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keine bessere Hypothese ersetztes Fundament geworden ist, da die ganze Vorstellungsweise der kleinsten Teile, die sich trennen und verbinden und dadurch allen Wechsel der Erscheinungen hervorbringen, so überaus anschaulich und der Berechnung so leicht zu unterwerfen ist, so kann man dem blossen naturwissenschaftlichen Handwerker kaum einen Vorwurf daraus machen, wenn er vergisst, dass trotz alledem das Atom eine blosse Hypothese, eine subjektiv menschliche Anschauungsweise ist, von der nie bewiesen werden kann, dass sie der Welt an sich wirklich entspreche. Der Empiriker, der die Atome womöglich unter dem Mikroskop gesehen haben will, der ihre Lagerung mit Kreide an die Tafel malt und sie in Formeln bannt, auf die er schwört, ist ein Gläubiger mit Visionen; er weiss nicht, dass die Atomistik die Metaphysik der Physik ist, zuckt spöttisch die Achseln über alle Metaphysik und steckt doch selbst mitten drin. Die Unklarheit über diesen Punkt ist unter den nicht philosophisch gebildeten Naturwissenschaftlern so gross, dass wir dies mit besonderem Nachdruck hervorheben müssen. Wir sind natürlich weit davon entfernt, den Wert der Hypothese im geringsten schmälern zu wollen, doch würde man nicht mit den endlosen und unfruchtbaren Zänkereien über die unzähligen Widersprüche in den Systemen z. B. der Chemie Zeit. und Mühe verschwendet haben, wäre man sich stets des rein hypothetischen Charakters der Atome bewusst gewesen. Wir haben schon früher (S. 44) dargethan: Das Atom ist das physikalisch unendlich Kleine; darin liegt sein Wert für die Wissenschaft, darin wurzeln aber auch unaustilgbare Widersprüche. Die Widersprüche im Atom reduzieren sich auf die Widersprüche im unendlich Kleinen, d. h. in der Kausalität, wie wir oben (S. 42 ff.) entwickelt haben. Erster Widerspruch: Wir zerlegen die Materie in ihre unendlich kleinen Teile. Das unendlich Kleine ist Nichtgrösse. Wie kann aus Nichtgrösse Grösse, aus Nichts Etwas, aus Nichtmaterie Materielles entstehen? Zweiter Widerspruch: Die Atome sind unteilbar, also keine Grösse, denn jede Grösse ist teilbar, also auch nicht wahrnehmbar, denn nur Grössen sind wahrnehmbar, also kein Gegenstand der Erfahrung. Dritter Widerspruch: Die Atome sind als unteilbar auch unräumlich,

denn alles Räumliche ist teilbar

nur Räumliches ist wahrnehm

bar und erfahrbar, die Atome sind es also nicht. Der vierte Widerspruch betrifft das Verhältnis der Atome zum leeren Raum. Auch der absolut leere Raum ist eine blosse Annahme, denn das absolut Leere ist nicht empfindbar, unwahrnehmbar, kein Objekt der Erfahrung. Der leere Raum ist also für unsere Erkenntnis ein absolutes Nichts, um so mehr, als er ja nicht aus Atomen besteht, die doch alles sind. Er ist ein existierendes Nichts, d. h. doch wohl nichts anderes als eine nichtige Existenz. So ist demnach die ganze atomistische Theorie in der That ein Gewebe von Hypothesen, und doch haben wir kein besseres Netz, um die Naturerscheinungen für unser Verständnis mundgerecht einzufangen. Die Naturwissenschaften suchen diese Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, dass sie ihre letzten kleinen Teile als Moleküle, d. h. als kleinste Aggregate von Atomen fassen und nur auf diese Moleküle rekurrieren. Aber offenbar werden die Widersprüche dadurch nur verdeckt, nicht beseitigt denn die Frage: wie kann das Molekül aus Atomen bestehen? ruft augenblicklich alle Unmöglichkeiten wieder wach. Auch daran scheitert fünftens die demokritische Atomistik (die Lehre von den nur mit Fallkraft begabten Atomen), dass, wenn alles in der That nur Atome wäre, eine Wissenschaft der Atome, ja jede Erkenntnis überhaupt unmöglich wäre. Auch der Mensch ist nur ein Haufen

