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Das Denkend-Ordnende ist ein

Der zweite Schluss heisst: vom Stoffe Verschiedenes, denn aus dem blossen toten Weltstoff folgt die Ordnung nicht. Es ist richtig, dass aus einem blossen toten Stoffhaufen niemals die planvolle Ordnung zweckmässiger Gebilde hervorgehen würde. Aber kennen wir denn das Weltall als einen solchen toten Stoff? Wo in der Welt könnten wir nur ein Körnchen wirklich toten Stoffes aufweisen? Überall regt es und rührt es sich. Aus dem scheinbar Toten steigen stets neue Lebensprozesse hervor. Der tote Stoff ist kein Gegenstand der Erfahrung, sondern eine blosse Abstraktion; wir kennen in Wahrheit nur lebenden Stoff. Wäre der Stoff wirklich tote Masse, SO bedürfte es zu seiner Gestaltung, zu seinem Werdeprozess allerdings eines ihm äusserlichen Prinzips. Der Stoff, welchen wir erfahrungsmässig kennen, ist Leben und Bewegung; er hat seine Gestaltungskraft in sich selbst. Der Teleologe macht also einen künstlich abstrakten Begriff des Stoffes zur Basis seiner Schlüsse, die in demselben Masse falsch ausfallen müssen, als die erfahrungsmässige Wirklichkeit jenen Begriff nirgends bestätigt. Angenommen also, die Welt wäre zweckmässig geordnet, so könnte diese Zweckmässigkeit gleichwohl rein aus ihr selbst hervorgegangen (ihr immanent) sein und brauchte nicht von einem ihr äusserlichen (transcendenten) Wesen erst in sie gelegt zu sein. Ja, sollte diese der Welt immanente Zweckmässigkeit selbst als eine Wirkung einer nach menschlicher Analogie denkenden Kraft in ihr aufgefasst werden (was indes aus bereits erörterten Gründen unstatthaft wäre), so würde eine solche Annahme wenigstens an dem Einwande, der Weltstoff könne doch nicht denken, nicht scheitern. Ein toter Weltstoff zwar könnte nicht denken, aber wir kennen nur lebenden Stoff, und wir sehen, wie dieser lebende Stoff im Gehirn sich zum denkenden Stoff wirklich erhebt, wie dieser Gehirnstoff überlegt und zweckmässig ordnet, so dass also, besässe einer die teleologische Kühnheit des Schliessens, nichts im Wege stünde, die Welt selbst trotz ihrer Stofflichkeit für das denkende und zweckmässig ordnende Wesen zu halten. Die drei Sätze: Die Welt ist zweckmässig geordnet, das Ordnende der Welt ist ein Denkendes, und das Denkende ist ein Unstoffliches sind nicht

bewiesen. Wir sagen nicht, dass ihr Inhalt nicht wahr sein könnte; die Kritik richtet sich hier nur gegen die Beweise der Sätze, nicht gegen die Sätze selbst.

Schon aus diesen kritischen Anmerkungen leuchtet ein, dass die ganze teleologische Weltauffassung auf höchst oberflächlicher Naturbetrachtung einerseits und auf anthropomorphistischen Anschauungen andererseits beruht, und dass also eine echte kritische Wissenschaft sie nicht unter ihre Erklärungsprinzipien aufnehmen darf. Wenn wir auch nicht wissen, ob etwa Demokrit durch ähnliche kritische Betrachtungen sich in Gegensatz zur Teleologie gestellt habe, so ist doch so viel sicher, dass sein System durch seinen Inhalt thatsächlich der bedeutendste wissenschaftliche Protest des Altertums gegen die Zweckmässigkeitslehre ist.

Demokritos (ein Freund und Schüler des Leukippos, von dem uns aber nur wenig bekannt ist) wurde um 460 v. Chr. zu Abdera geboren und soll mehr als neunzig Jahre alt geworden sein. Sein Wissenstrieb liess ihn grosse Reisen machen; er hörte die meisten wissenschaftlichen Männer seiner Zeit, lernte die Weisheit der Ägypter und des Orients kennen und verfasste zahlreiche Schriften, die den ganzen Umfang des damaligen Wissens behandelten, deren wissenschaftlicher Gehalt von Aristoteles vielfach gerühmt und benutzt wurde, deren schwunghaften und klaren Stil viele Schriftsteller des Altertums zu preisen wissen, von denen aber nur ganz geringe Bruchstückchen in Form von Zitaten bei anderen Schriftstellern auf uns gekommen sind.

