritischen Zweifels, den, als Vernichter des Wahns, auch Bacon und Descartes zum Pförtner und Thürhüter alles erfolgreichen Philosophierens bestellen.

Der Ausgangspunkt des Sokratismus ist die Erkenntnis des Nichtwissens, das zu erreichende Ziel das wahrhafte Wissen. Das Wesen dieses Wissens bestimmt nun Sokrates im Gegensatz zur und also doch unter dem Einfluss der Sophistik, und eben darin liegt sein Verhängnis. Die Sophistik hat gesagt: Es giebt keine

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