schwerer Atome, die nur quantitativ verschieden sind. Wie kommt es da aber, dass meine wie alle anderen nur quantitativen Atome (Ich) doch qualitative Unterschiede wahrnehmen und vorstellen? Wie kommt es, dass die bloss fallkräftigen Atome überhaupt noch eine andere Kraft als die zu fallen haben, nämlich die zu empfinden, wahrzunehmen, vorzustellen? Die Atomistik scheitert an der Thatsache der Erkenntnis; gäbe es nur Atome, so gäbe es keine Atomenphilosophen. Die Atomistik muss sich zur Monadologie umgestalten, will sie die Erkenntnis miterklären. Ebenso wenig ist es aber sechstens der demokritischen Atomistik vergönnt, die zweckmässige Form der Dinge zu erklären, denn wie aus den blossen im Fallen aufgehäuften Zusammenballungen von Atomen je die zweckmässige Gestalt des Organismus hervorgehen

Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft.

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kann, ist unbegreiflich, die Berufung auf den Zufall nichtig. Noch weniger ist aber dabei einzusehen, wie eine und dieselbe Form z. B. des Menschen sich durch so lange Zeiten hindurch so merkwürdig konstant erhält, denn man sollte doch vermuten, dass im Wirbelspiel des Atomenfalls in jedem Moment eine absolut andere Bildung hervortrete; selbst eine bloss relative Festigkeit der Form wäre nicht zu denken bei diesem wirklich extremen лávτa §ɛî der Atome.

In Demokrit haben wir den Gipfel- und zugleich Endpunkt der ersten Periode der Philosophie, der Periode der griechischen Naturphilosophie oder der Periode der naiven Erfahrung kennen gelernt.

Folgendes Schema giebt eine gedrängte Übersicht ihres Haupt

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Demokrit (Zahllose [nur quanti-Viele Prinzi- Materialismus tative] Atome) (Leukippos) Spien einer Art. und Mechanik.

Ehe wir den Übergang zu der zweiten Periode in der sogen. Sophistik darstellen, empfiehlt sich hier ein allgemeiner Rückblick. Alle Grundformen des Philosophierens sind in dieser ersten Periode bereits angelegt und mehr oder weniger entwickelt. Dem Materialismus steht gegenüber der Idealismus, dem Monismus der Dualismus, der Mechanik die Teleologie. Die Kausalität ist in der verschiedensten Weise begriffen: Als übernatürliche und natürliche, als Stoff, als Form, als Werden, als Sein, als vier Ursein (Elemente) und psychisch-mythische Kräfte von Liebe und Hass, als Homoeomerieen und zwecksetzender Nus, als Atome.

Folgendes Schema veranschaulicht die Entwicklung:

Es gehen hervor aus dem die Gegensätze noch naiv vermischenden

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Beide Reihen sind an sich völlig berechtigt; es kommt nur darauf an, sie gegenseitig in das richtige Verhältnis zu setzen. Sie bilden den Ansatz zu der Rechnung, welche die Folgezeit auszuführen hat.

Während nun vorzugsweise die Begriffe der I. Reihe in dieser ersten Periode der Philosophie (der Naturphilosophie) gepflegt sind, ist es für die zweite Periode charakteristisch, dass sie sich in einen geradezu feindlichen Gegensatz gegen die Reihe der natürlichen Kausalität stellt und mit aller Energie die Begriffe der II. Reihe, der übernatürlichen Kausalität, entwickelt, eine Feindschaft, die sich typisch darin darstellt, dass, wie erzählt wird, Platon, der Hauptvertreter der II. Reihe, die Schriften Demokrits, des Hauptvertreters der I. Reihe, der Vernichtung durch die Flammen preisgeben wollte. Erst in der dritten Periode der Philosophie, d. i. nach Ablauf des Mittelalters, in der neueren Zeit, treten die Begriffe der I. Reihe wieder mehr und mehr in den Vordergrund, und es findet allmählich ein schiedsrichterlicher Ausgleich zwischen den Gegensätzen statt. In dem folgenden Abschnitte wird es unsere Aufgabe sein zu zeigen, wie sich die bezeichnete zweite Periode des Denkens aus der ersten entwickelt, d. h. darzulegen, wie sich die Naturphilosophie allmählich in theologische Philosophie verwandelt, und diese dann alle jene Anschauungen und Dogmen hervorbringt, die sich heute einer naturphilosophischen Auffassung des Seins feindlich in den Weg stellen.

Indem wir die falschen Prämissen enthüllen, auf denen diese theologische Philosophie zumal in Platon ihr Gebäude errichtete, wird dieses Gebäude selbst kritisch in sich zusammenbrechen und damit Licht und Luft für wirklich kritisch - naturphilosophische Anschauungen frei werden.

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