Wenn Empedokles vier (qualitativ bestimmte) Elemente (Ursein) setzte; wenn Anaxagoras diese für sekundäre Zusammensetzungen erklärte und als die eigentlichen primären Elemente unendlich viele qualitative Homoeomerieen annahm, so beruhigt sich Demokrit auch dabei noch nicht. Woraus bestehen denn diese qualitativen Elemente? Aus ihren kleinsten Teilen, d. h. aus ihren letzten Teilen, die selbst nicht mehr teilbar sind, also aus unteilbaren Teilchen oder Atomen. Die Homoeomerieen des Anaxagoras also sind sekundär, die Atome sind primär. Aber alle Teile einer Homoeomerie waren von gleicher Qualität wie die ganze Homoeomerie, alle Teile des Goldes z. B. waren Gold. So

sind also wohl die Atome ebenfalls von gleicher Qualität wie das Ganze, welches sie zusammensetzen? Keineswegs! Hier liegt der fundamentale Unterschied, der grosse Fortschritt Demokrits. Die Atome als solche haben überhaupt gar keine Qualität, sondern sie sind nur quantitativ, d. h. sie haben nur verschiedene Gestalt und folgen und lagern verschieden auf einander. Je nachdem diese oder jene, so oder so gestalteten Atome in dieser oder jener Lage und Folge sich zusammen gruppieren, je nachdem erscheinen sie uns als ein so oder so beschaffenes Ding, als süss oder bitter, als warm oder kalt, als so oder so gefärbt, als Pflanze oder Tier, als Erde oder Sonne u. s. w. Qualitative Unterschiede giebt es nur für unsere menschliche Auffassung, an sich giebt es nur Atome; qualitative Unterschiede sind nur subjektive Phänomene, das objektive Urwesen der Welt ist ein ganz anderes als die uns erscheinende Sinneswelt; letztere erscheint qualitativ, erstere ist nur quantitativ. Das sind Gedanken Demokrits, die für die Naturwissenschaft von dem Augenblick an, wo man sich beim Beginn der neueren Zeit ihrer zuerst wieder erinnerte, von bahnbrechender Bedeutung und Fruchtbarkeit geworden sind.*) Die Welt an sich (das Ursein) ist nicht wie die Welt der Erscheinung, das hatten auch die Eleaten schon gelehrt, aber die Form, in welcher sie die Welt an sich als absolute Einheit fassten, schloss jedes naturwissenschaftliche Begreifen derselben aus. Erst nachdem der Gedanke auftritt, das Ursein in unendlich viele quantitative Ursein (Atome) zu zerlegen, deren grösseres oder geringeres Quantum in dieser oder jener Erscheinung man messen kann, fängt der Mechanismus der

*) Der Wiedererwecker der Demokriteischen Atomentheorie war im 17. Jahrh. Gassendi, der Freund Descartes', der gleichwohl über Descartes hinaus zu Demokrit zurückging, insofern er die Korpuskeln (Molecule) Descartes in ihre letzten Bestandteile (Atome) auflöste. R. Boyle, der Vater der modernen Chemie, entnahm die Demokriteische Atomentheorie von Gassendi und machte sie zur Grundlage der Erklärung der chemischen Vorgänge. Während Hobbes bei der Korpuskulartheorie Descartes' stehen blieb, stellte Newton sich die Atome in Gassendis Weise vor. Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus I. 234 und 257.

Erscheinungswelt an, wissenschaftlich so weit begreiflich zu werden, als es überhaupt möglich ist. Die Pythagoreer hatten gesagt: Die Zahl ist das Wesen der Dinge. Demokrit berichtigt diesen Satz: Die Zahl ist für uns das Mittel, das Wesen der Dinge uns so weit als überhaupt möglich verständlich zu machen. Wer die Methode der heutigen Naturwissenschaft, alle Qualitäten auf Quantitäten, die Physik auf die Mathematik zurückzuführen und erst in der Messbarkeit eines Phänomens die Erklärung desselben zu finden, kennt; wer da weiss, dass erst durch diese Methode die grossen Triumphe der Naturwissenschaft errungen sind der wird die Grösse des demokriteischen Gedankens zu würdigen wissen. Und wie regelmässig, organisch, durch die kleinsten Unterschiede hindurch hat sich dieser Gedanke allmählich herangebildet! Nachdem die ionischen Physiologen und die Pythagoreer den Stoff und die Form im Allgemeinen als Erklärungsprinzip gefunden haben, nachdem Heraklit auf die fortwährende Verschiedenheit der Stoffe und Formen im Werden aufmerksam geworden ist, fordern die Eleaten einen ,,ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht", ein an sich ewig Identisches, so flüchtig auch die Erscheinungen wechseln mögen. Jetzt taucht das Problem auf, wie sich die empirisch gegebene, fortwährende Veränderung der Stoffe und Formen vereinigen lasse mit der vernunftgemäss notwendig anzunehmenden Identität der Grundsubstanz, wie diese gegenüber der Erscheinungsfülle zu denken sei. Wohl als einheitliche, doch nicht als einzige, wie die Eleaten wollten, sondern als mehrere: als vier nach Empedokles, als zahllos viele qualitative Homoeomerien nach Anaxagoras; endlich erst schafft der abstrahierende Geist in Demokrit den letzten, allein noch möglichen Schritt: als unendlich viele und quantitative Grundsubstanzen, als Atome.

Die Atome verbinden sich und trennen sich in dieser ihrer Bewegung besteht das, was wir Werden nennen, welches also nur die räumliche, nicht eine innerlich-wesentliche Veränderung der ja in sich absolut unveränderlichen, ewigen Atome ist. Die Atome bewegen sich im Raum, ausser den Atomen giebt es nichts; also ist dieser Raum ein, abgesehen von den Atomen, absolut

leerer Raum; dieser leere Raum ist, er existiert also Atome und leerer Raum sind alles Existierende. Was aber bewirkt die Bewegung der Atome im leeren Raum? Ausser Atomen und leerem Raum giebt es nichts, also auch keine solchen mystischen, quantitativer Messung unzugänglichen Kräfte von Liebe und Hass, wie Empedokles sie annahm, also auch nicht einen weltbauenden Geist, der, abgesehen von der Unmöglichkeit, ihn der Berechnung zu unterwerfen, um so eher zu entbehren ist, als auch Anaxagoras so viel wie möglich ohne seinen Beistand zu erklären suchte. Die Atome sind schwer, folglich sind sie in einer steten Fallbewegung es ist nichts als diese Schwerkraft, welche sie bewegt, trennt und vereinigt, welche dadurch allen Wechsel in der Welt, alle Gestaltung des Stoffes und das relativ, d. h. nur seiner Form, nicht seinem (Atomen-) Inhalt nach, verschiedene Wesen der Erscheinungen herbeiführt. Auch die zweckmässigen Organismen sind durch Zufall aus dem Unzweckmässigen nach Empedokles' Erklärungsart entstanden. Hier haben wir den Mechanismus vom reinsten Wasser, alles ist notwendig, alles das Produkt blinder Fallbewegung, alles absolut zwecklos; nichts ist zufällig, und doch könnte jedes auch anders sein, als es ist.

Gehen wir nun zur Kritik der demokritischen Atomistik über. Sie ist in dem einen Satze völlig enthalten: Das Atom ist ein eleatisches Ursein. Wir haben schon früher S. 62 f. den Zusammenhang zwischen der eleatischen Lehre und der Atomistik nachgewiesen; historisch wird derselbe auch durch die Nachricht bezeugt, dass Leukippos den Eleaten Zeno gehört habe. Das eleatische Sein war kein Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, es trat nie in die Erscheinungswelt, es lag dem Glauben nach hinter und unter derselben, es war kein Objekt der Erfahrung es war das unwahrnehmbare, hypothetisch angenommene, geglaubte Ding an sich der Erscheinungswelt. Alles dieses gilt genau so von dem Atom; auch das Atom ist nichts anderes als eine hypothetisch angenommene, geglaubte Vorstellung für den unbekannten und unerkennbaren Sachverhalt der Welt an sich. Da diese Vorstellung in so einfacher und ausgezeichneter Weise die natürlichen Vorgänge erklärt, da sie für die Naturwissenschaft ein bisher durch

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